Tom Rob Smith
Kolyma
Thriller
Deutsch von Armin Gontermann
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel �The Secret Speech�
Sowjetunion
Moskau
3. Juni 1949
Im Gro�en Vaterl�ndischen Krieg hatte er zur Verteidigung von Stalingrad die Br�cke von Kaiatsch gesprengt. Fabriken hatte er mit Dynamit pr�pariert und danach in Schutt und Asche ge�legt und Raffinerien, die nicht mehr zu verteidigen waren, in Brand gesetzt, bis �berall am Horizont S�ulen brennenden �ls gelodert hatten. Alles, was die einfallende Wehrmacht vielleicht requirieren konnte, hatte er in aller Eile zerst�rt. Mochten seine Landsleute auch Tr�nen vergie�en, wenn ihre Heimatst�dte in sich zusammenfielen, ihn hatte der Anblick der Zerst�rung mit grimmiger Genugtuung erf�llt. Der Feind w�rde ein verw�stetes Land erobern, verbrannte Erde und einen rauchenden Himmel. Oft hatte er mit dem improvisieren m�ssen, was gerade zur Hand war, mit Panzergranaten oder Glasflaschen, das Benzin hatte er sich aus liegen gebliebenen Milit�rlastwagen abgesaugt. Er hatte sich beim Staat den Ruf eines Mannes erarbeitet, auf den Verlass war. Nie hatte er die Nerven verloren und nie einen Fehler gemacht, auch dann nicht, wenn er unter extremen Be�dingungen operierte, in eiskalten Wintern�chten, bis zur H�fte in rei�enden Fl�ssen oder unter Feindbeschuss. F�r einen Mann mit seiner Erfahrung und seinem Temperament war die heutige Aufgabe eigentlich eine Routineangelegenheit. Er musste sich nicht beeilen, und ihm pfiffen auch keine Kugeln um die Ohren. Dennoch zitterten seine H�nde, die doch eigentlich als die ru�higsten in seiner gesamten Zunft galten. Schwei�tropfen rannen ihm in die Augen und zwangen ihn, sie mit einem Hemdzipfel abzutupfen. Ihm war schlecht wie einem Anf�nger. Denn es war das erste Mal, dass der f�nfzigj�hrige Kriegsheld Jekabs Duwakin eine Kirche in die Luft jagen sollte.
Eine Sprengladung musste noch angebracht werden, direkt vor ihm im Altarraum. Den Altar selbst hatte man ebenso fortgeschafft wie die Ikonostase, die heiligen Ikonen und die Kerzenleuchter. Bis auf das Dynamit, das er in die Fundamente gegraben und an den tragenden S�ulen befestigt hatte, war die Kirche leer, entweiht und vollkommen gepl�ndert. Sogar das Blattgold hatte man von den W�nden gekratzt. Nichts war mehr �brig au�er dem riesigen, Ehrfurcht gebietenden Raum selbst, dessen Hauptkuppel mit ihrer Krone aus Buntglasfenstern ganz oben so sehr vom Tageslicht erf�llt war, dass sie ihm erschien wie ein Teil des Himmels selbst. Jekabs legte den Kopf in den Nacken und bewunderte mit offenem Mund die Spitze der Kup�pel etwa f�nfzig Meter �ber ihm. Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Fenster und strahlten Fresken an, die schon bald in die Luft fliegen sollten, eine Million Farbtupfer, zerst�ubt in alle Einzelteile. Als wolle es nach ihm greifen, breitete sich das Licht �ber den glatten Steinboden bis fast zu ihm hin aus, eine ausge�streckte, goldene Hand.
�Es gibt keinen Gott�, murmelte er.
Er wiederholte die Worte, diesmal lauter, das Echo hallte von den W�nden der Kuppel wider: �Es gibt keinen Gott!�
Schlie�lich war ein Sommertag, logisch, dass es da hell war. Das war kein Zeichen. Kein g�ttliches Zeichen. Das Licht hatte nichts zu bedeuten. Er gr�belte zu viel, das war das Problem. Dabei glaubte er gar nicht an Gott. Er versuchte sich die vielen antireligi�sen Maximen ins Ged�chtnis zu rufen, die der Staat ausgab.
DIE RELIGION GEH�RTE EINEM ZEITALTER AN, IN DEM JEDER F�R SICH SELBST WAR. UND GOTT WAR F�R ALLE.
Dieses Geb�ude war nicht heilig oder gesegnet. Er musste es sehen als das, was es war, n�mlich Stein, Glas und Holzbalken, eine hundert Meter lange und sechzig Meter breite Kirche, die nichts produzierte und keine nachvollziehbare Funktion hatte. Ein archaisches Bauwerk, von einer Gesellschaft, die es nicht mehr gab, aus archaischen Beweggr�nden errichtet.
Jekabs lehnte sich zur�ck und strich mit der Hand �ber den k�hlen Steinboden, den die F��e Hunderter, Tausender von Kirchg�ngern jahrhundertelang blank gescheuert hatten. �berw�ltigt vom Ausma� dessen, was er im Begriff war zu tun, k�mpfte er gegen das Gef�hl an, so als ob ihm etwas im Halse stecken geblieben sei. Doch das ging vorbei. Er war m�de und �berarbeitet, mehr nicht.
Normalerweise wurde er bei einer Sprengung wie dieser von einer ganzen Mannschaft unterst�tzt. In diesem Fall hatte er sich jedoch daf�r entschieden, seine M�nner nur am Rande zu beteiligen. Wozu die Kollegen unn�tig in etwas hineinziehen? Keiner von ihnen dachte so klar wie er. Nicht alle hatten s�mt�liche religi�sen Gef�hle aus ihrem Herzen verbannt. Er wollte nicht mit M�nnern zusammenarbeiten, die nicht vollkommen hinter der Sache standen.
F�nf Tage arbeitete er nun schon vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang. Er hatte jede Sprengladung selbst an�gebracht und sie so positioniert, dass das Geb�ude auf jeden Fall nach innen in sich zusammenfallen w�rde, eine Kuppel fein s�uberlich �ber der anderen. Eine Sprengung war beileibe kei�ne chaotische Angelegenheit, ganz im Gegenteil. Sorgfalt und Pr�zision zeichnete seine Arbeit aus, und auf diese Kunst war er besonders stolz. Dieses Bauwerk hier stellte eine ungew�hn�liche Herausforderung dar. Nicht etwa wegen der moralischen Frage, sondern wegen der intellektuellen Aufgabe. Angesichts des Glockenturms und der f�nf vergoldeten Kuppeln, deren gr��te auf achtzig Meter hohen B�gen ruhte, w�rde die heutige Sprengung einen w�rdigen Abschluss seiner Karriere darstellen. Danach hatte man ihm den vorzeitigen Ruhestand versprochen. Selbst davon, ihm den Lenin-Orden zu verleihen, war die Rede gewesen, Lohn f�r einen Auftrag, den sonst keiner �bernehmen wollte.
Er sch�ttelte den Kopf. Er sollte nicht hier sein. Er sollte so et�was nicht tun. Er h�tte sich krankmelden sollen. Er h�tte jemand anderen zwingen sollen, die alles entscheidende Sprengladung anzubringen. Das hier war keine Arbeit f�r einen Helden. Aber wenn man sich vor der Arbeit dr�ckte, waren die Risiken viel gr��er und viel realer als irgendeine abergl�ubische Idee, dass der Auftrag verflucht sein k�nnte. Er hatte eine Familie zu be�sch�tzen, seine Frau und eine Tochter. Und die beiden liebte er �ber alles.
* * *
Lasar stand in der Menge, die in einem Sicherheitsabstand von hundert Metern von der Kirche der Heiligen Sophia fernge�halten wurde. Sein ernstes Gebaren stach aus dem aufgeregten Geschnatter der Menschen um ihn herum heraus. Das war die Sorte Leute, dachte er, die wohl auch zu einer �ffentlichen Hinrichtung gekommen w�ren, nicht aus �berzeugung, son�dern einfach nur wegen des Spektakels, weil was los war. Die Stimmung war ausgelassen, voller Vorfreude sprudelten die Ge�spr�che. Kinder wippten auf den Schultern ihrer V�ter, sie konn�ten kaum erwarten, dass es losging. Eine Kirche allein reichte ihnen nicht, die Kirche musste schon in sich zusammenfallen, damit sie ihren Spa� hatten.
Vorne an der Absperrung bauten auf einer eigens errichteten erh�hten B�hne Filmleute ihre Stative und Kameras auf. Dabei diskutierten sie, aus welchem Blickwinkel man die Sprengung wohl am besten aufnehmen konnte. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass man auch ja alle f�nf Kuppeln im Visier hatte, und es wurde ernsthaft dar�ber spekuliert, ob sie wohl schon in der Luft auseinanderbrechen w�rden, wenn sie ineinanderkrachten, oder erst auf der Erde. Das hing, vermutete man, vom K�nnen der Experten ab, die da drinnen das Dynamit anbrachten.
Lasar fragte sich, ob ein paar in der Masse wohl auch trau�rig waren. Auf der Suche nach Gesinnungsgenossen blickte er nach rechts und nach links - in einiger Entfernung stand ein Ehepaar, beide stumm und aschfahl im Gesicht, die �ltere Frau ganz am Rand hatte eine Hand in der Jackentasche stecken. Sie verbarg etwas, vielleicht ein Kruzifix. Lasar h�tte gern die Menge geteilt, die Trauernden von den Schaulustigen getrennt. Er h�tte gern an der Seite derer gestanden, die begriffen, was hier verloren gehen w�rde: eine dreihundert Jahre alte Kirche, erbaut nach dem Vorbild der Kathedrale der Heiligen Sophia in Gorki, deren Namen sie auch trug. B�rgerkriege und Weltkriege hatte sie �berdauert, und der j�ngste Bombenschaden war eher ein Grund gewesen, sie zu erhalten, als sie zu zerst�ren. Mit Wut im Bauch hatte Lasar den Artikel in der Prawda gelesen, in dem von Bauf�lligkeit die Rede gewesen war - nichts weiter als ein Vorwand, um das Bevorstehende ertr�glich zu machen. Der Staat hatte die Zerst�rung der Kirche befohlen. Aber noch schlimmer, sogar viel schlimmer war, dass die Orthodoxe Kirche dem Dekret zugestimmt hatte. Beide Parteien, die sich dieses Vergehens schuldig machten, schoben vor, dass es sich um eine rein pragmatische und nicht etwa um eine ideologische Entschei�dung handle. Sie hatten eine ganze Liste von Gr�nden erstellt. Da waren zun�chst einmal die durch die deutsche Luftwaffe verursachten Sch�den. Dann bedurfte das Kircheninnere einer aufwendigen Restaurierung, f�r die indes kein Geld da war. Und schlie�lich wurde der Grund und Boden mitten in der Stadt f�r ein wichtiges Bauprojekt ben�tigt. Alle, die etwas zu sagen hat�ten, waren einer Meinung: Diese Kirche, die noch nicht einmal zu den wichtigsten Moskaus z�hlte, sollte abgerissen werden.
Was sich hinter dieser besch�menden Argumentation verbarg, war Feigheit. Nachdem die kirchlichen W�rdentr�ger w�hrend des Krieges s�mtliche Gemeinden hinter Stalin versammelt hatten, waren sie jetzt nur mehr Instrumente des Staates, ein Ministerium des Kremls. Der Abriss war eine Demonstration dieser Unterwerfung. Diese Sprengung hier diente nur einem einzigen Zweck, n�mlich die Ergebenheit der Kirche zu bewei�sen. Ein himmelschreiender Akt der Selbstverst�mmelung, um zu zeigen, wie harmlos, f�gsam und bez�hmt die Religion war. Man brauchte sie gar nicht mehr weiter zu verfolgen.
Lasar verstand die Taktik hinter diesem Opfer. War es nicht besser, eine einzige Kirche zu verlieren als alle? Als junger Mann war er Zeuge geworden, wie theologische Seminare in Arbei�terbaracken umfunktioniert worden waren und Kirchen in an�tireligi�se Ausstellungsr�ume. Ikonen hatte man als Feuerholz benutzt, Priester inhaftiert, gefoltert und exekutiert. Permanente Verfolgung oder kritiklose Unterw�rfigkeit - das waren die Al�ternativen gewesen.
* * *
Jekabs h�rte das L�rmen der Menge, die sich drau�en ver�sammelte, wie sie aufgeregt wartete, dass es endlich losging. Er war sp�t dran, eigentlich h�tte er schon so weit sein sollen. Doch in den letzten f�nf Minuten hatte er nichts unternommen, hatte nur die letzte Sprengladung angestarrt und sich nicht ge�r�hrt. Hinter sich h�rte er das Quietschen der T�r und blickte �ber die Schulter. Es war sein Kollege und Freund, er verharrte auf der T�rschwelle, als ob er Angst habe einzutreten. Er rief ihn an, seine Stimme hallte von den W�nden wider. �Jekabs! Was ist los?�
�Gar nichts�, antwortete Jekabs. �Bin gleich so weit.�
Sein Freund z�gerte einen Augenblick, dann fuhr er mit lei�serer Stimme fort: �Heute Abend betrinken wir uns, wir zwei, und feiern deine Pensionierung. Morgen fr�h hast du bestimmt f�rchterliche Kopfschmerzen, aber abends geht es dir dann schon besser.�
Jekabs musste l�cheln angesichts dieses Trostversuchs seines Freundes. Die Schuldgef�hle w�rden auch nicht schlimmer sein als ein Kater, sie w�rden verschwinden.
�Noch f�nf Minuten.�
Und damit lie� sein Freund ihn in Ruhe.
Wie in der schlechten Parodie eines Gebets, schwei�triefend, kniete Jekabs sich mit schl�pfrigen Fingern hin. Er wischte sich das Gesicht ab, aber das brachte nichts, sein Hemd war schon klatschnass. Bring die Sache zu Ende! Danach w�rde er nie wieder arbeiten m�ssen. Morgen w�rde er mit seiner kleinen Tochter am Fluss spazieren gehen. Und �bermorgen w�rde er ihr etwas kaufen und zusehen, wie sie sich freute. Ende n�chster Woche h�tte er die Kirche schon vergessen, ihre f�nf goldenen Kuppeln und wie sich ihr kalter Steinboden angef�hlt hatte.
Hastig griff er nach dem Z�nder und hockte sich vor das Dynamit.
Buntglas schoss in alle Richtungen aus der Kirche heraus, als in einem Augenblick s�mtliche Fenster unten und oben gleichzei�tig barsten und die Luft mit farbenfrohen Bruchst�cken f�llten. Die eben noch solide R�ckwand wurde in eine sich auft�rmen�de Staubwolke verwandelt. Scharfe Steinbrocken flogen in ho�hem Bogen nach oben und krachten dann auf die Erde, fra�en sich durch die Grasnarbe und schlitterten auf die Menge zu. Die k�mmerliche Absperrung bot keinen Schutz, mit lautem Scheppern flog sie zur Seite. Links und rechts von Lasar gingen Menschen zu Boden, weil sie von den Beinen gerissen wurden. Auf den Schultern ihrer V�ter hielten sich Kinder die H�nde vor die von sirrenden Stein- und Glassplittern zerschnittenen Ge�sichter. Als w�re sie eins, ein Schwarm, stob die Menge davon, duckte sich, einer suchte Schutz hinter dem anderen aus Angst, dass die Tr�mmer sie zerfetzen w�rden. Niemand hatte damit gerechnet, dass es schon losging, viele hatten noch nicht einmal hingesehen. Die Filmkameras waren noch nicht bereit. In der Einsturzzone, die man entweder hoffnungslos untersch�tzt oder wo man die Wucht der Explosion verkannt hatte, befanden sich noch Arbeiter.
Mit klingelnden Ohren stand Lasar auf und starrte auf die Staubfahnen, bis sie sich wieder legten. Als die Wolke sich lang�sam aufl�ste, enth�llte sie ein Loch in der Wand, das so hoch und breit war wie zwei M�nner. Es sah aus, als h�tte ein Riese aus Versehen seine Stiefelspitze in die Kirche gesetzt und dann peinlich ber�hrt den Fu� wieder zur�ckgezogen, um die �brige Kirche nicht auch noch zu besch�digen. Lasar blickte hoch zu den goldenen Kuppeln. Die Umstehenden folgten seinem Blick, und jeder dachte dasselbe: W�rden die T�rme zusammenfallen?
Aus dem Augenwinkel konnte Lasar sehen, wie die Filmcrew fieberhaft die Kameras ans Laufen brachte, den Staub von den Linsen wischte und die Stative stehen lie�, um nur ja die Szene aufzunehmen. Wenn sie den Einsturz verpassten, egal aus wel�chem Grund, dann ging es ihnen an den Kragen. Ungeachtet der Gefahr lief keiner von ihnen weg, alle blieben auf ihren Posten und warteten auf die kleinste Bewegung, ein Kippen oder Ruckeln ... ein Zittern. Einen Moment lang schien es, als w�rden selbst die Verletzten in gespannter Erwartung verharren.
Die f�nf Kuppeln st�rzten nicht ein, majest�tisch �berragten sie das Chaos zu ihren F��en. Denn w�hrend die Kirche stehen blieb, waren in der Menge viele verwundet, sie bluteten und schrien. Und als ob sich pl�tzlich der Himmel verdunkelt h�tte, sp�rte Lasar, wie die Stimmung unter den Leuten kippte. Zweifel machten sich breit. War eine �berirdische Macht eingeschritten und hatte dieses Verbrechen unterbunden? Die Schaulustigen fingen an, sich zu zerstreuen, eilten schlie�lich davon. Keiner wollte mehr zusehen. Mit M�he unterdr�ckte Lasar ein Lachen. Die Menge war zerstoben, aber die Kirche hatte �berdauert! Er wandte sich in der Hoffnung, den Anblick gemeinsam mit ihnen genie�en zu k�nnen, zu dem �lteren Ehepaar um.
Der Mann stand direkt hinter Lasar, so nahe, dass sie sich fast ber�hrten. Lasar hatte sein N�herkommen nicht bemerkt. Der Mann l�chelte, aber seine Augen waren kalt. Er trug weder eine Uniform noch zeigte er seinen Ausweis. Trotzdem bestand kein Zweifel, dass er zur Staatssicherheit geh�rte. Das war ein Geheimpolizist, ein Mitglied des MGB. Lasar konnte es nicht etwa aus dem schlie�en, was der Mann tat, sondern aus dem, was er nicht tat. Rechts und links lagen Verletzte herum, doch der Mann zeigte kein Interesse an ihnen. Man hatte ihn in der Menge postiert, um die Reaktionen der Leute zu beobachten. Und Lasar hatte versagt. Als er sich h�tte freuen sollen, war er traurig gewesen. Und als er h�tte traurig sein sollen, hatte er sich gefreut.
W�hrend der Mann ihn mit einem schmallippigen L�cheln ansprach, ruhten seine toten Augen unverwandt auf Lasar: �Eine kleine Panne, nur ein Malheur, das schnell behoben sein wird. Sie sollten dableiben. Vielleicht klappt es heute doch noch mit der Sprengung. Sie wollen doch bleiben, oder? Sie wollen doch sicher sehen, wie die Kirche einst�rzt. Das wird ein ziem�liches Schauspiel.�
�Ja.� Eine vorsichtige Antwort und sogar die Wahrheit. Lasar wollte tats�chlich bleiben. Dass die Kirche einst�rzte, wollte er allerdings nicht, aber das w�rde er bestimmt nicht sagen.
Der Mann fuhr fort: �Auf diesem Gel�nde wird eines der gr��ten Hallenb�der der Welt entstehen. F�r die Gesundheit unserer Kinder. Die Gesundheit unserer Kinder ist wichtig. Wie hei�en Sie?�
Die einfachste aller Fragen und doch gleichzeitig die furchteinfl��endste.
�Ich hei�e Lasar.�
�Was sind Sie von Beruf?�
Die Maskerade einer zwanglosen Plauderei war gefallen, jetzt war es ein offenes Verh�r. Unterwerfung oder Verfolgung, Pragmatismus oder Prinzipien - Lasar musste sich entscheiden. Anders als viele seiner Mitbr�der, die sofort zu erkennen waren, hatte er immerhin die Wahl. Er musste ja nicht zugeben, dass er ein Priester war. Wladimir Lwow, der ehemalige Oberprokuror der Heiligen Synode, war der Ansicht gewesen, dass die Priester sich nicht mehr durch ihre Tracht absondern mussten, sondern stattdessen �ihre Priestergew�nder abstreifen, die Haare schnei�den und sich in normale Sterbliche verwandeln� durften. Lasar stimmte ihm zu. Mit seinem kurz geschorenen Bart und seinem unauff�lligen �u�eren k�nnte er diesen Agenten nun anl�gen. Er k�nnte seine Berufung verleugnen und hoffen, dass seine L�ge ihn sch�tzen w�rde. Er arbeitete in einer Schuhfabrik oder war Tischler - egal was, nur nicht die Wahrheit. Der Agent wartete.
Am selben Tag
W�hrend ihrer ersten gemeinsamen Wochen hatte Anis ja nicht gro� �ber die Sache nachgedacht. Maxim war erst vierund�zwanzig Jahre alt und Absolvent des Seminars der Moskauer Theologischen Hochschule, die, nachdem sie 1918 geschlossen worden war, erst k�rzlich als Teil der Rehabilitation religi�ser Einrichtungen wiederer�ffnet worden war. Sie selbst war sechs Jahre �lter als er, verheiratet, also unerreichbar und eine qual�volle Vorstellung f�r einen jungen Mann, der vermutlich �ber wenig, wenn �berhaupt irgendeine sexuelle Erfahrung verf�gte. Maxim war introvertiert und scheu und hatte sich au�erhalb der Kirche nie mit jemandem abgegeben. Er hatte nur wenige Freunde und Verwandte, und von denen lebte niemand in der Stadt. So war es nicht verwunderlich, dass er sich in sie vernarrt hatte. Sie hatte seine schmachtenden Blicke geduldet und sich sogar ein wenig geschmeichelt gef�hlt. Hoffnungen gemacht allerdings hatte sie ihm ganz und gar nicht. Er jedoch hatte ihr Schweigen als Erlaubnis missverstanden, ihr weiter den Hof machen zu d�rfen. Deshalb nahm er jetzt auch ihre Hand und sagte:
�Verlass ihn. Komm mit mir.�
Sie war �berzeugt gewesen, dass er niemals den Mut aufbrin�gen w�rde, seine so dumme, kindische Schw�rmerei tats�chlich in die Tat umzusetzen. Da hatte sie sich get�uscht.
Bemerkenswert war, dass er sich, um die Grenze von einer privaten Tr�umerei zu einem offenen Antrag zu �berschreiten, ausgerechnet diesen Ort ausgesucht hatte. Sie standen in der Kirche ihres Mannes, in den im Schatten liegenden Nischen richteten die Fresken von J�ngern, D�monen, Propheten und Engeln �ber ihr verbotenes Tun. Maxim setzte seine gesamte Ausbildung aufs Spiel, Schande und der Ausschluss aus der re�ligi�sen Gemeinde ohne Hoffnung auf Vergebung w�rden ihm sicher sein. Sein ernstes, aus tiefstem Herzen kommendes Wer�ben beruhte auf einer derartig absurden Fehleinsch�tzung, dass ihre Reaktion unwillk�rlich die schlimmste nur denkbare war: ein kurzes, perplexes Auflachen.
Bevor er noch reagieren konnte, schlug die schwere Eichent�r zu. Aufgeschreckt wandte Anisja sich um und sah ihren Mann. Erregt preschte Lasar auf sie zu, und sie konnte nur vermuten, dass er die Szene als Beweis ihrer Untreue missdeutet hatte.
Anisja riss sich so abrupt von Maxim los, dass ihre vermeint�liche Schuld dadurch nur noch betont wurde. Aber als Lasar n�her kam, erkannte sie, dass der Mann, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war, etwas anderes auf dem Herzen hatte. Er warf einen hastigen Blick zur�ck zur T�r. So atemlos, als sei er gerannt, ergriff er ihre H�nde - dieselben H�nde, die noch vor Sekunden Maxim gehalten hatte.
�Ich bin aus der Menge herausgefischt worden. Ein Agent hat mich verh�rt.� Er sprach hastig, die Worte �berschlugen sich und waren so dringlich, dass sie Maxims Antrag einfach beiseitefegten.
�Ist man dir gefolgt?�, fragte sie.
Er nickte. �Ich habe mich in Natascha Njurinas Wohnung versteckt.�
�Was ist dann passiert?�
�Er hat drau�en gewartet. Ich musste durch die Hintert�r verschwinden.�
�Werden sie Natascha jetzt verhaften und verh�ren?�
Lasar hielt sich die H�nde vors Gesicht. �Ich habe Panik gekriegt. Ich wusste nicht, wohin. Ich h�tte nicht zu ihr gehen sollen.�
Anisja packte ihn bei den Schultern. �Wenn sie erst Natascha verhaften m�ssen, um uns zu finden, dann haben wir noch etwas Zeit.�
Lasar sch�ttelte den Kopf. �Ich habe ihm meinen Namen genannt.�
Sie verstand. Er w�rde nicht l�gen. Er w�rde seine Prinzipien nicht verraten, weder f�r sie noch f�r irgendjemand anders. Die Prinzipien waren wichtiger als ihr Leben. Er h�tte nicht zu der Sprengung gehen sollen. Sie hatte ihn vor dem unn�tigen Risiko gewarnt. Mit Sicherheit w�rde man die Menge �berwachen, und er war ein auff�lliger Zuschauer. Wie �blich hatte er sie igno�riert. Immer tat er so, als bedenke er ihren Rat, aber nie befolgte er ihn. Hatte sie ihn nicht angefleht, die Kirchenoberen nicht vor den Kopf zu sto�en? Waren sie beide in einer so starken Position, dass sie es sich leisten konnten, sich sowohl den Staat als auch die Kirche zu Feinden zu machen? Aber B�ndnispolitik interessierte ihren Mann nicht, er wollte einfach seine Mei�nung sagen, selbst wenn er sich dadurch isolierte. Offen hatte er das neue Verh�ltnis der Bisch�fe zu den Machthabern kriti�siert. St�rrisch und eigensinnig hatte er von ihr verlangt, seine Haltung zu unterst�tzen, ohne ihr auch nur einen Kommentar zuzugestehen. Sie bewunderte ihn, bewunderte seine Integrit�t. Er hingegen bewunderte sie nicht. Sie war viel j�nger als er und erst zwanzig Jahre alt gewesen, als sie geheiratet hatten. Er war damals schon f�nfunddrei�ig.
Manchmal fragte Anisja sich, ob er sie nur geheiratet hat�te, weil es per se eine reformerische Haltung verriet, wenn ein sogenannter Wei�er Priester, der verheiratet war, das M�nchs�gel�bde ablegte. Die Vorstellung gefiel ihm, passte in sein libe�rales philosophisches Weltbild. Immer war sie auf den Moment gefasst gewesen, in dem der Staat in ihr Leben eingreifen w�rde. Doch jetzt, wo dieser Moment gekommen war, f�hlte sie sich betrogen. Sie zahlte nun die Zeche f�r seine �berzeugungen - �berzeugungen, die sie nie hatte beeinflussen oder mitgestalten k�nnen.
Lasar legte Maxim eine Hand auf die Schulter. �Es w�re bes�ser, wenn du ins Priesterseminar zur�ckkehrst und uns denun�zierst. Wir werden sowieso verhaftet, und die Denunziation w�rde ja nur dazu dienen, dass du dich von uns distanzieren kannst. Du bist noch ein junger Mann, Maxim. Keiner wird schlecht von dir denken, wenn du jetzt gehst.�
Aus Lasars Mund war dieser Vorschlag ein zweischneidiges Schwert. Denn seiner selbst hielt Lasar solch eine pragmatische Handlungsweise nat�rlich f�r unw�rdig, so verhielten sich an�dere, schw�chere M�nner und Frauen. Seine moralische �ber�legenheit war erdr�ckend. Er er�ffnete Maxim nicht etwa einen Ausweg, sondern fing ihn in einer Falle. Mit bem�ht freundli�cher Stimme warf Anisja ein: �Du musst gehen, Maxim.�
Er antwortete scharf: �Ich will aber dableiben.�
Dass sie ihn eben ausgelacht hatte, hatte an seiner Ehre ge�kratzt, deshalb reagierte er jetzt stur und aufgebracht. Mit einem Satz, dessen Doppelb�digkeit ihrem Mann verborgen blieb, antwortete sie: �Bitte Maxim, vergiss alles, was geschehen ist. Damit, dass du bleibst, bewirkst du doch nichts.�
Maxim sch�ttelte den Kopf. �Ich habe meine Entscheidung getroffen.�
Anisja registrierte Lasars L�cheln. Ohne Zweifel hatte er Maxim ins Herz geschlossen. Er hatte ihn unter die Fittiche genommen, ohne zu merken, wie sehr der Junge sie verg�tterte. Ihm machten nur Maxims Wissensl�cken in Bibelstudien und Philosophie Sorgen. Dessen Entscheidung zu bleiben schien ihm zu gefallen, weil er glaubte, dass sie etwas mit ihm selbst zu tun hatte.
Anisja trat n�her an Lasar heran.
�Wir k�nnen nicht zulassen, dass er sein Leben riskiert.�
�Wir k�nnen ihn auch nicht zwingen zu gehen.�
�Lasar, das hier ist nicht sein Kampf!� Ihrer war es auch nicht.
�Er hat ihn zu seinem gemacht. Ich respektiere das, und du musst das auch tun.�
�Es ist doch sinnlos!�
Offenbar sah Lasar in Maxim ein Ebenbild seiner selbst, den M�rtyrer. Er hatte sich entschieden, sie zu erniedrigen und ihn zu zerst�ren. �Schluss jetzt!�, schrie er. �Wir haben keine Zeit mehr. Du willst, dass Maxim nichts passiert. Ich auch. Aber wenn er bleiben will, dann bleibt er.�
Lasar eilte hinter die Ikonostase zu dem steinernen Altar und r�umte ihn hastig ab. Jeder, der mit seiner Kirche in Verbindung stand, war jetzt in Gefahr. F�r seine Frau oder Maxim konnte er nicht mehr viel tun, sie standen ihm zu nahe. Aber seine Ge�meinde, die Menschen, die sich ihm anvertraut und ihre �ngste mit ihm geteilt hatten - deren Namen mussten unbedingt ge�heim bleiben.
Kaum war der Altar leer, umfasste Lasar ihn an der Querseite. �Schieb!�
Ahnungslos, aber gehorsam dr�ckte Maxim gegen den Altar, dessen Gewicht ihm alle Kraft abverlangte. Der raue steinerne Sockel knirschte �ber den Steinboden, und als er langsam zur Seite glitt, kam ein Loch zum Vorschein - ein Versteck, das man vor etwa zwanzig Jahren angelegt hatte, als die Attacken gegen die Kirche am heftigsten gewesen waren. Damals hatten sie die Steinplatten entfernt, sodass die nackte Erde zum Vorschein gekommen war. Dann hatten sie vorsichtig gegraben und das Loch mit Holz ausgekleidet, damit die Seiten nicht einbrachen. Ein einen Meter tiefer und zwei Meter breiter Raum war ent�standen, in dem sich jetzt eine Stahlkiste befand. Lasar griff da�nach, Maxim folgte seinem Beispiel und zog am anderen Ende. Gemeinsam hoben sie die Kiste heraus und setzten sie auf dem Fu�boden ab, um sie zu �ffnen.
Anisja hob den Deckel hoch.
Maxim hockte sich neben sie und konnte die Verbl�ffung in seiner Stimme nicht verbergen. �Musik?�
Die Kiste war angef�llt mit handgeschriebenen Notenbl�t�tern.
Lasar erkl�rte: �Der Komponist hat hier den Gottesdienst besucht. Er war noch ein junger Mann, nicht viel �lter als du, ein Student am Moskauer Konservatorium. Eines Abends kam er zu uns, au�er sich vor Angst, dass man ihn verhaften w�rde. Er f�rchtete, dass man seine Arbeit zerst�ren k�nnte, und hat uns seine Kompositionen anvertraut. Vieles davon war als anti�sowjetisch gebrandmarkt worden.�
�Warum?�
�Ich wei� es nicht. Er wusste es selbst nicht. Er hatte nieman�den, an den er sich wenden konnte, keine Familie oder Freunde, denen er vertrauen konnte. Deshalb kam er zu uns. Wir erkl�r�ten uns bereit, sein Lebenswerk an uns zu nehmen. Kurz darauf ist er verschwunden.
Maxim warf einen fl�chtigen Blick auf die Noten. �Die Mu�sik ... ist sie gut?�
�Wir haben sie noch nie geh�rt. Wir trauen uns nicht, sie jemandem zu zeigen oder uns vorspielen zu lassen. Man k�nnte Fragen stellen.�
�Ihr habt �berhaupt keine Vorstellung davon, wie sie klingt?�
�Ich kann keine Noten lesen. Meine Frau auch nicht. Aber darum geht es hier nicht, Maxim. Als ich versprach, dem Mann zu helfen, ging es dabei nicht um den k�nstlerischen Rang seiner Arbeit.�
�Ihr riskiert euer Leben. Wenn sie nun wertlos ist...�
Lasar berichtigte ihn: �Was wir sch�tzen, sind nicht diese Noten. Was wir sch�tzen, ist ihr Recht zu �berleben.�
Anisja machte die Selbstgef�lligkeit ihres Mannes w�tend. Schlie�lich war der junge Komponist, um den es hier ging, zu ihr gekommen, nicht zu ihm. Danach hatte sie Lasar angefleht und ihn dazu �berredet, sich der Musik anzunehmen. Als er jetzt die Geschichte weitererz�hlte, verschwieg er nicht nur geflissent�lich seine eigenen Zweifel und �ngste, sondern stellte �berdies Anisja lediglich als passive Bef�rworterin dar. Sie fragte sich, ob ihm �berhaupt bewusst war, wie er die wahre Geschichte zurechtgedrechselt hatte, um seine eigene Bedeutung hervorzu�heben, sich selbst im Nachhinein in den Mittelpunkt zu r�cken.
Lasar nahm die komplette Loseblattsammlung der Noten, insgesamt vielleicht zweihundert Seiten. Zwischen den Noten befanden sich Dokumente �ber Kirchenangelegenheiten und mehrere echte Ikonen, die man hier verborgen und durch Re�produktionen ersetzt hatte. Fieberhaft sortierte er alles in drei Stapel und achtete dabei so gut es ging darauf, dass einzelne Kompositionen zusammenblieben. Der Plan war, alles in etwa gleich gro�en Tranchen hinauszuschmuggeln. Wenn man es auf drei P�ckchen aufteilte, bestand eine realistische Chance, dass ein Teil der Musik �berleben w�rde. Die Schwierigkeit bestand darin, drei verschiedene Verstecke zu finden sowie drei Men�schen, die bereit w�ren, ihr Leben f�r Notenbl�tter aufs Spiel zu setzen, obwohl sie weder dem Komponisten je begegnet waren noch seine Musik geh�rt hatten. Lasar wusste, dass viele aus der Gemeinde ihm helfen w�rden. Und die waren vermutlich auch aus dem einen oder anderen Grund verd�chtig. F�r diese Auf�gabe brauchten sie die Hilfe eines perfekten Sowjetmenschen, von jemandem also, dessen Wohnung nie und nimmer durch�sucht werden w�rde. Und ein solcher Mensch, wenn es ihn �berhaupt gab, w�rde ihnen niemals helfen.
Anisja machte ein paar Vorschl�ge.
�Martemjan Systow.�
�Eine Plaudertasche.�
�Artjom Nachajew.�
�Der w�rde sich bereiterkl�ren, die Noten an sich nehmen, es dann aber mit der Angst kriegen, die Nerven verlieren und sie verbrennen.�
�Njura Dmitrijewa.�
�Sie w�rde zwar Ja sagen, uns aber daf�r hassen, dass wir sie gefragt haben. Sie w�rde nicht mehr schlafen und nichts mehr essen.�
Letzten Endes blieben zwei Namen �brig, auf mehr konnten sie sich nicht einigen. Lasar beschloss, einen Teil der Kompo�sitionen zusammen mit den gr��eren Ikonen weiterhin in der Kirche versteckt zu halten. Er w�rde sie in die Kiste zur�cklegen und den Altar wieder an seine Stelle r�cken. Da Lasar auf jeden Fall verfolgt werden w�rde, sollten Anisja und Maxim je einen Teil der Noten zu den beiden Adressen schaffen.
Anisja war bereit. �Ich gehe als Erste.�
Maxim sch�ttelte den Kopf. �Nein, ich.�
Sie erriet, warum er das vorschlug. Wenn Maxim entwisch�te, dann gab es eine gute Chance, dass auch sie davonkommen w�rde.
Sie hoben den schweren Balken, der die Hauptt�r verriegelte, weg. Anisja sp�rte, wie Maxim z�gerte. Bestimmt hatte er Angst, jetzt wo ihm seine gef�hrliche Lage klar wurde.
Lasar sch�ttelte ihm die Hand. �ber die Schultern ihres Mannes hinweg sah Maxim sie an. Als Lasar sich verabschiedet hatte, trat Maxim zu ihr.
Sie umarmte ihn und sah ihm nach, wie er in der Nacht ver�schwand.
Lasar verriegelte die T�r wieder, dann ging er nochmals den Plan durch. �Warte zehn Minuten.�
Allein mit ihrem Mann, stand sie ein wenig hilflos vor der Ikonostase. Er kam zu ihr. Doch zu ihrer �berraschung betete er nicht etwa, sondern nahm stattdessen ihre Hand.
* * *
Die zehn Minuten waren vergangen, und sie gingen wieder zur T�r. Lasar schob den Balken weg. Die Noten befanden sich in einer Tasche, die Anisja sich �ber die Schulter geworfen hatte. Sie hatten sich schon verabschiedet. Drau�en blieb sie stehen, wandte sich noch einmal um und sah schweigend zu, wie Lasar die T�r hinter ihr schloss. Sie h�rte, wie der Balken wieder vor�gelegt wurde. W�hrend sie in Richtung der Stra�e ging, suchte sie nach Gesichtern in den Fenstern und irgendwelchen Bewe�gungen im Schatten. Eine Hand umfasste ihr Armgelenk. Sie wirbelte herum. �Maxim?�
Was machte er hier? Wo waren die Noten, die er bei sich gehabt hatte? Von irgendwo hinter der Kirche rief eine barsche, ungeduldige Stimme: �Leo?�
Anisja sah einen Mann in dunkler Uniform - ein MGB-Agent. Weitere M�nner folgten ihm, zusammengerottet wie Kaker�laken. All ihre Fragen schmolzen dahin, sie konzentrierte sich nur noch auf den Namen, den der Mann gerufen hatte: Leo. Mit einem einzigen Wort l�ste sich das ganze L�gengespinst auf. Deshalb also hatte er keine Freunde oder Verwandten in der Stadt und war in seinen Stunden mit Lasar so schweigsam gewesen. Deshalb kannte er sich in der Heiligen Schrift und Phi�losophie nicht aus. Deshalb hatte er auch die Kirche als Erster verlassen wollen - nicht etwa, um sie zu besch�tzen, sondern um ihre Beschatter zu alarmieren, die Mannschaft zusammen�zutrommeln und sich f�r ihre Verhaftung bereitzuhalten. Er war ein Tschekist, ein Beamter der Geheimpolizei. Er hatte sie und ihren Mann get�uscht, hatte sich in ihrer beider Leben geschli�chen, um so viele Informationen wie m�glich zu bekommen, nicht nur von ihnen, sondern auch von den Leuten, die mit ih�nen sympathisierten.
Er hatte einen Schlag gegen die restlichen Widerstandsnester innerhalb der Kirche vorbereitet. War der Versuch, sie zu ver�f�hren, auch im Auftrag seiner Vorgesetzten geschehen? Hatten die sie als schwach und leichtgl�ubig eingesch�tzt und diesem gut aussehenden Beamten befohlen, in die Rolle des Maxim zu schl�pfen, um sie zu manipulieren?
Maxim sprach leise und vertraulich, so als habe sich nichts zwischen ihnen ge�ndert. �Anisja, ich gebe dir noch eine Chan�ce. Komm mit mir. Ich habe Vorbereitungen getroffen. An dir ist keiner interessiert. Sie wollen Lasar.�
Der Tonfall in seiner Stimme, so sanft und besorgt, widerte sie an. Als er ihr vorgeschlagen hatte, mit ihm wegzugehen, war das gar keine naive Tr�umerei gewesen, keine romantische Verliebtheit. Es war die k�hl kalkulierte Taktik eines Agen�ten.
Er fuhr fort: �Ich gebe dir denselben Rat, den ihr mir gege�ben habt: Denunziere Lasar. Ich kann f�r dich l�gen. Ich kann dich besch�tzen. Er ist es, den sie wollen. Mit deiner Loyalit�t erreichst du gar nichts. Bitte!�
Leo wurde die Zeit knapp. Sie musste doch begreifen, dass er ihre einzige Chance war zu �berleben, was auch immer sie von ihm hielt. Es w�rde ihr nichts einbringen, an ihren Prinzipien festzuhalten. Sein Vorgesetzter Nikolai Borissow kam auf sie zu. Er war vierzig Jahre alt und hatte den K�rperbau eines in die Jahre gekommenen Gewichthebers, immer noch stark, aber von zu viel Alkohol aufgeschwemmt. �Kooperiert sie?�
Leo streckte die Hand aus, seine Augen flehten sie an, ihm die Tasche zu geben. �Bitte!�
Statt einer Antwort schrie sie, so laut sie konnte: �Lasar!�
Nikolai trat vor und schlug sie mit dem Handr�cken. Seinen M�nnern rief er zu: �Los!�
Mit �xten machten sie sich �ber die Kirchent�r her.
Leo sah den Hass in Anisjas Blick. Nikolai entriss ihr die Tasche. �Er hat nur versucht, dich zu retten, du undankbares Mistst�ck.�
Sie lehnte sich vor und fl�sterte Leo ins Ohr: �Hast du ernst�haft geglaubt, dass ich mich in dich verlieben k�nnte?� Beamte packten sie an den Armen und rissen sie zur�ck.
Sie grinste ihn an, ein teuflisches Grinsen. �Niemand wird dich jemals lieben. Niemand.�
Leo wandte sich von ihr ab und hoffte, dass man sie nur schnell fortschaffte.
Tr�stend legte ihm Nikolai eine Hand auf die Schulter. �Es w�re ohnehin schwierig genug geworden, plausibel zu machen, dass sie keine Verr�terin war. Schwierig f�r dich, meine ich. So ist es besser, besser f�r dich. Es gibt auch noch andere Frauen, Leo. Es gibt immer andere.�
Leo hatte seine erste Verhaftung durchgef�hrt.
Anisja hatte unrecht. Denn es gab ja schon jemanden, der ihn liebte - den Staat. Von einer Verr�terin wollte er nicht geliebt werden, das war ja gar keine Liebe. T�uschung und Betrug wa�ren die Waffen eines Agenten, es war sein Recht, sich ihrer zu bedienen. Sein Land war angewiesen auf Betrug. Bevor er Agent beim MGB geworden war, hatte er als Soldat erfahren, wie not�wendig Brutalit�t bei der Bezwingung des Faschismus gewesen war. Selbst die schrecklichsten Dinge konnte man mit dem Wohl des Ganzen rechtfertigen, dem sie letztendlich dienten.
Er betrat die Kirche. Statt zu versuchen zu fliehen, kniete Lasar vor einer Ikone und erwartete betend sein Schicksal. Als er Leo sah, fiel sein trotziger Stolz von ihm ab. Im Moment des Verstehens schien er um Jahre zu altern.
�Maxim?� Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, musste nun er seinen Sch�tzling um Erkl�rungen bitten.
�Mein Name ist Leo Stepanowitsch Demidow.�
Einige Sekunden lang schwieg Lasar. Schlie�lich murmelte er: �Aber du wurdest mir doch vom Patriarchen empfohlen.�
�Der Patriarch Krassikow ist ein guter B�rger.�
Lasar sch�ttelte den Kopf, er konnte es einfach nicht fassen. Der Patriarch ein Informant? Sein Sch�tzling ein Spion, den ihm der h�chste kirchliche W�rdentr�ger ins Haus geschickt hatte? Man hatte ihn dem Staat ebenso geopfert wie die Kirche der Heiligen Sophia. Er war ein Narr gewesen, der andere gewarnt hatte, sich vorzusehen, und Umsicht gepredigt hatte, w�hrend direkt neben ihm ein Beamter des MGB gestanden und alles aufgeschrieben hatte.
Nikolai trat heran. �Wo sind die restlichen Papiere?�
Leo f�hrte sie hinter die Ikonostase und deutete auf den Altar. �Da drunter.�
Drei Agenten schoben den Altar beiseite und brachten die Kiste zum Vorschein. �Hat er noch weitere Namen genannt?�, fragte Nikolai.
Leo antwortete: �Martemjan Systow, Artjom Nachajew, Njura Dmitrijewa, Moissei Semaschko.�
Er erhaschte einen Blick auf Lasars Gesicht, auf dem Entset�zen sich in Abscheu verwandelte. Leo trat zu ihm. �Augen nach unten!�
Lasar wandte den Blick nicht ab.
Leo dr�ckte seinen Kopf hinunter. �Augen nach unten, habe ich gesagt!�
Lasar hob den Kopf wieder. Diesmal versetzte Leo ihm einen Faustschlag. Langsam, mit geplatzter Lippe, hob Lasar den Kopf erneut. Blut tropfte herab, doch er sah Leo an, in seinem Gesicht standen Ekel und Trotz.
Als ob Lasar ihm eine Frage gestellt h�tte, antwortete Leo: �Ich bin ein guter Mensch.�
Leo hielt seinen Mentor an den Haaren und pr�gelte immer weiter auf ihn ein, Schlag auf Schlag, mechanisch wie eine auf�ziehbare Soldatenpuppe. Immer wieder dieselben Schl�ge, bis ihm die Fingerkn�chel wehtaten und die Arme schmerzten und Lasars eine Gesichtsh�lfte ganz geschwollen war. Als er schlie߭lich aufh�rte und ihn loslie�, fiel Lasar zu Boden, um seinen Mund herum bildete sich eine Blutlache.
Nikolai legte Leo einen Arm �ber die Schulter und sah zu, wie Lasar hinausgetragen wurde und eine Blutspur vom Altar bis hin zur T�r hinterlie�. Er z�ndete sich eine Zigarette an. �Leo, der Staat braucht Leute wie dich und mich.�
Benommen wischte sich Leo das Blut an den Hosenbeinen ab, dann antwortete er: �Bevor wir abziehen, w�rde ich gerne noch kurz die Kirche durchsuchen.�
Ohne einen Hauch von Misstrauen ging Nikolai auf den Vorschlag ein. �Du bist ein Perfektionist, das gef�llt mir. Aber beeil dich. Heute Abend betrinken wir uns. Du hast schon zwei Monate keinen mehr gehoben. Hast ja gelebt wie ein M�nch.�
Nikolai lachte �ber seinen eigenen Witz und klopfte Leo auf den R�cken, dann marschierte er hinaus. Als Leo allein war, trat er zu dem weggeschobenen Altar und starrte in das Loch. Einge�klemmt zwischen der Kiste und der Erdausschachtung hing ein einzelnes Blatt Papier. Er beugte sich hinab und fischte es heraus. Es war ein Notenblatt. Besser, wenn man gar nicht erfuhr, was hier verloren gegangen war. Er hob das Blatt an die Flamme ei�ner nahe stehenden Kerze und sah zu, wie es sich schwarz f�rbte.
Sieben Jahre danach
Moskau
12. M�rz 1956
Als Leiter eines kleinen akademischen Druckereiverlags war Suren Moskwin daf�r bekannt, dass er Fachb�cher von erb�rm�lichster Qualit�t druckte. Er verwendete schmierende Drucker�schw�rze und das d�nnste Papier, zusammengehalten wurde das Ganze von einem Buchr�cken aus Leim, aus dem sich schon wenige Stunden nach dem �ffnen des Buches die ersten Bl�tter l�sten. Nicht, dass er faul oder inkompetent gewesen w�re, ganz im Gegenteil, er begann fr�hmorgens mit der Arbeit und h�rte erst sp�tabends auf. Es lag an den Materialien, dass die B�cher so sch�big waren, an Materialien, die der Staat ihm zuteilte. Zwar wurden die Inhalte akademischer Publikationen akribisch �berwacht, bei der Bewilligung von Produktionsmitteln jedoch nicht gerade bevorzugt. So kam es, dass Suren in der System�falle der Quotierung steckte und gezwungen war, in k�rzester Zeit dem schlechtesten Papier eine gro�e St�ckzahl von B�chern abzuringen.
Dieses Missverh�ltnis �nderte sich nie, er war ihm ausgelie�fert und �u�erst besch�mt, wie schlecht sein Ruf geworden war. Man machte sich �ber ihn lustig. Mit von Druckerschw�rze verschmierten Fingern witzelten die Studenten und Professoren, dass aus Moskwins B�chern wirklich etwas haften blieb. Derart l�cherlich gemacht, fand Moskwin es zunehmend schwierig, morgens �berhaupt noch aufzustehen. Er a� nicht ordentlich und trank sich stattdessen durch den Tag, die Flaschen verstaute er in Schubladen und hinter B�cherregalen. Mit f�nfundf�nfzig Jahren hatte er noch einmal etwas Neues an sich entdeckt �dass er n�mlich �ffentliche Dem�tigungen nur schwer verdauen konnte.
Als er jetzt seine Linotype-Setzmaschinen inspizierte und da�bei �ber sein Versagen br�tete, bemerkte er einen jungen Mann, der in der T�r stand. Misstrauisch sprach Suren ihn an: �Ja? Was gibt es? Ist das normal, dass man einfach unangek�ndigt so dasteht?�
In typischer Studentenkluft, einem langen Mantel und einem billigen schwarzen Schal, trat der Mann vor. Er hielt Suren ein Buch hin. Suren riss es ihm aus den H�nden und machte sich auf eine weitere Beschwerde gefasst. Er warf einen fl�chtigen Blick auf den Einband: Lenins Staat und Revolution. Letzte Woche hatten sie eine neue Ausgabe gedruckt und erst gestern oder vorgestern ausgeliefert. Dieser Mann da war offenbar der Erste, dem aufgefallen war, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein Feh�ler in einem solch grundlegenden Werk war eine ernste Sache, unter Stalin h�tte das ausgereicht, um verhaftet zu werden. Der Student beugte sich vor, �ffnete das Buch und bl�tterte vor. Auf dem Innentitel war ein Schwarzwei�foto abgedruckt.
Der Student bemerkte: �Die Bildunterschrift besagt, dass dies ein Foto von Lenin sei. Aber wie Sie sehen k�nnen ...�
Das Foto zeigte einen Mann, der Lenin nicht im Entferntesten �hnlich sah. Er stand vor einer Mauer, einer kalkwei�en Mauer. Die Haare standen ihm zu Berge, und sein Blick war gehetzt.
Ger�uschvoll schlug Suren das Buch zu und wandte sich dann an den Studenten: �Glauben Sie etwa, ich h�tte Tausende Ex�emplare dieses Buches mit einem falschen Foto gedruckt? Wer sind Sie �berhaupt? Wie hei�en Sie? Warum tun Sie das? Mein Problem ist die Materialknappheit, nicht Schludrigkeit!�
Er schubste den Studenten zur�ck und schlug ihm das Buch gegen die Brust. Der Schal um dessen Hals l�ste sich und ent�bl��te Teile einer T�towierung. Dieser Anblick lie� Suren innehalten. Eine T�towierung passte so gar nicht zu der stu�dentischen Aufmachung. Niemand au�er den wory, den Berufs�verbrechern, h�tte seine Haut derart gezeichnet.
Surens Entr�stung war die Wucht genommen, und der Mann nutzte sein Zaudern und eilte hinaus. Immer noch das Buch in der Hand lief Suren ihm halbherzig nach und sah, wie er in der Nacht verschwand.
Mit einem mulmigen Gef�hl schloss er die T�r und verriegel�te sie. Etwas beunruhigte ihn: das Foto. Er kramte seine Brille hervor, �ffnete das Buch und studierte das Gesicht etwas ein�gehender: diese angstgeweiteten Augen! So wie ein Geisterschiff aus dem dichten Nebel des Meeres auftaucht, fing Suren an zu d�mmern, wer dieser Mann war. Er kannte ihn, das Gesicht war ihm vertraut. Seine Haare waren so zerzaust und sein Blick so gehetzt, weil man ihn aus dem Bett gezerrt und verhaftet hatte. Suren erkannte die Fotografie, weil er sie selbst aufgenommen hatte.
Suren hatte nicht immer eine Druckerei geleitet. Zuvor war er beim MGB gewesen. In zwanzig Jahren treuer Dienste hatte er viele seiner Vorgesetzten �berdauert. Er hatte die verschie�densten banalen Pflichten �bernommen, Zellen ges�ubert oder Gefangene fotografiert. Sein niedriger Rang war ihm zustattengekommen, und er hatte gen�gend Grips besessen, nicht nach H�herem zu streben. Weil er nie auffiel, entging er auch den S�uberungsaktionen, denen die h�heren Befehlsebenen regelm��ig anheimfielen. Man hatte ihm unangenehme Sachen abver�langt, und er hatte seine Pflicht unersch�tterlich erf�llt. Damals war er ein Mann gewesen, den man f�rchten musste. Keiner hatte Witze �ber ihn gerissen. Das h�tte keiner gewagt. Seine angegriffene Gesundheit hatte ihn dazu gezwungen, den Posten aufzugeben. Doch obwohl man ihn f�rstlich entlohnt hatte und es ihm an nichts fehlte, die Unt�tigkeit war nichts f�r ihn. Wenn er ohne t�gliche Aufgabe einfach nur im Bett liegen blieb, mach�ten sich seine Gedanken selbstst�ndig. Sie wanderten zur�ck in die Vergangenheit und erinnerten ihn an Gesichter wie das, das jetzt in diesem Buch klebte. Deshalb musste er sich besch�ftigen und unter Leute kommen. Er brauchte eine Arbeit, damit er sich nicht in seinen Erinnerungen verlor.
Suren klappte das Buch zu und schob es sich in die Jacken�tasche. Warum passierte das ausgerechnet heute? Das konnte doch kein blo�er Zufall sein. Denn obwohl er es nicht fertig�brachte, ein einigerma�en anst�ndiges Buch oder Magazin abzuliefern, hatte man ihn unerwartet gebeten, ein wichtiges Staatsdokument zu drucken. Um was es sich dabei handelte, hatte man ihm nicht er�ffnet. Doch das Prestige dieses Auf�trags bedeutete, dass man ihm hochwertige Materialien zur Verf�gung stellen w�rde, gutes Papier und gute Druckerfarbe. Endlich hatte er Gelegenheit, etwas herzustellen, auf das er stolz sein konnte. Heute Abend sollte das Dokument vorbeigebracht werden. Doch irgendjemand, der etwas gegen ihn hatte, wollte offenbar verhindern, dass sein Schicksal sich wendete.
Suren verlie� die Druckhalle und eilte in sein B�ro, wo er sorgf�ltig sein d�nnes graues Haar scheitelte. Heute trug er sei�nen besten Anzug - er besa� nur zwei, einen f�r den t�glichen Gebrauch und einen f�r besondere Anl�sse. Das hier war ein be�sonderer Anlass. Heute hatte man ihm nicht aus dem Bett helfen m�ssen, er war vor seiner Frau wach gewesen und hatte beim Rasieren vor sich hingesummt. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er ordentlich gefr�hst�ckt. Fr�h war er in der Druckerei angekommen, hatte als Erstes die Flasche aus der Schublade ge�holt und den Wodka ins Sp�lbecken gekippt. Dann hatte er den ganzen Tag �ber saubergemacht, den Boden gescheuert und alles abgestaubt, hatte die �lflecken von den Linotype-Maschinen gewischt. Seine S�hne, die beide an der Universit�t studierten, hatten ihn besucht und �ber die Verwandlung gestaunt. Suren hatte sie daran erinnert, dass es eine Frage des Prinzips war, seinen Arbeitsplatz makellos sauber zu halten. Der Arbeitsplatz war es schlie�lich, der einem Menschen Identit�t und Selbst�wertgef�hl verlieh. Zum Abschied hatten sie ihn gek�sst und ihm bei seinem neuen Auftrag Gl�ck gew�nscht. Nach all den Jahren der Geheimniskr�merei und den letzten des Misserfolgs waren sie endlich einmal stolz auf ihn.
Er schaute auf die Uhr. Es war sieben Uhr abends. Sie konnten jeden Augenblick da sein. Er musste diesen Fremden und das Foto einfach vergessen, das war doch nicht wichtig. Er durfte sich davon nicht ablenken lassen. Pl�tzlich w�nschte er sich, er h�tte den Wodka nicht weggegossen. Ein Schl�ckchen h�tte ihn jetzt beruhigt. Aber wahrscheinlich h�tte man das gerochen. Lieber keinen heben, lieber nerv�s sein, das zeigte, dass man die Arbeit ernst nahm. Suren griff nach der Flasche Kwass, einem alkoholfreien Brottrunk. Der musste reichen.
In der ganzen Aufregung und weil der Alkoholentzug ihn zittrig gemacht hatte, stie� er gegen einen Druckstock mit st�h�lernen Matrizen f�r die Buchstaben. Der Druckstock fiel vom Schreibtisch, und alles purzelte heraus, die Buchstaben lagen �ber den gesamten Fu�boden verstreut.
Klong, klong!
Suren erstarrte. Urpl�tzlich war er nicht mehr in seinem B��ro, sondern stand in einem schmalen Backsteinflur, von dem zu beiden Seiten Eisent�ren abgingen. Er kannte den Ort genau: Das Orjoler Gef�ngnis, wo er beim Ausbruch des Gro�en Va�terl�ndischen Krieges W�rter gewesen war. Weil sie gezwungen gewesen waren, sich vor der rasch vorr�ckenden deutschen Ar�mee zur�ckzuziehen, hatte man ihm und den anderen W�rtern befohlen, s�mtliche H�ftlinge zu liquidieren, um blo� keine Sympathisanten als m�gliche Rekruten f�r die Nazi-Invasoren zur�ckzulassen. Da bereits Stukas ihre Tieffliegerangriffe flogen und die Geb�ude in Schussweite der Panzer lagen, war es logistisch gesehen eine ziemlich knifflige Angelegenheit, wie man in ein paar Minuten zwanzig Zellen voll mit Hunderten politischer Gefangener eliminieren sollte. F�r Kugeln oder Schlingen hatten sie keine Zeit mehr. Es war seine Idee gewesen, Handgranaten zu benutzen, zwei f�r jede Zelle. Er war zum Ende des Flurs ge�gangen, hatte den Sicherungsstift herausgezogen und sie hinein�geschleudert. Klong, klong! - so hatte es sich angeh�rt, als die Handgranaten �ber den Betonboden schepperten. Dann hatte er die Gitterfenster zugeknallt, damit man sie nicht wieder heraus�werfen konnte, und war durch den Flur zur�ckgelaufen, um der Explosion zu entgehen. Dabei hatte er sich vorgestellt, wie die M�nner an den Handgranaten herumnestelten und sie ihnen aus den schmuddeligen Fingern glitten bei dem Versuch, sie durch die verschlossenen Gitterfenster zu werfen.
Suren presste seine H�nde fest gegen die Ohren, so als ob er damit die Erinnerung verbannen k�nnte. Aber das L�rmen hielt an, immer lauter, Handgranaten auf dem Betonboden, eine Zelle nach der anderen.
Klong, klong, klong, klong!
�Aufh�ren!�, schrie er. Als er die H�nde von den Ohren nahm, merkte er, dass jemand an der T�r klopfte.
13. M�rz
Die Kehle des Opfers war durch eine Reihe tiefer, dilettantischer Schnitte zerfetzt worden. Oberhalb und unterhalb dessen, was vom Hals des Mannes noch �brig war, gab es keine Verlet�zungen, was gleicherma�en nach Raserei und �berlegung aus�sah. Gemessen an der Grausamkeit des Angriffs war rund um die Einschnitte nur wenig Blut ausgetreten. Offenbar hatte der M�rder das Opfer niedergeschlagen, es zu Boden gedr�ckt und ihm selbst dann noch Schnitt auf Schnitt zugef�gt, als Suren Moskwin, der f�nfundf�nfzigj�hrige Leiter einer kleinen Dru�ckerei f�r Lehrb�cher, schon l�ngst tot gewesen war.
Seine Leiche war am fr�hen Morgen gefunden worden, als seine S�hne Wsewolod und Awksenti besorgt in die Firma ge�gangen waren, weil ihr Vater nicht nach Hause gekommen war. Verst�rt hatten sie die Miliz verst�ndigt. Die hatte das B�ro vollkommen durchw�hlt vorgefunden, die Schreibtischschub�laden waren herausgezogen, der Boden mit Papieren �bers�t, die Aktenschr�nke waren aufgebrochen worden. Daraus hatte man geschlossen, dass es sich um einen Einbruch handelte, der schiefgegangen war. Erst am sp�ten Nachmittag, etwa sieben Stunden nach dem Fund der Leiche, hatte die Miliz schlie�lich das Morddezernat verst�ndigt, das vom ehemaligen MGB-Agenten Leo Stepanowitsch Demidow geleitet wurde.
An derlei Verz�gerungen war Leo gew�hnt. Vor drei Jah�ren hatte er Kapital aus der Tatsache geschlagen, dass ihm die Aufkl�rung einer Mordserie an �ber vierundvierzig Kindern gelungen war, und das Morddezernat gegr�ndet. Von Anfang an war das Verh�ltnis zur regul�ren Miliz belastet gewesen und Kooperation nicht gerade an der Tagesordnung. Viele Beamte der Miliz und KGB-Offiziere fassten schon die schiere Existenz einer solchen Beh�rde als Kritik an der eigenen Ar�beit und am Staat auf. Und eigentlich hatten sie damit sogar recht. Denn Leos Motive bei der Gr�ndung dieses Dezernats waren eine unmittelbare Reaktion auf seine Arbeit als Agent gewesen. In seiner fr�heren Laufbahn hatte er viele Zivilisten verhaftet, und das nur aufgrund von Namenslisten, die seine Vorgesetzten ihm ausgeh�ndigt hatten. Das Morddezernat dagegen war ausschlie�lich an bewiesenen Sachverhalten in�teressiert, nicht an politisch motivierten. Leo hatte in jedem einzelnen Fall die Ermittlungsergebnisse seinen Vorgesetzten zu pr�sentieren. Was die mit der Wahrheit dann anstellten, war deren Angelegenheit. Insgeheim hoffte Leo, dass sich das Konto seiner Verhaftungen eines Tages ausgleichen und mehr Schul�dige als Unschuldige dabei herauskommen w�rden. Selbst bei vorsichtiger Sch�tzung hatte er da noch einen weiten Weg vor sich.
Die Freiheiten, die dem Morddezernat gew�hrt wurden, be�ruhten darauf, dass seine Arbeit der strengsten Geheimhaltungs�stufe unterworfen war. Er und seine Leute berichteten direkt an die h�chsten Stellen im Innenministerium und arbeiteten als verdeckte Unterabteilung des Hauptb�ros f�r Verbrechensbe�k�mpfung. Die normale Bev�lkerung sollte immer noch an die Weiterentwicklung der Gesellschaft glauben. Sinkende Verbre�chensraten waren ein Dogma dieses Glaubens, und Fakten, die auf das Gegenteil hindeuteten, wurden aus dem nationalen Bewusstsein getilgt. Kein B�rger konnte sich an das Morddezernat wenden, weil gar keiner wusste, dass es �berhaupt existierte. Aus diesem Grund konnte Leo auch nicht im Radio zur Mithilfe aufrufen oder Zeugen bitten, sich zu melden. So etwas w�re gleichbedeutend gewesen mit der �ffentlichen Bekanntmachung, dass es tats�chlich Verbrechen gab. Die Freiheit, die man Leo zugestanden hatte, war ziemlich relativ, und nachdem er alles in seiner Macht Stehende unternommen hatte, um seine fr�here Laufbahn bei der Geheimpolizei hinter sich zu lassen, stellte er nun fest, dass er wieder eine geheime Polizeieinheit leitete, aller�dings eine ganz andere.
Die rasche Erkl�rung von Moskwins Tod hatte ihn misstrauisch gemacht. Leo untersuchte den Schauplatz des Verbrechens. Sein Blick blieb an dem windschiefen Stuhl haften, der unauf�f�llig vor dem Schreibtisch stand. Leo trat n�her, hockte sich hin und fuhr mit dem Finger �ber eine d�nne Bruchstelle an einem der Holzbeine. Vorsichtig st�tzte er sich auf die Lehne, dr�ckte zu und sofort brach das Bein entzwei. Der Stuhl war kaputt. Sobald sich jemand auf ihn gesetzt h�tte, w�re er zusammenge�brochen. Trotzdem hatte er so vor dem Tisch gestanden, als sei er in Ordnung.
Leo richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Leiche und betrachtete die H�nde des Opfers. Keine Wunden, keine Kratzer, kein Zeichen, dass der Mann sich verteidigt hatte. Er kniete sich hin und beugte sich zum Hals des Opfers hinunter. Au�er im Nacken, der auf dem Boden gelegen und vor den Messerhieben gesch�tzt gewesen war, war kaum noch heile Haut �brig. Leo holte ein Messer hervor, schob es dem Opfer unter den Nacken, und als er die Klinge anhob, kam ein St�ckchen Haut zum Vor�schein, die nicht aufgeschlitzt war, allerdings aufgescheuert. Er lie� den Hautlappen wieder sinken und zog das Messer zur�ck. Gerade wollte er aufstehen, da entdeckte er ein schmales B�ch�lein in der Anzugtasche des Mannes. Er griff hinein und holte es heraus - Lenins Staat und Revolution. Schon bevor er es auf�schlug, konnte er sehen, dass etwas an der Bindung ungew�hn�lich war. Man hatte ein Blatt eingeklebt. Als er die betreffende Seite aufschlug, sah er das Bild eines mitgenommen aussehenden Mannes. Leo hatte zwar keine Ahnung, wer er war, doch diese Art von Fotografie kannte er gut - der grellwei�e Hintergrund, der verwirrte Gesichtsausdruck des Verd�chtigen: Das hier war ein Verhaftungsfoto.
�berrascht �ber diese Absonderlichkeit stand Leo auf. Nesterow betrat den Raum und warf einen Blick auf das Buch. �Was Bemerkenswertes?�
�Ich bin mir nicht sicher.�
Timur war Leos engster Kollege und Freund. Sie machten aus der Freundschaft, die sie zueinander entwickelt hatten, kein gro�es Gewese. Sie tranken nicht zusammen oder alberten he�rum und redeten noch nicht einmal viel miteinander, au�er �ber die Arbeit. Eine Partnerschaft, die nicht viele Worte brauchte. Zyniker h�tten gar Feindseligkeiten aus dem Verh�ltnis der beiden herausgelesen. Obwohl fast zehn Jahre j�nger, war Leo jetzt Timurs Vorgesetzter, nachdem er zuvor sein Untergebener gewesen war und ihn f�rmlich mit �General Nesterow� angere�det hatte. Objektiv betrachtet hatte Leo mehr von ihrem gemein�samen Erfolg profitiert. Manche Leute hatten auch angedeutet, er sei ein karrieres�chtiger und nur auf den eigenen Vorteil bedachter Einzelk�mpfer. Aber Timur zeigte keinen Neid, ihm war der Rang Nebensache. Er war stolz auf seine Arbeit, konnte seine Familie versorgen, und nach endlosem Dahind�mpeln auf irgendwelchen Wartelisten hatte man ihm bei seinem Umzug nach Moskau nun sogar eine moderne Wohnung mit flie�endem Wasser und elektrischem Strom rund um die Uhr zugewiesen. Ganz gleich, wie das Verh�ltnis der beiden von au�en gesehen wirken mochte, sie vertrauten einander auf Leben und Tod.
Timur machte eine Geste zum Betriebsraum hin, wo die ge�waltigen Linotype-Maschinen standen wie riesige mechanische Insekten. �Die S�hne sind gerade gekommen.�
�Bring sie rein.�
�Obwohl die Leiche ihres Vaters noch im Raum ist?�
�Ja.�
Die Miliz hatte den S�hnen gestattet, nach Hause zu gehen, be�vor Leo sie am Ort des Verbrechens hatte befragen k�nnen. Leo hatte nicht die Absicht, sich auf Informationen zu verlassen, die er aus zweiter Hand von der Miliz bekam, also w�rde er sich bei den beiden entschuldigen, dass sie ihren toten Vater noch einmal sehen mussten. Au�erdem war er neugierig auf ihre Reaktion.
Die beiden Vorgeladenen Wsewolod und Awksenti, beide Anfang zwanzig, erschienen in der T�r.
Leo stellte sich vor. �Ich bin der Ermittlungsbeamte Leo Demidow. Mir ist klar, dass das .hier unangenehm f�r Sie ist.�
Keiner der beiden sah den toten Vater an, sie hielten ihre Au�gen auf Leo gerichtet. Der �ltere, Wsewolod, sagte: �Wir haben schon die Fragen der Miliz beantwortet.�
�Meine Fragen werden nicht lange dauern. Ist dieser Raum noch in dem Zustand, wie Sie ihn heute morgen angetroffen haben?�
�Ja, alles ist so wie vorhin.�
Das Reden �bernahm ausschlie�lich Wsewolod. Awksenti blieb stumm, nur die Augen schlug er gelegentlich hoch. Leo fuhr fort. �Stand da auch dieser Stuhl vor dem Tisch? Vielleicht ist er ja bei einem Kampf umgesto�en worden.
�Was f�r ein Kampf?�
�Zwischen Ihrem Vater und dem M�rder.�
Schweigen. Leo fuhr fort.
�Der Stuhl ist kaputt. Wenn man sich auf ihn gesetzt h�tte, w�re er zusammengebrochen. Ist doch komisch, dass jemand einen kaputten Stuhl vor seinem Schreibtisch stehen hat. Man kann gar nicht darauf sitzen.�
Die beiden S�hne warfen einen Blick auf den Stuhl. Wsewo�lod antwortete. �Haben Sie uns nur noch einmal kommen las�sen, um �ber einen Stuhl zu reden?�
�Der Stuhl ist wichtig. Ich glaube, dass Ihr Vater ihn dazu benutzt hat, sich zu erh�ngen.�
Eigentlich war es eine groteske Behauptung. Sie h�tten em�p�rt sein sollen, doch sie blieben stumm. Leo sp�rte, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte, und fuhr mit seiner Theorie fort.
�Ich glaube, dass Ihr Vater sich erh�ngt hat, vielleicht von einem der Deckenbalken in der Druckerei. Er hat sich auf den Stuhl gestellt und ihn dann weggetreten. Sie beide haben heute Morgen die Leiche gefunden. Sie haben ihn hierhergeschleift und den Stuhl wieder aufgestellt, ohne zu bemerken, dass er besch�digt war. Einer von Ihnen oder vielleicht auch Sie beide haben ihm die Kehle durchgeschnitten in dem Bem�hen, die Ab�sch�rfungen durch die Schlinge zu vertuschen. Das B�ro haben Sie dann so hergerichtet, als sei eingebrochen worden.�
Die beiden waren vielversprechende Studenten. Der Selbst�mord ihres Vaters konnte ihre akademische Laufbahn beenden und all ihre Aussichten zerst�ren. Selbstmord, versuchter Selbst�mord, Depressionen, selbst eine Andeutung dar�ber, dass man nicht mehr leben wollte - all das wurde als Verunglimpfung des Staates interpretiert. Selbstmord hatte ebenso wenig wie Mord einen Platz in der Entwicklung zu einer besseren Gesellschaft.
Die S�hne wogen offensichtlich ab, ob es oder ob es nicht m�glich war, die Beschuldigung abzustreiten.
Leo sprach leiser weiter. �Eine Autopsie wird erweisen, dass seine Wirbels�ule gebrochen ist. Ich muss seinen Selbstmord ebenso rigoros verfolgen, wie ich den Mord an ihm verfolgen w�rde. Woran ich interessiert bin, ist der Grund f�r den Selbst�mord, nicht Ihr verst�ndlicher Wunsch, ihn zu vertuschen.�
Der j�ngere Sohn, Awksenti, machte zum ersten Mal den Mund auf und antwortete. �Ich habe ihm die Kehle durchge�schnitten.�
Der junge Mann fuhr fort. �Ich habe seinen K�rper vom Strick genommen. Da ist mir klar geworden, was er f�r unser Leben angerichtet hat.�
�Haben Sie irgendeine Ahnung, warum er sich umgebracht hat?�
�Er hat getrunken. Er hat unter seiner Arbeit gelitten.�
Sie sagten die Wahrheit, doch es war nicht die ganze Wahr�heit, ob nun aus Ahnungslosigkeit oder Berechnung. Leo f�hlte ihnen weiter auf den Zahn. �Ein f�nfundf�nfzigj�hriger Mann bringt sich nicht um, weil seine Leser Druckerschw�rze an den Fingern haben. Ihr Vater hat schon viel Schlimmeres �berlebt.�
Der �ltere wurde w�tend. �Vier Jahre habe ich daf�r studiert, Arzt zu werden. Alles umsonst, kein Krankenhaus nimmt mich jetzt mehr.�
Leo f�hrte sie aus dem B�ro hinunter in die Druckerei, weg vom Anblick der Leiche ihres Vaters.
�Sie haben sich erst morgens Gedanken gemacht, als Ihr Vater noch nicht nach Hause gekommen war. Sie haben also damit gerechnet, dass er lange arbeiten w�rde, sonst w�ren Sie ja gestern Abend schon besorgt gewesen. Wenn das aber der Fall war, warum gibt es keine gesetzten Seiten, die gedruckt werden sollten? Hier sind vier Linotype-Setzmaschinen. Aber es wurde keine einzige Seite gesetzt. Nichts deutet darauf hin, dass hier gearbeitet wurde.�
Sie traten an die riesigen Maschinen heran. Vorne befand sich eine Setzmaschine, die an eine Schreibmaschine erinnerte. Leo wandte sich wieder an die S�hne.
�Sie k�nnten im Augenblick gut einen Freund gebrauchen. Einfach ignorieren kann ich den Selbstmord Ihres Vaters nicht. Ich kann aber meine Vorgesetzten bitten, daf�r zu sorgen, dass seine Tat nicht Ihre Laufbahn behindert. Die Zeiten haben sich ge�ndert. Die Fehler Ihres Vaters m�ssen nicht unbedingt auf Sie zur�ckfallen. Aber meine Hilfe m�ssen Sie sich erst verdie�nen. Erz�hlen Sie mir, was passiert ist. Woran arbeitete Ihr Vater gerade?�
Der J�ngere zuckte die Achseln. �Irgendein staatliches Do�kument. Wir haben es nicht gelesen. Wir haben alle gesetzten Seiten vernichtet. Er war noch nicht fertig. Wir dachten, dass er vielleicht verzweifelt war, weil er schon wieder so ein schlecht produziertes Amtsblatt drucken musste. Die Vorlage haben wir verbrannt und den Zeilensatz eingeschmolzen. Es ist nichts mehr da. Das ist die Wahrheit.�
Leo gab sich noch nicht geschlagen. Er deutete auf die Setz�maschinen. �An welcher Maschine hat er gearbeitet?�
�An der da.�
�Zeigen Sie mir, wie sie funktioniert.�
�Aber wir haben Ihnen doch schon gesagt, dass wir alles ver�nichtet haben.�
�Bitte!�
Awksenti warf seinem Bruder einen verstohlenen Blick zu, offenbar bat er um dessen Zustimmung. Sein Bruder nickte.
�Die Maschine wird bedient wie eine Schreibmaschine. Da hinten f�gt das Ger�t die Matrizen der verschiedenen Lettern zusammen. Jede Zeile entsteht durch das Zusammenf�gen der einzelnen Lettern und den Keilen f�r die Leerzeichen dazwi�schen. Wenn eine Zeile fertig ist, wird sie mit einer Mischung aus geschmolzenem Blei und Zinn ausgegossen, so entsteht ein Block. Die Bl�cke werden dann in einem solchen Druckstock umbrochen, bis man eine ganze Textseite hat. Die wird dann mit mehreren anderen zu einem Bogen zusammengestellt, mit Druckerschw�rze eingewalzt und das Papier dar�bergerollt. Da�mit ist der Text gedruckt. Aber wie gesagt, wir haben alle Seiten eingeschmolzen. Es ist nichts mehr da.�
Leo umrundete die Maschine. Seine Augen folgten dem Ab�lauf des mechanischen Prozesses, dem Aneinanderreihen der Matrizen auf der Zeile.
�Wenn ich tippe, dann werden also die Matrizen auf diesem Gitter hier aneinandergereiht?�, fragte er.
�Genau.�
�Ganze Textzeilen gibt es keine mehr, die haben Sie zerst�rt. Aber auf dem Gitter liegt noch eine halbe Zeile, eine, die nicht fertig gesetzt war.�
Leo deutete auf eine unvollst�ndige Reihe von Matrizen.
�Ihr Vater war mitten in einer Zeile.�
Die S�hne sp�hten in die Maschine hinein. Leo hatte recht. �Ich will diese Worte drucken.�
Der �ltere der beiden fing an, Leerzeichen zu tippen. Er er�kl�rte: �Wenn wir bis zum Ende der Zeile, bis zur festgelegten Spaltenbreite Leerzeichen einf�gen, l�st das automatisch den Gie�vorgang aus.�
Als die Zeile voll war, presste ein Kolben geschmolzenes Me�tall in die Form, und ein schmaler rechteckiger Block fiel heraus. Es waren die letzten Worte, die Suren Moskwin gesetzt hatte, bevor er seinem Leben ein Ende bereitete.
Die gegossene Zeile lag auf der Seite, die Lettern wiesen von ihnen weg.
�Ist es hei�?�, fragte Leo.
�Nein.�
Leo griff sich die Zeile und stellte sie in den Druckstock. Er schw�rzte die Oberfl�che ein und legte ein Blatt wei�es Papier darauf, dann rieb er dar�ber.
Am selben Tag
Leo sa� am K�chentisch und starrte das Blatt Papier an. Nur vier W�rter waren von dem Dokument �brig, dessentwegen Suren Moskwin sich das Leben genommen hatte.
Unter Folter wurde Eikhe
Immer und immer wieder hatte Leo die W�rter gelesen, ohne die Augen abwenden zu k�nnen. Ohne jeden Zusammenhang wirkten sie geradezu hypnotisch. Leo durchbrach den Bann und schob das Blatt beiseite, dann nahm er seine Mappe und legte sie auf den Tisch. Darinnen befanden sich zwei geheime Doku�mente. Um Einsicht in sie zu erhalten, hatte er eine Erlaubnis einholen m�ssen. An das erste, die Akte von Suren Moskwin, war er ohne Schwierigkeiten gekommen. Bei dem zweiten aller�dings hatte es Fragen gegeben. Die zweite Akte, die er angefor�dert hatte, war �ber Robert Eikhe.
Als er den ersten Ordner aufbl�tterte, sp�rte er die Last der Vergangenheit dieses Mannes an der Anzahl der Seiten, die man �ber ihn angelegt hatte. Moskwin war ein Beamter der Staatssi�cherheit gewesen, ein Tschekist genau wie Leo. Er war viel l�nger dabei gewesen als Leo und hatte seinen Posten immer behalten, w�hrend Tausende anderer Beamter erschossen worden waren. Der Akte beigef�gt hatte man eine Liste: Es waren die Namen derer, die Moskwin im Verlauf seiner Karriere denunziert hatte.
Nestor Jurowski, Nachbar.
Exekutiert Rosalia Reisner, Freundin.
Zehn Jahre Jakow Blok, Ladenbesitzer.
F�nf Jahre Karl Urizky, Kollege.
W�rter. Zehn Jahre
Neunzehn Jahre im Dienst, zwei Seiten von Denunzierten und an die hundert Namen. Und doch hatte er nur einmal ein Fami�lienmitglied ans Messer geliefert.
Jona Radek. Cousin. Exekutiert
Leo erkannte ein System. Die Daten der Denunzierungen wa�ren zuf�llig, mehrere fielen in ein und denselben Monat, dann kam mehrere Monate nichts. Die vermeintlich chaotischen Zeitspr�nge waren in Wahrheit mit Bedacht gew�hlt und ver�rieten umsichtige Kalkulation. Den Cousin zu denunzieren war mit ziemlicher Sicherheit ein strategischer Schachzug gewesen. Moskwin musste sicherstellen, dass es nicht so aussah, als ma�che seine Loyalit�t zum Staat vor der eigenen Familie Halt. Der Cousin war geopfert worden, um dieser Liste ihre Glaubw�r�digkeit zu verleihen und Moskwin vor der Anschuldigung zu sch�tzen, er habe nur Leute verraten, an denen ihm pers�nlich nichts lag. Der Mann war ein �berlebensk�nstler und so gar kein Kandidat f�r einen Selbstmord.
Als Leo die Daten und Orte von Moskwins diversen T�tig�keiten �berpr�fte, lehnte er sich pl�tzlich �berrascht zur�ck. Moskwin war ja sogar ein Kollege von ihm gewesen, alle beide hatten sie vor sieben Jahren in der Lubjanka gearbeitet! Ihre Wege hatten sich allerdings nie gekreuzt, soweit Leo sich erin�nern konnte. Leo war ein Ermittler gewesen, der Verhaftungen durchf�hrte und Verd�chtige beschattete. Moskwin war W�rter gewesen, der Gefangene transportierte und ihren Arrest �ber�wachte. Leo hatte alles Erdenkliche unternommen, um sich von den Verh�rzellen im Keller fernzuhalten, so als h�tte er sich weismachen wollen, dass die Bodendielen ihn von den Dingen abschirmten, die da unten Tag f�r Tag vor sich gingen. Wenn Moskwin aus Schuldgef�hlen Selbstmord begangen hatte, was hatte die dann nach all der langen Zeit so extrem hervorgeru�fen? Leo klappte die Akte zu und wandte seine Aufmerksamkeit dem zweiten Dokument zu.
Robert Eikhes Akte war dicker und schwerer, und auf den Umschlag hatte man GEHEIM gestempelt. Der Stapel war verschn�rt, so als habe man etwas Giftiges darin festhalten wollen. Nerv�s wickelte Leo die Schnur ab. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor. Beim �berfliegen der Seiten sah er, dass Eikhe seit 1905 Parteimitglied gewesen war, also noch vor der Revolution und zu einer Zeit, als die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei unweigerlich Exil oder Exekution bedeutet hatte. Seine Akte war makellos, er war sogar Kandidat f�rs Zentralkomitee des Politb�ros gewesen. Trotzdem hatte man ihn am 29. April 1938 verhaftet. Ganz offensichtlich war dieser Mann kein Verr�ter. Dennoch hatte Eikhe gestanden. Das Protokoll befand sich in den Akten, Seite um Seite wurden seine antisowjetischen Aktivit�ten ausgebreitet. Leo hatte selbst zu viele vorgefertigte Gest�ndnisse entworfen, um hier nicht die Hand eines Agenten am Werke zu sehen. Alles gespickt mit den �blichen Phrasen im �blichen Stil seiner fr�heren Arbeitgeber, ein Versatzst�ck, das man jeden Beliebigen zu unterzeichnen h�tte zwingen k�nnen. Als er weiter vorbl�tterte, entdeckte Leo die Unschuldserkl�rung, die Eikhe w�hrend seiner Gefangen�schaft geschrieben hatte. Im Unterschied zu seinem Gest�ndnis wirkten die Formulierungen hier menschlich und verzweifelt. In erbarmungsw�rdiger Weise �berh�uften sie die Partei mit Lobpreisungen, beschworen die Liebe zum Staat und erw�hnten nur mit �ngstlicher Zur�ckhaltung die Ungerechtigkeit seiner Verhaftung. Beim Lesen verschlug es Leo den Atem.
Unf�hig, die Folter zu ertragen, der mich Uschakow und Nikolajew unterzogen - besonders Ersterer, der wusste, dass meine gebrochenen Kippen nicht richtig verheilt wa�ren, und mir gro�e Schmerzen zuf�gte - sah ich mich ge�zwungen, mich selbst und andere zu bezichtigen.
Leo wusste, was als N�chstes kam. Am 4. Februar 1940 war Eikhe erschossen worden.
* * *
Raisa blieb stehen und betrachtete ihren Mann. Er war ganz in seine vertraulichen Dokumente versunken und nahm ihre Anwesenheit gar nicht wahr. Dieses Bild von Leo, wie er blass, angespannt und mit gekr�mmten Schultern �ber irgendwelchen geheimen Akten hockte und das Schicksal anderer Menschen in den H�nden hielt, h�tte original aus ihrer ungl�cklichen ge�meinsamen Vergangenheit stammen k�nnen. Die Versuchung war gro�, so zu reagieren wie schon viele Male zuvor, wegzuge�hen und ihn zu ignorieren. Eine Woge schlimmer Erinnerungen kam �ber sie wie ein �belkeitsanfall. Aber sie k�mpfte gegen das Gef�hl an. Dieser Mann war Leo nicht mehr. Und sie war auch nicht mehr in dieser Ehe mit ihm gefangen. Raisa trat vor, streckte den Arm aus und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Stand zu ihm, dem Mann, den sie gelernt hatte zu lieben.
Bei der Ber�hrung fuhr Leo zusammen. Er hatte nicht be�merkt, dass seine Frau den Raum betreten hatte. Hastig stand er auf, sodass der Stuhl hinter ihm umfiel. Jetzt, Auge in Auge, sah er ihre Nervosit�t. Er hatte nie gewollt, dass sie sich noch einmal so f�hlen sollte. Er h�tte ihr erkl�ren sollen, was er tat. Stattdessen war er in alte Gewohnheiten zur�ckgefallen, das Schweigen und die Heimlichtuerei. Er legte einen Arm um sie. Als sie ihren Kopf an seine Schulter legte, wusste er, dass sie auf die Dokumente schielte. Er erkl�rte es ihr. �Ein Mann hat sich umgebracht. Ein ehemaliger Agent des mgb.�
�Jemand, den du kanntest?�
�Soweit ich mich erinnere, nicht.�
�Musst du der Sache nachgehen?�
�Selbstmord wird behandelt wie ...�
Sie unterbrach ihn. �Ich meine, musst ausgerechnet du der Sache nachgehen?�
Raisa wollte, dass er den Fall abgab und nichts mehr mit dem mgb zu tun hatte, noch nicht einmal indirekt. Er l�ste sich aus der Umarmung. �Der Fall wird nicht lange dauern.�
Sie nickte z�gerlich, dann wechselte sie das Thema. �Die M�dchen sind im Bett. Liest du ihnen noch was vor? Vielleicht hast du ja auch keine Zeit.�
�Doch, die Zeit habe ich.�
Er schob die Dokumente zur�ck in ihre Ordner. Im Vorbei�gehen beugte er sich vor, um seine Frau zu k�ssen, doch sie wehrte sanft mit dem Finger ab und sah ihm in die Augen. Sie sagte nichts. Dann erst nahm sie ihren Finger weg und k�sste ihn - ein Kuss, der ihm vorkam, als nehme sie ihm unverbr�ch�lichste Versprechen ab.
Als er ihr Schlafzimmer betrat, wollte er die Akten verstecken, eine alte Gewohnheit. Dann besann er sich eines Besseren und lie� sie f�r Raisa auf dem Beistelltisch liegen, f�r den Fall, dass sie sie lesen wollte. Danach eilte er durch den Flur zur�ck ins Zimmer seiner T�chter und versuchte dabei, die Anspannung aus seinem Gesicht zu verbannen. Mit einem breiten L�cheln �ffnete er die T�r.
Leo und Raisa hatten zwei kleine Schwestern adoptiert. Soja war mittlerweile vierzehn und Elena sieben. Leo trat an Elenas Bett, hockte sich auf die Ecke und holte ein Buch aus dem Regal, eine Kindergeschichte von Juri Strugazky. Er schlug es auf und fing an, laut vorzulesen.
Beinahe sofort unterbrach Soja ihn. �Die kennen wir schon.�
Sie z�gerte einen Moment, doch dann f�gte sie hinzu: �Und wir fanden sie schon beim ersten Mal bl�d.�
Die Geschichte ging �ber einen Jungen, der Bergmann werden wollte. Der Vater des Jungen, ebenfalls ein Bergmann, war bei ei�nem Unfall umgekommen, und die Mutter des Jungen hatte nun Angst, dass auch ihr Sohn diesen gef�hrlichen Beruf ergreifen wollte. Soja hatte recht, Leo hatte die Geschichte schon einmal vorgelesen. Ver�chtlich fasste sie den Inhalt zusammen. �Der Sohn gr�bt am Ende mehr Kohle als je ein Mensch zuvor, wird ein Volksheld und widmet den Preis seinem Vater.�
Leo klappte das Buch zu. �Du hast recht. Nur eins, Soja. Zu Hause kannst du immer alles sagen, was du willst, aber drau��en sei bitte vorsichtiger. Es ist gef�hrlich, kritische Meinungen zu �u�ern, selbst bei so etwas Harmlosem wie einer Kinder�geschichte.�
�Willst du mich etwa verhaften?�
Soja hatte Leo nie als ihren Vormund akzeptiert. Ebenso we�nig hatte sie ihm je den Tod ihrer Eltern vergeben. Leo bezeich�nete sich nicht als Vater der beiden, und Soja nannte ihn h�chst formell Leo Demidow, sie verhielt sich so distanziert, wie es nur ging. Keine Gelegenheit lie� sie aus, ihn daran zu erinnern, dass sie nur aus praktischen Erw�gungen bei ihm lebte und ihn als Mittel zum Zweck betrachtete. Er bot ihrer kleinen Schwester materielle Annehmlichkeiten und ersparte ihr das Waisenhaus. Trotzdem achtete Soja peinlich darauf, sich von nichts beein�drucken zu lassen, nicht von der Wohnung, nicht von Ausfl�gen oder Landpartien und auch nicht von den guten Mahlzeiten. Sie war sch�n, aber streng, wirkte beinahe hart. Immerw�hrende K�mmernis schien ihr ein gro�es Bed�rfnis zu sein. Es gab nur wenig, was Leo tun konnte, damit sie davon loskam. Er hoffte, dass ihr Verh�ltnis sich irgendwann einmal langsam bessern w�rde. Wenn es n�tig war, w�rde er bis in alle Ewigkeit darauf warten.
�Nein, Soja, solche Sachen mache ich nicht mehr. Und ich werde sie auch nie mehr machen.�
Leo griff ins Regal und holte eines von den Detskaja Literatura-Magazinen heraus, die f�r Kinder im ganzen Land gedruckt wurden. Bevor er anfangen konnte, unterbrach ihn Soja. �Wa�rum denkst du dir nicht eine Geschichte aus? Das w�rde uns gefallen, nicht wahr, Elena?�
Als Elena in Moskau angekommen war, war sie noch sehr jung gewesen, erst vier Jahre alt. Jung genug also, um sich an die Ver�nderungen in ihrem Leben zu gew�hnen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie Freundinnen gefunden und lernte in der Schule flei�ig. Da sie f�r Schmeicheleien empf�nglich war, strebte sie nach dem Lob ihrer Lehrer und wollte es allen recht machen, auch ihren neuen Pflegeeltern.
Elena wurde unruhig. Am Ton in der Stimme ihrer Schwester erkannte sie, dass Soja ihre Zustimmung erwartete. Verlegen, weil sie sich jetzt auf eine Seite schlagen sollte, nickte sie nur. Leo sp�rte die Gefahr und antwortete: �Es gibt noch so viele Geschichten, die wir nicht gelesen haben. Ich finde sicher eine, die uns gef�llt.�
Soja gab nicht nach. �Die sind doch alle gleich. Erz�hl uns mal was Neues. Denk dir was aus.�
�Ich f�rchte, darin bin ich nicht so gut.�
�Du willst es nicht mal versuchen? Mein Vater hat sich alle m�glichen Geschichten ausgedacht. Lass sie auf einem entle�genen Bauernhof spielen, einem Bauernhof im Winter, alles ist tief verschneit. Der Fluss in der N�he ist zugefroren. Und sie k�nnte so anfangen: Es waren einmal zwei kleine M�dchen, sie waren Schwestern ...�
�Bitte, Soja.�
�Die Schwestern lebten bei ihrer Mutter und ihrem Vater und waren die gl�cklichsten Kinder der Welt. Aber da erschien eines Tages ein Mann, der hatte eine Uniform an und war gekommen, um sie zu verhaften. Und ...�
Leo unterbrach sie: �Soja, bitte.�
Soja sah verstohlen zu ihrer Schwester und verstummte. Elena weinte.
Leo stand auf. �Ihr seid beide m�de. Morgen besorge ich euch ein paar bessere B�cher. Ich verspreche es.�
Er schaltete das Licht aus und schloss die T�r. Im Flur tr�stete er sich damit, dass es irgendwann einmal besser werden w�rde. Alles, was Soja brauchte, war ein bisschen Zeit.
Soja lag im Bett und h�rte zu, wie ihre Schwester schlief, lauschte auf das gleichm��ige, leise Atmen. Damals mit ihren Eltern auf dem Bauernhof hatten sie sich zu viert ein kleines Zimmer mit dicken Lehmw�nden geteilt, das von einem Holz�feuer gew�rmt wurde. Soja hatte neben ihrer Schwester unter groben, handgesteppten Decken geschlafen. Das Ger�usch, wenn ihre Schwester schlief, bedeutete Sicherheit. Es bedeutete, dass ihre Eltern auch da waren. Hier geh�rte es nicht hin, hier in diese Wohnung, wo Leo gleich nebenan war.
Soja konnte nie gut einschlafen. Stundenlang lag sie im Bett und w�lzte Gedanken, bevor endlich die Ersch�pfung sie �berkam. Sie war die Einzige, der die Wahrheit heilig war, die Einzige, die sich weigerte zu vergessen. Leise glitt sie aus dem Bett. Abgesehen vom Atmen ihrer Schwester war es still in der Wohnung. Soja kroch zur T�r, ihre Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gew�hnt. Mit einer Hand an der Wand tastete sie sich durch den Flur. In der K�che fiel Licht von der Stra�e durchs Fenster. Wie ein Dieb huschte Soja hinein, �ffnete eine Schublade und tastete nach dem Griff. Schwer lag das Messer in ihrer Hand.
Am selben Tag
Soja presste die Klinge flach gegen ihr Bein und n�herte sich Leos Schlafzimmer. Langsam schob sie die T�r auf, bis der Spalt gro� genug war, dass sie hindurchhuschen konnte. Ger�uschlos schlich sie �ber den Holzboden. Die Vorh�nge waren zugezo�gen, und das Zimmer lag im Dunkeln, aber sie kannte sich aus und wusste, wie sie leise zu Leo gelangte, der am jenseitigen Ende schlief.
Als sie direkt �ber ihm stand, hob Soja das Messer. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, stellte sie sich in Gedanken die Um�risse seines K�rpers vor. In den Bauch w�rde sie nicht stechen, da k�nnte die Decke die Klinge abhalten. Sie w�rde in den Hals sto�en und das Messer so tief darin versenken, wie es nur ging, bevor er sie �berw�ltigen konnte. Mit perfekter K�rperbeherr�schung lie� sie das Messer sinken. Durch die Klinge sp�rte sie erst seinen Arm, dann seine Schulter - sie lenkte das Messer weiter nach oben, lie� es dabei immer wieder vorsichtig weiter sinken, bis die Spitze seine Haut ber�hrte. Jetzt war sie genau an der richtigen Stelle. Nur noch den Griff mit beiden H�nden umklammern und fest zusto�en.
In unregelm��igen Abst�nden wiederholte Soja dieses Ritu�al, manchmal einmal pro Woche, manchmal auch einen ganzen Monat lang nicht. Das erste Mal war vor drei Jahren gewesen, kurz nachdem ihre Schwester und sie aus dem Waisenhaus in diese Wohnung gezogen waren. Damals war sie wild entschlos�sen gewesen, Leo umzubringen. An ebendiesem Tag war er mit ihnen in den Zoo gegangen. Weder sie noch Elena hatten je einen Zoo gesehen, und beim Anblick der exotischen Tiere, Kreaturen, die sie nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, hatte sie sich f�r einen Moment vergessen. F�nf oder zehn Minuten, aber be�stimmt nicht l�nger, hatte der Zoobesuch ihr Spa� gemacht. Sie hatte gel�chelt. Er hatte es zwar nicht mitbekommen, da war sie sich sicher, aber das �nderte nichts. Als sie ihn mit Raisa gesehen hatte, ein gl�ckliches Paar, das Familie spielte, heuchelte und log, da war ihr klar geworden, dass sie versuchten, sich den Platz ihrer Eltern zu ergaunern. Und sie hatte es zugelassen. In der Stra�enbahn auf dem Weg nach Hause hatte sie sich so schuldig gef�hlt, dass sie sich �bergeben musste. Leo und Raisa hatten es auf die S��igkeiten und das Ruckeln der Trambahn gescho�ben. In jener Nacht hatte sie, vom Fieber gesch�ttelt, in ihrem Bett gelegen und geweint und sich die Beine blutig gekratzt. Wie hatte sie nur das Andenken ihrer Eltern so leichtfertig verraten k�nnen? Leo glaubte wohl, dass er mit neuen Kleidern, leckerem Essen, Ausfl�gen und Schokolade ihre Liebe erringen konnte - widerlich! Sie hatte sich geschworen, dass ihr so ein Fehler nie wieder passieren w�rde. Und es gab nur eine Methode, um ganz sicher zu sein. Da hatte sie das Messer genommen, fest entschlossen, ihn zu t�ten. Sie hatte genauso dagestanden wie jetzt, zum Mord bereit.
Dieselbe Erinnerung aber, die sie in das Zimmer getrieben hatte, die Erinnerung an ihre Eltern, war auch der Grund, warum sie Leo dann doch nicht umgebracht hatte. Sie h�tten nicht gewollt, dass das Blut dieses Mannes an ihren H�nden klebte. Sie h�tten gewollt, dass sie sich um ihre kleine Schwester k�mmerte. Also lie� sie Leo gehorsam und heimlich weinend am Leben. Immer wieder kehrte sie zur�ck und schlich sich mit einem Messer ins Schlafzimmer, aber nicht, weil sie ihre Meinung ge�ndert hatte, nicht aus Rachegedanken, sondern im Angedenken an ihre Eltern. Es war ihre Art zu sagen, dass sie sie nicht vergessen hatte.
Pl�tzlich klingelte das Telefon. Soja fuhr zur�ck, das Messer glitt ihr aus der Hand und schepperte zu Boden. Soja ging auf die Knie und versuchte in der Stockfinsternis verzweifelt, es wiederzufinden. Leo und Raisa bewegten sich, das Bett knarrte unter ihnen. Gleich w�rden sie nach dem Lichtschalter greifen. Ganz aufs Tasten angewiesen, klopfte Soja verzweifelt die Dielen ab. Als das Telefon zum zweiten Mal klingelte, blieb ihr nichts anderes �brig, als das Messer zur�ckzulassen, um das Bett zu huschen und zur T�r zu eilen. In dem Moment, als das Licht anging, schl�pfte sie durch den Spalt.
* * *
Schlaftrunken setzte Leo sich auf, immer noch zwischen Traum und Wachen. Da hatte sich doch etwas bewegt, eine Gestalt. Oder doch nicht? Das Telefon klingelte. Grunds�tzlich klingelte es nur wegen der Arbeit. Leo sah auf die Uhr: fast Mitternacht. Er warf einen Blick auf Raisa. Sie war wach und wartete darauf, dass er dranging. Er murmelte eine Entschuldigung und stand auf. Die T�r stand offen. Die machten sie doch immer zu, bevor sie schlafen gingen. Vielleicht auch nicht, spielte ja auch keine Rolle. Er trat in den Flur.
Leo nahm den H�rer ab. Die Stimme am anderen Ende klang dringlich und laut.
�Ich bin's, Leo. Nikolai.�
Nikolai. Der Name sagte ihm nichts. Leo gab keine Antwort. Der Mann interpretierte sein Schweigen richtig und fuhr fort: �Nikolai, dein fr�herer Chef! Dein Freund! Ich habe dir damals deinen ersten Auftrag gegeben. Der Priester, wei�t du noch?�
Leo wusste noch. Von Nikolai hatte er schon lange nichts mehr geh�rt. Der Mann hatte in seinem jetzigen Leben nichts mehr zu suchen, und es passte ihm gar nicht, dass er anrief. �Nikolai, es ist schon sp�t.�
�Sp�t? Was ist denn mit dir los? Fr�her haben wir um diese Zeit erst angefangen zu arbeiten.�
�Jetzt nicht mehr.�
�Nein, jetzt nicht mehr.� Nikolais Stimme verlor sich, doch dann fuhr er laut fort: �Ich brauche dich sofort.� Er lallte. Er war betrunken.
�Nikolai, warum schl�fst du dich nicht erst mal aus und wir reden morgen?�
�Es muss unbedingt noch heute Abend sein!� Seine Stimme brach. Er h�rte sich an, als ob er gleich losheulen w�rde.
�Was ist denn los?�
�Triff dich mit mir. Bitte!�
Leo wollte Nein sagen. �Wo?�
�In deinem B�ro.�
�Ich bin in einer halben Stunde da.�
Leo h�ngte ein. Unter seine Ver�rgerung mischte sich Unbe�hagen. Nikolai h�tte ihn nicht ohne Grund kontaktiert. Als er ins Schlafzimmer zur�ckkehrte, hatte Raisa sich aufgesetzt.
Achselzuckend erstattete Leo Bericht. �Ein ehemaliger Kol�lege. Er will, dass wir uns treffen. Sagt, es muss unbedingt noch heute Abend sein.�
�Ein Kollege? Von wann? Von damals?�
�Ja.�
�Und der ruft dich einfach so mir nichts, dir nichts an?�
�Er war betrunken. Ich werde mit ihm reden.�
�Leo ...?� Sie beendete den Satz nicht.
Leo nickte. �Mir hat es auch nicht gefallen.�
Er schnappte sich seine Kleider, zog sich rasch an und war praktisch schon ausgehfertig. Als er sich die Schn�rsenkel zu�band, sah er etwas Reflektierendes unter dem Bett. Seltsam. Er beugte sich vor und hockte sich hin.
�Was ist los?�, fragte Raisa.
Es war ein gro�es K�chenmesser. Direkt daneben war eine Kerbe im Boden. �Leo?�
Eigentlich sollte er es ihr zeigen. �Es ist nichts.�
Als sich Raisa vorbeugte, um nachzuschauen, verbarg er das Messer hinter seinem R�cken und schaltete das Licht aus.
Im Flur legte er die Schneide flach in seine Hand. Er �ugte zum Schlafzimmer seiner T�chter hin�ber. Dann trat er zur T�r und schob sie auf. Das Zimmer war dunkel. Beide M�dchen waren im Bett und schliefen. Leo trat zur�ck und l�chelte, als er den leichten Atem der schlafenden Elena ausmachte. Dann blieb er stehen und h�rte genauer hin. Aus Sojas Zimmerecke kam kein Laut. Sie hielt die Luft an.
14. M�rz
Leo fuhr zu schnell und kam in einer Kurve ins Schleudern, die R�der rutschten �ber das Glatteis. Er ging vom Gas und brachte den Wagen wieder auf die Fahrbahn zur�ck. Sein R�cken war schwei�nass, und er war heilfroh, als er endlich das B�ro des Morddezernats erreicht hatte. Er parkte am Stra�enrand und legte den Kopf aufs Steuer. Im kalten, unbeheizten Wageninnern erzeugte sein Atem einen feinen Nebel. Es war ein Uhr morgens. Die Stra�en waren verlassen und mit Schneematsch bedeckt. Leo fing an zu fr�steln, er hatte weder Handschuhe noch eine M�tze mitgenommen, als er aus der Wohnung geeilt war. Nur raus, nur weg von der Frage, warum die Schlafzimmert�r of�fen gestanden hatte, warum seine Tochter so getan hatte, als schliefe sie, und warum unter seinem Bett ein Messer gelegen hatte.
Bestimmt gab es daf�r eine Erkl�rung, eine simple, ganz ba�nale Erkl�rung. Vielleicht hatte er die T�r offen stehen lassen. Vielleicht war seine Frau zur Toilette gegangen und hatte danach vergessen, die T�r wieder zuzumachen. Und dass Soja nur vor�get�uscht hatte zu schlafen - da hatte er sich bestimmt verh�rt. Aber warum h�tte sie eigentlich schlafen sollen? War doch lo�gisch, dass sie wach war. Das Telefon hatte sie geweckt, und sie hatte im Bett gelegen und versucht, wieder einzuschlafen, mit Recht sauer. Und was das Messer betraf ... keine Ahnung, er konnte sich auch gerade nicht darauf konzentrieren. Aber daf�r gab es bestimmt einen harmlosen Grund, auch wenn ihm gerade nicht einfiel, was f�r einen.
Leo stieg aus dem Wagen, schloss die Fahrert�r und ging zu seinem B�ro. Es lag s�dlich des Flusses, im Stadtteil Samoskworetschje, einem Viertel mit vielen Fabriken. Seinem Morddezer�nat war eine Etage �ber einer riesengro�en B�ckerei zugewiesen worden. Das war gleicherma�en eine Herabsetzung wie eine Erinnerung daran, dass die Arbeit des Dezernats unsichtbar zu bleiben hatte. Das B�ro lief unter der Adresse Knopffabrik 14, und Leo fragte sich immer wieder, was wohl in den anderen dreizehn Knopffabriken so vor sich ging.
W�hrend er den heruntergekommenen Eingangsbereich be�trat, dessen Fu�boden ein einziges Gewirr von bemehlten Fu߭abdr�cken war, lie� er die Ereignisse des Abends in seinem Kopf noch einmal Revue passieren. F�r zwei der drei Vorkommnisse hatte er eine einleuchtende Erkl�rung gefunden, aber an dem dritten, dem Messer, lie� sich einfach nichts deuteln. Die Sache w�rde bis zum Morgen warten m�ssen, dann konnte er mit Rai�sa dar�ber sprechen. Im Moment war Nikolais unerwarteter Anruf dringlicher. Leo musste sich darauf konzentrieren, warum ihn ein Mann, den er seit sechs Jahren nicht gesprochen hatte, mitten in der Nacht besoffen anrief und sich unbedingt mit ihm treffen wollte. Sie beide verband eigentlich gar nichts, weder Verpflichtung noch Freundschaft. Nichts au�er diesem einen Jahr, 1949, Leos erstem als MGB-Agent.
Nikolai erwartete ihn oben an der Treppe, wie ein Penner kauerte er im T�reingang. Als er Leo kommen sah, stand er auf. Sein Wintermantel war von einem guten Schneider, vielleicht sogar von einem ausl�ndischen, mittlerweile aber vernachl�ssigt und abgetragen. Das Hemd war hochgerutscht, seine Wampe quoll hervor. Nikolai war dicker und kahler geworden. Er sah alt und m�de aus, das Gesicht von Sorgen zerfurcht, die Augen zusammengekniffen. Dass er nach Rauch, Schwei� und Schnaps stank, war trotz des allgegenw�rtigen Back- und Teiggeruchs unangenehm deutlich zu riechen. Leo reichte ihm die Hand. Nikolai schob sie weg und warf stattdessen die Arme um ihn, als sei er gerade von einem Berggipfel gerettet worden. In seiner Umklammerung lag etwas Erbarmungsw�rdiges. Und das von einem Mann, dessen Erbarmungslosigkeit fr�her legend�r ge�wesen war.
Pl�tzlich fiel Leo die Kerbe in der Holzdiele wieder ein. Wa�rum hatte er die eigentlich vergessen? Weil sie unwichtig war, deshalb! Die konnte von wer wei� was stammen. Vielleicht war sie schon l�nger da, so etwas fiel einem ja nicht unbedingt auf, irgendein Kratzer vom M�belr�cken. Doch die Kerbe war frisch gewesen, und wenn Leo ehrlich war, wusste er, dass das Messer und die Kerbe etwas miteinander zu tun hatten.
Nikolai hatte angefangen zu sprechen, er lallte. Leo achtete kaum auf seine Worte, nickte nur hin und wieder, w�hrend er die T�r zum Dezernat aufschloss und seinen Gast in sein B�ro f�hrte.
Als sie einander gegen�bersa�en, presste Leo die H�nde an�einander und stemmte die Ellbogen auf den Schreibtisch. Er re�gistrierte zwar, dass Nikolai sprach, h�rte aber gar nicht richtig zu, weil seine Gedanken immer wieder abschweiften. Hier und da bekam er etwas mit. Jemand schickte Nikolai Fotos.
�Leo, das sind Fotos von denen, die ich damals verhaftet habe!�
Aber f�r das Geschwafel des anderen war in Leos Kopf kein Platz. Eine einzige, entsetzliche Erkenntnis machte sich gerade in ihm breit und lie� keinem anderen Gedanken Raum. Das Messer war fallen gelassen worden und hatte sich mit der Spitze kurz in den Boden gebohrt, bevor es unters Bett geschlittert war. Und zwar war es, von wem auch immer, aus Panik fallen gelas�sen worden, aus Schreck �ber ein pl�tzliches Ger�usch - einen unerwarteten Telefonanruf. Die betreffende Person war aus dem Zimmer geflohen und hatte die T�r offen gelassen, weil sie sie in der Eile nicht mehr hatte schlie�en k�nnen.
SIE
Selbst jetzt noch, wo er alle Puzzleteile zusammengelegt hatte, fiel es ihm schwer, die einzige logische Erkl�rung gelten zu las�sen; dass die mit dem Messer Soja gewesen war.
Er sprang hoch, ging zum Fenster und riss es auf. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Er wusste nicht, wie lange er so da gestan�den und in den n�chtlichen Himmel hinausgestarrt hatte, als er pl�tzlich hinter sich einen Laut vernahm und ihm wieder einfiel, dass er ja nicht allein war. Er wandte sich um und wollte sich gerade entschuldigen, schluckte den Satz aber hinunter. Nikolai, der Mann, der ihm beigebracht hatte, dass Grausamkeit eine Notwendigkeit, etwas Gutes war, heulte.
�Du hast mir nicht mal zugeh�rt, Leo!�
Mit tr�nen�berstr�mten Wangen fing Nikolai auf einmal an zu lachen, was Leo unwillk�rlich an ihre gemeinsamen Trink�gelage nach den Verhaftungen erinnerte. Aber heute Abend klang Nikolais Lachen anders. T�nern. Die ganze �berhebliche Prahlerei war weg. �Du willst alles vergessen. Stimmt's, Leo? Kann ich dir nicht verdenken. Ich w�rde wer wei� was geben, wenn ich das alles vergessen k�nnte. Was f�r eine wunderbare Vorstellung ...�
�Tut mir leid, Nikolai, aber ich habe etwas anderes im Kopf. Eine Familienangelegenheit.�
�Dann hast du meinen Rat also befolgt ... eine Familie, das ist gut. Die Familie ist das Wichtigste. Was w�re ein Mann ohne die Liebe seiner Familie?�
�K�nnen wir morgen weiterreden? Wenn wir ausgeruhter sind?�
Nickend stand Nikolai auf. An der T�r blieb er noch einmal stehen und blickte zu Boden. �Ich ... sch�me mich.�
�Mach dir deswegen keine Gedanken. Jeder trinkt doch schon mal zu viel. Wir reden morgen weiter.�
Nikolai starrte ihn an. Leo erwartete, dass er wieder loslachen w�rde, aber diesmal drehte Nikolai sich um und lief zur Treppe.
Leo war froh, endlich allein zu sein und nachdenken zu k�n�nen. Es hatte keinen Zweck, sich l�nger etwas vorzumachen. Er war f�r Soja die allgegenw�rtige Erinnerung an ihren ent�setzlichen Verlust. Er hatte nie mit ihr dar�ber gesprochen, was an jenem Tag geschehen war. Das Messer war ein Schrei nach Hilfe. Wenn er seine Familie retten wollte, musste er etwas tun. Er konnte die Sache ins Lot bringen. Mit Soja reden, das war die L�sung. Er musste sofort mit ihr reden.
Am selben Tag
Nikolai trat nach drau�en, seine Stiefel dr�ckten sich in die d�nne Schneedecke. Es fr�stelte ihn am Bauch, und er stopfte sich das Hemd in die Hosen. Er konnte kaum klar sehen und schwankte wie an Deck eines Bootes. Warum hatte er Leo ei�gentlich angerufen? Was hatte er sich denn von seinem ehe�maligen Sch�tzling erhofft? Vielleicht hatte er einfach nur ein wenig Gesellschaft gesucht und nicht nur die Gesellschaft eines anderen Betrunkenen. Er war gekommen, um mit einem Men�schen zusammen zu sein, der die gleiche Scham versp�rte wie er - einem, der ihn nicht verurteilen konnte, ohne sich gleichzei�tig mitzuverurteilen.
ich sch�me mich.
Leo h�tte diese Worte besser als jeder andere verstehen m�ssen. Die geteilte Scham h�tte sie einander nahebringen und zu Br��dern machen sollen. Leo h�tte ihn umarmen und sagen sollen: Ich auch. Hatte er die eigene Vergangenheit so leicht vergessen? Nein, sie beide gingen nur unterschiedlich damit um. Leo hatte eine neue, ehrbare Laufbahn eingeschlagen und seine blutver�schmierten H�nde in warmer, sauberer Achtbarkeit gewaschen. Nikolais Methode war gewesen, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken, nicht aus Lust, sondern um die Erinnerung zu er�tr�nken.
Irgendjemand wollte aber nicht, dass die Erinnerung aufh�r�te. Und schickte ihm Fotos von M�nnern und Frauen vor einer wei�en Wand - zurechtgeschnitten, sodass man nur noch die Gesichter sehen konnte. Erst hatte er die Abgebildeten nicht erkannt, obwohl ihm sofort klar gewesen war, dass es Verhaf�tungsfotos waren, so wie die Gef�ngnisb�rokratie sie verlangte. Die Fotos kamen nacheinander, erst w�chentlich, mittlerweile wurde t�glich ein Umschlag bei ihm zu Hause abgegeben. Beim Durchsehen waren ihm irgendwann wieder die Namen eingefal�len und die Wortwechsel - l�chrige Erinnerungen, eine verwor�rene Collage aus der Verhaftung des einen B�rgers, dem Verh�r eines anderen und der Exekution eines dritten. Als immer mehr Fotos ankamen und er irgendwann den ganzen Haufen in der Hand hielt, hatte er sich gefragt, ob er wirklich so viele Men�schen verhaftet hatte. Dabei wusste er, dass es in Wahrheit noch viel mehr gewesen waren.
Nikolai h�tte gerne seine Untaten gestanden und um Verge�bung gebeten. Allein, eine Aufforderung, sich zu entschuldigen, kam ebenso wenig wie Anweisungen �ber die Bu�e. Der erste Umschlag hatte seinen Namen getragen. Seine Frau hatte ihn gebracht, und nichtsahnend hatte er ihn vor ihr ge�ffnet. Als sie gefragt hatte, was er enthielt, hatte er gelogen und die Fotogra�fien vor ihr verborgen. Von da an war er gezwungen gewesen, die Briefe heimlich aufzumachen. Auch nach zwanzig Jahren Ehe ahnte Nikolais Frau immer noch nichts von seiner Arbeit. Sie wusste nur, dass er Beamter bei der Geheimpolizei war, sonst aber nicht viel. Vielleicht schaute sie aber auch ganz bewusst nicht genauer hin. Ob aber nun bewusst oder nicht, auf jeden Fall lag ihm viel an ihrer Unwissenheit - alles hing davon ab. Wann immer er in ihre Augen blickte, sah er darin nur bedingungslose Liebe. Wenn sie etwas gewusst h�tte, wenn sie die Gesichter der Leute gesehen h�tte, die er verhaftet hatte, wenn sie dieselben Gesichter dann nach zweit�gigem Verh�r gesehen h�tte, dann h�tte in ihren Augen die Angst gelauert. Das Gleiche galt f�r sei�ne T�chter. Sie lachten und flachsten mit ihm herum. Sie liebten ihn so, wie er sie liebte. Er war ein guter Vater, aufmerksam und geduldig. Nie br�llte er, und zu Hause r�hrte er keinen Tropfen an. Zu Hause war er immer noch ein guter Mensch.
Jemand wollte ihm das wegnehmen. In den letzten beiden Tagen hatte auf den Umschl�gen nicht mehr sein Name gestan�den. Jeder h�tte sie aufmachen k�nnen, seine Frau oder seine T�chter. Mittlerweile hatte Nikolai Angst, aus dem Haus zu gehen, f�r den Fall, dass in seiner Abwesenheit etwas ankam. Er hatte seiner Familie das heilige Versprechen abgenommen, ihm jede Post zu bringen, ob sein Name draufstand oder nicht. Gestern war er ins Zimmer seiner T�chter gekommen und hatte auf dem Nachttisch einen unadressierten Brief gefunden. Zum ersten Mal hatte er sich vergessen und war au�er sich geraten vor Wut. Er hatte die M�dchen angebr�llt, ob sie den Umschlag aufgemacht hatten. Verst�rt �ber seine pl�tzliche Verwandlung hatten sie angefangen zu weinen und ihm versichert, dass sie den Umschlag nur zur sicheren Verwahrung auf den Nachttisch gelegt hatten. Nikolai hatte die Angst in ihren Augen gesehen, und es hatte ihm das Herz gebrochen. In diesem Moment hatte er beschlossen, Leo um Hilfe zu bitten. Der Staat musste diese Verbrecher fassen, die ihm so sinnlos nachstellten. Jahrelang hatte er seinem Land gedient. Er war ein Patriot. Er hatte es sich verdient, in Ruhe gelassen zu werden. Leo konnte ihm helfen, der hatte eine ganze Mannschaft von Ermittlern an der Hand. Schlie�lich war es in ihrem gemeinsamen Interesse, diese Kon�terrevolution�re zu fassen. Wie in den alten Zeiten. Nur hatte Leo gar nichts davon wissen wollen.
Die Fr�hschicht kam bereits in der B�ckerei an. Die Leute blieben stehen und starrten im Eingang auf Nikolai. �Was ist los?�, schnauzte er sie an.
Sie gaben keine Antwort, sondern warteten nur zusammen�gedr�ngt ein paar Meter von ihm entfernt, aus Angst, an ihm vorbeizugehen.
�Brecht ihr etwa den Stab �ber mich?�
Ihre Gesichter waren ausdruckslos. Die Gesichter von M�n�nern und Frauen, die das Brot f�r die Stadt backen wollten. Er musste zusehen, dass er nach Hause kam, an den einzigen Ort, wo man ihn liebte und seine Vergangenheit keine Rolle spielte.
Er wohnte nicht weit weg. W�hrend er durch die verlassenen Stra�en torkelte, hoffte er nur, dass in seiner Abwesenheit kein weiteres P�ckchen mit Fotografien angekommen war. Nikolai blieb stehen, sein Atem ging flach und schwer wie der eines al�ten, kranken Hundes. Aber da war noch etwas, ein Ger�usch. Nikolai wandte sich um und sp�hte hinter sich. Das waren doch Schritte, das harte Tapp Tapp von Abs�tzen auf dem gepflas�terten B�rgersteig. Er wurde verfolgt. Nikolai taumelte in den Schatten hinein und stierte angestrengt nach irgendwelchen Ge�stalten. Sie waren hinter ihm her, seine Feinde stellten ihm nach, jagten ihn so, wie er einst sie gejagt hatte.
Jetzt rannte er, nur noch nach Hause, so schnell es ging. Er geriet ins Stolpern, fing sich wieder, der Mantel schlug ihm um die Fu�kn�chel. Urpl�tzlich blieb er stehen und wirbelte herum. Er w�rde sie schon kriegen, er kannte die Tricks. Es waren seine Tricks. Sie gingen mit seinen eigenen Methoden gegen ihn vor. Nikolai starrte in finstere Ecken und d�stere Nischen, gute Ver�stecke, die er die MGB-Rekruten zu nutzen gelehrt hatte.
�Ich wei�, dass ihr da seid�, rief er laut.
Seine Stimme hallte auf der scheinbar leeren Stra�e wider. Ein Laie h�tte sie wirklich f�r leer gehalten, aber Nikolai kannte sich da aus. Doch seine trotzige Gegenwehr hielt nicht lange an. �Ich habe Kinder. Zwei T�chter, die mich lieben. Die ver�dienen das nicht. Wenn ihr mich verletzt, dann verletzt ihr auch sie.�
Seine Kinder waren noch w�hrend seiner Zeit beim MGB ge�boren worden. Jeden Abend kam er, nachdem er tags�ber V�ter und M�tter, S�hne und T�chter verhaftet hatte, nach Hause und gab seiner Familie vor dem Schlafengehen einen Kuss. �Was ist denn mit all den anderen? Es gibt doch Millionen andere! Wenn ihr uns alle umbringen wolltet, w�re ja gar niemand mehr �brig. Wir haben doch alle mit dringesteckt.�
Leute erschienen an den Fenstern, sein Geschrei hatte sie an�gelockt. Egal auf welches Geb�ude er zeigte, auf welches Haus, in jedem befanden sich ehemalige Agenten und Gef�ngnisw�r�ter. Auf die M�nner und Frauen in Uniform kam man vielleicht zuerst. Aber da gab es doch auch noch die Zugf�hrer, die die Gefangenen in die Gulags brachten. Die Schreibtischhengste, die die Dokumente abstempelten. Das K�chen- und Reinigungsper�sonal. Das System verlangte die stillschweigende Zustimmung aller, selbst wenn sie nur zustimmten, nichts zu tun. Nichts zu tun reichte schon. Das System war auf fehlenden Widerstand ebenso angewiesen wie auf Freiwillige. Nikolai w�rde hier nicht den S�ndenbock abgeben. Er war nicht der allein Verantwortli�che. Jeder trug mit an der kollektiven Schuld. Zu gelegentlicher Reue war er ja bereit, und bestimmt eine Minute am Tag dachte er �ber die schrecklichen Dinge nach, die er getan hatte. Aber den Leuten, die hinter ihm her waren, reichte das nicht. Sie woll�ten mehr.
Voller Angst machte Nikolai kehrt und rannte los, diesmal verzweifelt und so schnell er nur konnte. Er verfing sich in sei�nem Mantel, stolperte und klatschte in den matschigen Schnee. Seine Kleider sogen sich mit Dreckwasser voll. M�hsam rappelte er sich wieder auf. Sein Knie pochte, seine Hose war zerrissen. Nikolai rannte weiter, das Wasser troff aus seinen Rocksch��en.
Es dauerte nicht lange, und er fiel wieder hin. Diesmal fing er an zu heulen, verzweifelte, ersch�pfte Schluchzer. Er drehte sich auf den R�cken und riss sich den Mantel vom Leib, der mittlerweile viel zu schwer war. Vor vielen Jahren hatte er ihn in einem der Nomenklatura vorbehaltenen Gesch�fte gekauft. Wie stolz er darauf gewesen war, ein Zeichen seines Status. Jetzt brauchte er ihn nicht mehr. Er w�rde nie wieder das Haus verlassen, er w�rde daheim bleiben, die T�r abschlie�en und die Vorh�nge zuziehen.
Nikolai erreichte seinen Wohnblock und betrat hechelnd und schwitzend den Flur. Dreckwasser tropfte aus seinen Kleidern. Klatschnass stand er an die Wand gedr�ckt da, sein K�rper hin�terlie� einen Abdruck an der Mauer. Er lugte auf die Stra�e in der Hoffnung, einen Blick auf seine Verfolger erhaschen zu k�n�nen. Als er niemanden entdecken konnte - was f�r durchtriebe�ne Typen! -, kraxelte er die Treppe hinauf, rutschte dabei aus und kroch auf allen vieren weiter. Je n�her er seinem Heim kam, desto mehr beruhigte er sich. Hinter diesen W�nden konnten sie ihn nicht kriegen, nicht in seiner Zuflucht. Als h�tte er ein ner�venst�rkendes Tonikum zu sich genommen, konnte er pl�tzlich wieder klar denken. Er war betrunken. Er hatte �berreagiert, mehr nicht. Nat�rlich hatte er sich im Laufe der Jahre Feinde gemacht, Leute, die einen Groll gegen ihn hegten und ihm seinen Erfolg neideten. Wenn sie nichts weiter ausrichten konnten, als ihm ein paar Fotos zu schicken, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Die Mehrheit - die Gesellschaft - achtete und sch�tz�te ihn. Auf dem Treppenabsatz atmete Nikolai tief durch und kramte nach seinem Schl�ssel.
Drau�en vor seiner Wohnungst�r lag ein P�ckchen, etwa drei�ig Zentimeter lang, zwanzig breit und zehn hoch. Es war in Packpapier gewickelt und fest verschn�rt. Auf dem Papier stand kein Name, keine Anschrift, nur eine Tuschezeichnung - ein Kruzifix. Nikolai sank auf die Knie. Mit zitternden H�nden l�ste er die Schnur. In dem P�ckchen befand sich eine Schachtel. Auf dem Deckel stand:
nicht f�r pressezwecke
Er nahm den Deckel ab. Diesmal waren es keine Fotos. Statt�dessen fand Nikolai einen s�uberlichen Stapel bedruckter Pa�pierb�gen. Ein richtiges Dokument, etwa hundert Seiten dick. Obenauf lag ein Begleitschreiben. Nikolai nahm es hoch und �berflog es. Es war nicht an ihn gerichtet, sondern ein offizieller beh�rdlicher Brief mit der Anweisung, dass diese Rede an jede Schule, jede Fabrik, jede Arbeiter- und Jugendvereinigung im ganzen Land verteilt werden solle. Aufmerksam las Nikolai die erste Seite. Er sch�ttelte den Kopf. Das konnte doch einfach nicht sein! Es war eine L�ge, ein heimt�ckisches Machwerk, das ihn in den Wahnsinn treiben sollte. Nie und nimmer h�tte der Staat so etwas ver�ffentlicht. Nie und nimmer w�rden sie ein solches Dokument unter die Leute bringen. Das war unm�glich.
unschuldige opfer folter
Solche Worte konnten einfach nicht schwarz auf wei� gedruckt und unter ausdr�cklicher Billigung des Staates an alle Schulen und Fabriken verteilt werden. Wenn er den erwischte, der diese zugegebenerma�en gut informierte Falschmeldung lanciert hat�te, w�rde er ihn hinrichten lassen.
Unwillk�rlich kn�llte Nikolai die Seite zusammen, die er ge�rade gelesen hatte, und warf sie weg. Dann riss er die n�chste und �bern�chste Seite in kleine Schnipsel und schleuderte sie ebenfalls weg. Er h�rte auf, kr�mmte sich und rollte sich zusam�men, sein Kopf lag auf den noch ungelesenen Seiten.
�Das kann einfach nicht wahr sein�, murmelte er.
Ganz undenkbar. Und doch waren die Seiten da, sogar mit einem offiziellen Begleitschreiben samt Siegel. Informationen, die nur die Beh�rden wissen konnten, sogar mit Quellen, Zi�taten und Verweisen. Das Schweigekomplott, von dem Nikolai angenommen hatte, es w�rde ewig halten, war gebrochen. Das hier war kein Trick.
Die Rede war echt.
Ohne auf die verstreuten Papierfetzen zu achten, rappelte Ni�kolai sich hoch, schloss die T�r auf und betrat seine Wohnung. Die Rede lie� er im Hausflur liegen. Es spielte keine Rolle mehr, ob er die T�r hinter sich verschloss und die Vorh�nge zuzog. Sein Zuhause war kein Zufluchtsort mehr. Es gab �berhaupt keine Zuflucht mehr. Bald w�rden alle es wissen, jeder Schuljunge und jeder Fabrikarbeiter. Und sie w�rden es nicht nur wissen, sie w�rden offen dar�ber reden d�rfen und aufgefordert werden, die Sache zu diskutieren.
Nikolai dr�ckte die Schlafzimmert�r auf und stierte hinab auf seine Frau. Sie lag schlafend auf ihrer Seite des Bettes, die H�nde hatte sie unter den Kopf geschoben. Wie wundersch�n sie war. Er verg�tterte sie. Sie lebten ein perfektes, privilegiertes Leben. Sie hatten zwei wunderbare, gl�ckliche T�chter. Seine Frau hatte nie irgendeine Dem�tigung erlebt, nie eine Schande. Sie kannte Nikolai nur in der Rolle des liebenden Ehegatten, eines sanft�m�tigen Mannes, der f�r seine Familie gestorben w�re. Er setzte sich aufs Bett und strich ihr mit einem Finger �ber den blassen Arm. Er w�rde nicht damit leben k�nnen, dass sie die Wahrheit erfuhr, anders von ihm dachte, sich von ihm zur�ckzog, ihm Fra�gen stellte oder - schlimmer noch - schwieg. Ihr Schweigen w�re unertr�glich. All ihre Freundinnen w�rden ihr Fragen stellen. Man w�rde den Stab �ber sie brechen. Wie viel wusste sie? Hatte sie es schon immer gewusst? Es war besser, wenn er ihre Schande nicht mehr miterlebte. Es war besser, wenn er jetzt starb.
Nur �ndern w�rde sein Tod nichts. Sie w�rde es trotzdem herausfinden. Sie w�rde aufwachen, seine Leiche entdecken, ihn beweinen und betrauern. Dann w�rde sie die Rede lesen. Zwar w�rde sie zu seiner Beerdigung kommen, sich aber fragen, was er alles getan hatte. Sie w�rde Momente ihrer Zweisamkeit neu bedenken - als er sie ber�hrt hatte, als sie miteinander geschla�fen hatten. Hatte er da erst ein paar Stunden vorher jemanden umgebracht? War ihr Heim mit Blut erkauft? Vielleicht w�rde sie am Ende sogar denken, dass er den Tod verdient hatte und sein Selbstmord das einzig Richtige gewesen war, nicht nur f�r sich selbst, sondern auch f�r ihre T�chter.
Nikolai griff nach dem Kissen. Seine Frau war kr�ftig und w�rde sich wehren, aber obwohl er au�er Form war, traute er sich doch zu, sie zu �berw�ltigen. Vorsichtig stellte er sich vor sie hin, und sie wandte sich ihm zu. Sie sp�rte die N�he seines K�rpers und freute sich bestimmt, dass er nach Hause gekom�men war. Sie rollte sich auf den R�cken und l�chelte ihn an. Er konnte ihr nicht mehr ins Gesicht sehen. Jetzt rasch handeln, bevor er die Nerven verlor. Schnell dr�ckte er das Kissen hi�nunter, er wollte nicht mehr sehen m�ssen, wie sie die Augen �ffnete. Er dr�ckte so fest er nur konnte. Sofort griff sie nach dem Kissen, griff nach seinen Handgelenken. Sie kratzte, aber es half ihr nichts, er lie� nicht locker, und sie konnte sich nicht befreien. Anstatt seinen Griff zu lockern, versuchte sie jetzt, sich unter ihm hinauszuwinden. Er setzte sich auf sie und klemmte ihre Taille mit den Beinen fest, sodass sie sich nicht mehr r�h�ren konnte. Dabei dr�ckte er weiter mit dem Kissen zu. Sie war hilflos unter ihm gefangen und wurde schw�cher. Ihre H�nde kratzten nicht mehr, sondern hielten nur noch seine Hand�gelenke umklammert, dann erschlafften sie und sanken neben ihr hin.
Er blieb weiter auf ihr sitzen und dr�ckte noch ein paar Minuten mit dem Kissen zu, obwohl sie sich schon nicht mehr r�hrte. Endlich richtete er sich auf und lie� los. Das Kissen lie� er auf ihrem Gesicht liegen, er wollte sich den Anblick ihrer blutunterlaufenen Augen ersparen. Ihre Augen waren immer so voller Liebe gewesen, und so wollte er sich an sie erinnern. Er schob die Hand unter das Kissen, um ihre Augenlider zu schlie��en. Seine Fingerspitzen glitten �ber ihr Gesicht, immer n�her, und schlie�lich ber�hrte er die ein wenig klebrige Oberfl�che einer Pupille. Vorsichtig schloss er ihre Augenlider, dann hob er das Kissen hoch und sah sie an. Ganz friedlich lag sie da. Nikolai legte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Taille.
Er war so ersch�pft, dass er beinahe eingeschlafen w�re. Er sch�ttelte sich selbst wach. Er war noch nicht fertig. Also stand er auf, zog die Bettlaken glatt, nahm das Kissen und ging hi�naus ins Wohnzimmer und von dort in das Schlafzimmer seiner T�chter.
Am selben Tag
Soja und Elena schliefen. Leo konnte h�ren, wie sie ein- und aus�atmeten. Vorsichtig schloss er die T�r und versuchte seine Au�gen an die Dunkelheit zu gew�hnen. Er durfte einfach nicht als Vater versagen. Sollten sie das Morddezernat schlie�en, sollten sie ihn seiner Privilegien berauben, aber es musste einen Weg geben, wie er seine Familie retten konnte. Das war das Einzige, was z�hlte. Und trotz ihrer Probleme war er �berzeugt, dass diese Familie f�r sie alle immer noch das Beste war. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, ohne sie zu sein. Allerdings stan�den die beiden M�dchen Raisa viel n�her als ihm. Es lag also ganz offensichtlich nicht an der Adoption, sondern an seiner Vergangenheit. Es war naiv von ihm gewesen zu glauben, dass seine Beziehung zu Elena und Soja einfach nur Zeit brauchte.
Dass man sie wie bei einer optischen T�uschung nur weit genug von dem Vorfall wegschaffen musste, damit er immer kleiner und bedeutungsloser wurde. Der Vorfall - immer noch benutzte er besch�nigende Floskeln f�r den Mord an ihren Eltern. Sojas Wut brannte noch genauso wie an dem Tag, als man ihre Eltern erschossen hatte. Anstatt das Problem zu verleugnen, musste er sich mit ihrem Hass auseinandersetzen.
Mit dem Gesicht zur Wand schlief Soja auf ihrer Seite des Zimmers. Leo streckte die Hand aus und umfasste ihre Schulter. Sanft drehte er sie auf den R�cken. Eigentlich hatte er sie ganz sacht wecken wollen, doch stattdessen setzte sie sich abrupt auf, und sofort versteifte sich ihr K�rper. Sie rutschte von seiner Be�r�hrung weg. Ohne genau zu wissen, was er da eigentlich tat, legte er die andere Hand auf ihre Schulter, damit sie nicht weiter von ihm abr�cken konnte. Er tat das aus bester Absicht, um ihrer beider willen. Sie musste ihm zuh�ren.
Um einen gleichm��igen, beruhigenden Ton bem�ht, sprach er sie fl�sternd an. �Soja, wir zwei m�ssen uns unterhalten. Wenn ich bis morgen fr�h damit warte, dann finde ich wieder eine Entschuldigung und schiebe es auf �bermorgen auf und dann auf �ber�bermorgen. Ich habe es schon drei Jahre aufge�schoben.�
Sie antwortete nicht, r�hrte sich auch nicht, sondern starrte ihn nur an. Obwohl er sich in der K�che mindestens eine Stunde lang genau �berlegt hatte, was er sagen wollte, waren all die sch�n zurechtgelegten Worte jetzt wie weggeblasen.
�Du warst in meinem Schlafzimmer. Ich habe das Messer gefunden.�
Das war der falsche Einstieg. Er war doch hier, um �ber seine Fehler zu sprechen, und nicht, um sie auszuschimpfen.
Er versuchte es noch einmal: �Zuerst einmal m�chte ich dir sagen, dass ich heute ein anderer Mensch bin. Ich bin nicht mehr der Beamte, der damals auf den Hof eurer Eltern gekommen ist.
Au�erdem habe ich versucht, deine Eltern zu retten, erinnerst du dich? Da habe ich versagt. Mit diesem Versagen werde ich bis zum Ende meine Tage leben m�ssen. Aber auch wenn ich deine Eltern nicht zur�ckholen kann, ich kann deiner Schwester und dir Chancen er�ffnen. So stelle ich mir diese Familie vor. Es ist eine Chance. F�r dich und Elena, aber auch f�r mich.�
Leo hielt inne. Er wollte sehen, ob sie sich �ber seine Meinung lustig machen w�rde. Doch sie schwieg und r�hrte sich nicht. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst, ihr K�rper stocksteif.
�Kannst du es nicht... wenigstens versuchen?�
Mit zitternder Stimme sprach sie ihre ersten Worte. �Lass mich los.�
�Ach Soja, nun werd doch nicht gleich w�tend. Sag mir ein�fach nur, was du denkst. Sei ehrlich. Sag mir, was du von mir willst. Sag mir, was f�r ein Mensch ich sein soll.�
�Lass mich los.�
�Nein, Soja. Du musst bitte verstehen, wie wichtig das hier ist.�
�Lass mich los.�
�Soja ...�
Ihre Stimme wurde immer schriller, sie �berschlug sich fast.
�Lass mich los lass mich los lass mich los lass mich los.�
Fassungslos fuhr Leo zur�ck. Soja wimmerte wie ein verwun�detes Tier. Wie hatte die Sache nur derart schiefgehen k�nnen? Ungl�ubig sah er zu, wie sie vor seiner Zuneigung zur�ckwich. So hatte er sich das nicht gedacht. Er wollte ihr doch nur zeigen, dass er sie liebte! Sie machte alles kaputt, f�r alle. Elena wollte zu dieser Familie geh�ren, da war Leo sich sicher. Sie nahm im�mer seine Hand, l�chelte ihn an und lachte. Sie wollte gl�cklich sein. Raisa wollte gl�cklich sein. Alle wollten sie gl�cklich sein. Nur Soja nicht, die sich standhaft weigerte anzuerkennen, dass er sich ge�ndert hatte, und sich kindisch an ihren Hass klam�merte wie an eine Lieblingspuppe.
Dann stieg ihm der Geruch in die Nase. Als er das Laken abtastete, merkte er, dass es feucht war. Trotzdem brauchte er einen Moment, bis ihm klar wurde, dass Soja ins Bett gemacht hatte. Er stand auf. �Das ist nicht schlimm�, fl�sterte er. �Ich k�mmere mich darum. Mach dir keine Gedanken. Es war mein Fehler. Ich bin schuld.�
Soja sch�ttelte den Kopf. Sie sagte keinen Ton, sondern presste nur ihre H�nde ganz fest an die Schl�fen.
Leo war entsetzt, wie viel Kummer seine Liebe hervorrief. �Soja, ich nehme das Laken mit.�
Sie sch�ttelte den Kopf und klammerte sich an das vollgepinkelte Bettzeug, als w�rde das sie vor ihm sch�tzen. Mittlerweile war Elena aufgewacht, sie weinte.
Leo wandte sich zur T�r und drehte sich dann doch noch ein�mal um. Er konnte sie doch nicht einfach so liegen lassen. Wie sollte er das Problem l�sen, wenn er selbst das Problem war?
�Ich will dich doch nur lieb haben, Soja.�
Elena sah von Soja zu Leo. Dass sie wach war, bewirkte eine Ver�nderung in Soja. Langsam gewann sie die Fassung zur�ck und erkl�rte Leo ruhig: �Ich wasche die Laken aus. Ich mache es selbst. Ich brauche deine Hilfe nicht.�
Leo ging aus dem Zimmer und lie� das kleine M�dchen, das er f�r sich einzunehmen gehofft hatte, mit seinem Urin und sei�nen Tr�nen allein.
* * *
Er ging in die K�che und lief dort auf und ab, vollkommen ver�zweifelt. Die Akten hatte er zwar wegger�umt, doch das Blatt aus Moskwins Setzmaschine lag noch da wie zuvor.
Unter Folter hatte Eikhe
Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Eine Erinnerung an seine fr�here T�tigkeit, die ihn auf ewig wie ein Schatten verfolgen w�rde. Sojas Reaktion im Kinderzimmer fiel ihm wieder ein. Zum ersten Mal sah Leo sich gezwungen, eine M�glichkeit ins Auge zu fassen, die noch vor ein paar Minuten undenkbar f�r ihn gewesen w�re. Vielleicht musste man die Familie wieder aus�einanderrei�en.
War sein Wunsch, sie auf Biegen und Brechen zusammen�zuhalten, zur blinden Besessenheit geworden? Er zwang Soja dazu, immer wieder am Schorf zu kratzen. So w�rde die Wunde niemals heilen und sich nur vor Hass und Bitterkeit entz�nden. Und wenn Soja nicht mit ihm zusammenleben konnte, dann konnten sie Elena auch nicht behalten. Die beiden Schwestern waren doch unzertrennlich. Es w�rde ihm nichts anderes �brig bleiben, als ein neues Elternhaus f�r sie zu suchen, eines ohne Verbindungen zum Staat, vielleicht au�erhalb Moskaus in einer kleineren Stadt, wo der Machtapparat nicht so allgegenw�rtig war. Raisa und er w�rden nach passenden Pflegeeltern suchen m�ssen, m�gliche Kandidaten treffen und sich dabei fragen m�ssen, ob die es wohl besser machen w�rden, ob sie die M�d�chen gl�cklich machen w�rden. Leo hatte bei dem Versuch ja j�mmerlich versagt.
Raisa erschien in der T�r. �Was ist los?�
Sie war aus dem Schlafzimmer gekommen. Von der Bettn�sserei und seinem Gespr�ch mit Soja wusste sie nichts, ihre Frage bezog sich auf Nikolai, dessen Anruf und das mittern�chtliche Treffen. Leo brach fast die Stimme vor Niedergeschlagenheit. �Nikolai war betrunken. Ich habe ihm gesagt, dass wir weiter�reden, wenn er wieder n�chtern ist.�
�Und das hat die ganze Nacht gedauert?�
Worauf wartete er eigentlich? Er sollte sie bitten, sich hinzu�setzen, und alles erz�hlen.
�Leo, was ist los?�
Keine Geheimnisse mehr, das hatte er ihr versprochen. Aber er konnte doch nicht zugeben, dass er sich drei Jahre lang ab�gem�ht hatte, ein guter Vater zu sein, nur um jetzt nichts weiter vorzuweisen zu haben als Sojas Hass. Er konnte doch nicht zu�geben, dass er sie mitten in der Nacht geweckt und erb�rmlich angefleht hatte, ihr Vater sein zu d�rfen. Leo hatte Angst. Wenn man die Familie trennte, dann w�rde Raisa sich vielleicht fra�gen, auf welcher Seite sie eigentlich stehen wollte. W�rde sie bei den M�dchen bleiben oder bei ihm? In seiner Zeit als Agent des MGB hatte sie ihn und alles, was er verk�rperte, verabscheut. Elena und Soja dagegen hatte sie von Anfang an grenzenlos geliebt. Ihre Liebe zu ihm war kompliziert. Ihre Liebe f�r die beiden war einfach. Und wenn sie sich entscheiden musste, dann fiel ihr vielleicht wieder der Mann ein, der er eigentlich war, der er jedenfalls einmal gewesen war. Seine Beziehung zu Raisa hing davon ab, dass er sich als guter Vater erwies, da war er sich sicher. Und zum ersten Mal nach drei Jahren log er sie an. �Nichts ist los. Es war nur ein Schock, Nikolai wiederzusehen, das ist alles.�
Raisa nickte. Sie schaute in den Flur hinaus. �Sind die M�d�chen wach?�
�Sie sind wach geworden, als ich zur�ckkam. Tut mir leid. Ich habe mich bei ihnen entschuldigt.�
Raisa wies auf die Seite, die er aus der Setzmaschine gezogen hatte. �Die r�umst du wohl besser weg, bevor die M�dchen sich an den Tisch setzen.�
Leo nahm das Blatt und brachte es in ihr Schlafzimmer. Er hockte sich aufs Bett und beobachtete voller Angst, wie Raisa die K�che verlie�, um den M�dchen guten Morgen zu sagen. Ihm war beinahe schlecht vor Nervosit�t, w�hrend er darauf wartete, dass Raisa die Wahrheit entdeckte. Seine L�ge hatte ihm nur eine Gnadenfrist verschafft, mehr nicht. Raisa w�rde sich anh�ren, was Soja zu dem Vorfall zu sagen hatte.
Er sah auf und stellte zu seiner �berraschung fest, dass Raisa ganz unaufgeregt aus dem Kinderzimmer kam und ohne ein Wort in die K�che ging. Nur Sekunden sp�ter erschien Soja und trug ihre Laken ins Badezimmer, wo sie sie in die Badewanne legte und das hei�e Wasser anstellte. Sie hatte Raisa nichts ge�sagt. Sie wollte nicht, dass Raisa etwas erfuhr. Noch mehr als Leo verabscheute sie den Gedanken daran, dass er es geschafft hatte, sie derart zu blamieren.
Leo stand auf, ging in die K�che und fragte: �W�scht Soja W�sche?�
Raisa nickte. Leo fuhr fort: �Das muss sie doch nicht. Ich kann sie reinigen lassen.�
Raisa senkte die Stimme. �Ich glaube, ihr ist ein kleines Mal�heur passiert. Lass sie lieber in Ruhe. In Ordnung?�
Leo nickte. �In Ordnung.�
Elena kam als Erste herein, sie hatte sich die Bluse falsch zu�gekn�pft. Schweigend setzte sie sich hin. Leo l�chelte sie an, aber sie starrte nur in sein freundliches Gesicht, als sei es etwas Unbekanntes und Bedrohliches. Sie l�chelte nicht zur�ck. Leo h�rte Sojas Schritte. Dann brachen sie ab. Soja wartete im Flur, wo niemand sie sehen konnte.
Schlie�lich kam sie herein. Sie starrte Leo, der auf der an�deren Seite der K�che sa�, direkt ins Gesicht. Dann warf sie Raisa, die den Haferbrei anr�hrte, einen fl�chtigen Blick zu, schlie�lich ihrer Schwester, die schon fr�hst�ckte. Sie verstand, dass er ebenfalls nichts erz�hlt hatte. Das Messer war ihr Ge�heimnis. Das vollgepinkelte Bett war ihr Geheimnis. Sie waren Komplizen in dieser falschen Familie. Soja wollte die Familie nicht auseinanderrei�en. Ihre Liebe zu Elena war st�rker als ihr Hass auf ihn.
Behutsam wie eine Stra�enkatze schlich Soja an ihren Platz. Sie fr�hst�ckte nicht, sondern warf ihm nur gelegentlich einen verstohlenen Blick zu. Auch Leo a� nichts, r�hrte nur den Brei in der Sch�ssel um und konnte nicht aufsehen. Raisa lie� sich nicht beeindrucken. �Wollt ihr etwa beide nichts essen?�
Leo wartete, dass Soja antwortete, doch sie schwieg. Also begann Leo zu essen.
Da stand Soja auf und stellte ihre unber�hrte Sch�ssel ins Waschbecken. �Mir ist nicht gut.�
Raisa stand auf und f�hlte ihre Temperatur. �Kannst du zur Schule gehen?�
�Ja.�
Die M�dchen verschwanden vom Tisch. Raisa trat ganz nahe an Leo heran. �Was ist denn heute mit dir los?�
Leo war sich sicher, wenn er den Mund aufmachte, w�rde er anfangen zu heulen. Also sagte er nichts, unter dem Tisch hatte er die H�nde zu F�usten geballt.
Kopfsch�ttelnd ging Raisa hinaus, um den Kindern zu helfen. Sie wuselten vor der Wohnungst�r herum, die letzten Vorbe�reitungen zum Gehen, dann zogen sie ihre M�ntel an. Die T�r wurde aufgemacht. Raisa kam noch einmal in die K�che zur�ck, sie hatte ein P�ckchen dabei, in braunes Packpapier gewickelt und verschn�rt. Sie legte es auf den Tisch und ging. Ger�uschvoll fiel die Wohnungst�r ins Schloss.
Minutenlang r�hrte Leo sich nicht. Dann streckte er z�gerlich die Hand aus und zog das P�ckchen zu sich heran. Sie wohnten in einer Wohnanlage des Ministeriums, und normalerweise wurde die Post am Tor abgegeben. Dieses P�ckchen aber hatte auf der T�rschwelle gelegen. Es war etwa drei�ig Zentimeter lang, zwanzig breit und zehn hoch. Es trug weder Namen noch Adresse, nur eine Tuschezeichnung, die ein Kruzifix darstellte. Leo riss das Packpapier ab und entdeckte eine Schachtel, auf deren Deckel gestempelt war:
nicht f�r pressezwecke
Am selben Tag
Der Metro-Waggon war nicht besonders voll, aber trotzdem umklammerte Elena ganz fest Raisas Hand, als h�tte sie Angst, sie k�nnten getrennt werden. Die beiden M�dchen waren unge�w�hnlich still. Leos Verhalten heute Morgen hatte sie verst�rt. Raisa verstand nicht, was �ber ihn gekommen war. Normaler�weise war er in Anwesenheit der M�dchen so behutsam, aber diesmal schien es ihm nichts auszumachen, dass sie sich zum Fr�hst�ck hinsetzten und mitbekamen, wie sehr dieses eine Wort ihn besch�ftigte: Folter. Als sie ihn gebeten hatte, das Blatt wegzur�umen, war das eigentlich eine Mahnung gewesen, sich zusammenzurei�en. Er hatte zwar gehorcht, war aber in genau demselben konfusen Zustand zur�ckgekehrt, hatte die M�dchen nur angestiert und keinen Ton gesagt. Diese blutunterlaufenen Augen und der gehetzte, angespannte Gesichtsausdruck. Seit Jahren hatte sie ihn nicht mehr so gesehen, seit seiner Zeit bei der Staatssicherheit nicht, wenn er die ganze Nacht auf einem Einsatz gewesen und v�llig ersch�pft zur�ckgekehrt war, aber trotzdem nicht einschlafen konnte. Stattdessen war er in der Dunkelheit in irgendeiner Ecke zusammengesunken und hatte schweigend vor sich hingebr�tet, so als w�rden die Ereignis�se der vergangenen Nacht immer und immer wieder in seinem Kopf ablaufen wie eine endlose Filmrolle. In jener Zeit hatte er nie �ber seine Arbeit gesprochen, aber sie hatte trotzdem gewusst, was er machte: wahllos Leute verhaften. Insgeheim hatte sie ihn daf�r gehasst.
Diese Zeiten waren vorbei. Leo hatte sich ge�ndert, da war sie sich sicher. Immerhin hatte er sein Leben riskiert, um sein Geld nicht mehr mit mittern�chtlichen Verhaftungen und erzwun�genen Gest�ndnissen zu verdienen. Der Apparat der Staatssicher�heit existierte immer noch. Jetzt hie� er zwar KGB, aber er war immer noch im Leben jedes Einzelnen gegenw�rtig. Leo aller�dings hatte mit diesen Operationen nichts mehr zu tun, nachdem er einen hochrangigen Posten ausgeschlagen hatte. Stattdessen war er ein gro�es Risiko eingegangen und hatte seine eigene Er�mittlungsabteilung aufgebaut. Jeden Abend erz�hlte er ihr, was der Arbeitstag gebracht hatte - zum Teil, weil ihm an ihrem Rat lag, zum Teil auch, weil er damit zeigen wollte, wie sehr sein Dezernat sich vom KGB unterschied. Vor allem aber, um ihr zu beweisen, dass es zwischen ihnen keine Geheimnisse mehr gab. Doch Raisas Best�tigung allein reichte ihm nicht. Wenn sie Leo mit den M�dchen erlebte, kam er ihr oft vor wie ein Verfluchter, wie eine Figur aus einem Kinderbuch, die nur mit dem Satz Ich liebe dich aus dem Munde ebendieser M�dchen aus dem dunklen Bann der Vergangenheit errettet werden konnte.
Trotz aller Entt�uschungen war es ihr nie vorgekommen, als sei er neidisch auf Raisas so ungezwungenes Verh�ltnis zu Ele�na und Soja, noch nicht einmal, wenn Soja ihn bewusst qu�lte, indem sie sich ihr offen mit Herzlichkeit zuwandte, ihn dagegen ihre K�lte sp�ren lie�. In den letzten drei Jahren hatte er jede Zur�ckweisung und Unfreundlichkeit �ber sich ergehen lassen, ohne auch nur einmal aus der Haut zu fahren. Alle Feindselig�keiten hatte er geschluckt, so als halte er sie f�r eine gerechte Strafe. In diese beiden M�dchen hatte er all seine Hoffnungen auf Vergebung gelegt. Soja wusste das und wehrte sich. Je mehr er um ihre Zuneigung buhlte, desto mehr hasste sie ihn. Es h�tte keinen Zweck gehabt, wenn Raisa ihn auf diesen Zusammen�hang hingewiesen oder ihm geraten h�tte, etwas gelassener an die Sache heranzugehen. Das lag einfach nicht in seiner Natur. So fanatisch, wie er einst dem Kommunismus gehuldigt hatte, so fanatisch huldigte er jetzt seiner Familie. Seine Vision von Uto�pia war kleiner und weniger abstrakt geworden, jetzt umfasste sie nur noch vier Menschen und nicht mehr die ganze Welt. Aber erreichbarer geworden war sie dadurch nicht.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ZPkiO ein, eine Abk�rzung des vollen Namens Zentralnili Park Kultury i Otdycha Imeni Gorkowo. Als die M�dchen die offizielle Ansage zum ersten Mal aus der Lautsprecheranlage h�rten, hatten sie laut losge�lacht, auch Soja, die mit dieser unerwarteten Absurdit�t nicht gerechnet hatte und unwillk�rlich ein wundersch�nes L�cheln preisgab, das sie bislang vor allen Blicken verborgen hatte. In diesem Moment konnte Raisa einen fl�chtigen Blick auf das Kind erhaschen, das es jetzt nicht mehr gab, verspielt und aus�gelassen. Innerhalb von Sekunden war das L�cheln wieder ver�schwunden, und als Raisa das sah, schmerzte sie das sehr. Auch f�r sie waren hier schlie�lich starke Emotionen im Spiel. Da sie selbst keine Kinder bekommen konnte, war eine Adoption ihre einzige Chance gewesen, Mutter zu sein. Leo mochte vielleicht von der Geheimpolizei ausgebildet worden sein, ihr Inneres verbergen konnte sie trotzdem erheblich besser als er. Sie hatte eine taktische Entscheidung getroffen und von Anfang an darauf geachtet, dass die M�dchen nicht st�ndig sp�rten, wie wichtig sie ihr waren. So war sie mit ihnen ohne viel Aufhebens und Tamtam umgegangen und hatte sich im Wesentlichen um die allt�glichen Dinge gek�mmert: Schule, Kleider, Essen, Ausfl�ge, Hausaufgaben. Doch auch wenn Leo und sie unterschiedlich mit der Situation umgingen, hatten sie doch beide denselben Traum: den Traum einer liebevollen, gl�cklichen Familie.
Raisa und die M�dchen verlie�en den Bahnhof an der Ecke Ostoschenka und Novokrimski und folgten auf dem Weg zu ihrer jeweiligen Schule einem in den Schnee geschaufelten Fu߭pfad. Raisa hatte beide M�dchen in derselben Schule anmelden wollen, wo im besten Falle auch noch sie selbst unterrichtet h�tte, damit alle drei zusammen sein konnten. Doch die Schul�beh�rde oder eine h�here Stelle hatte entschieden, dass Raisa am Lyzeum 1535 unterrichten sollte, und da diese Schule nur �ltere Sch�ler aufnahm, musste Elena woanders die Grundschule be�suchen. Raisa hatte sich gewehrt, weil doch die meisten Schulen alle Altersklassen aufnahmen und es gar nicht notwendig war, dass man sie auseinanderriss. Doch ihr Antrag war abschl�gig beschieden worden. Auch Geschwister gingen schlie�lich zur Schule, um eine Bindung zum Staat einzugehen, und nicht, um die Familienbande zu st�rken. Angesichts einer solchen Philo�sophie hatte Raisa mit der Stelle am Lyzeum 1535 noch Gl�ck gehabt und ihren Antrag zur�ckgezogen, um diesen Vorteil nicht zu verspielen. So konnte sie wenigstens ein Auge auf Soja haben. Obwohl Elena j�nger war und zun�chst vor der neuen Schule in einer gro�en Stadt auch Angst gehabt hatte, machte Soja Raisa viel gr��ere Sorgen. Sie war in ihren schulischen Leistungen weit zur�ck, weil ihre Dorfschule nicht den Moskauer Standard gehabt hatte. Ohne Frage war sie intelligent, aber eben ein unge�schliffenes Talent ohne Zielstrebigkeit und Disziplin. Anders als Elena unternahm sie keinerlei Anstrengungen, sich einzuf�gen, so als sei die selbstgew�hlte Einsamkeit ihr Prinzip.
Vor der Grundschule, einem umgebauten Stadtpalais des Adels aus vorrevolution�rer Zeit, verwandte Raisa unn�tig viel Zeit darauf, Elenas Uniform zu richten. Dann endlich nahm sie sie fest in den Arm und fl�sterte: �Alles wird gut. Ich verspreche es.�
In den ersten Monaten hatte Elena jedes Mal geweint, wenn sie von Soja getrennt worden war, und obwohl sie sich allm�h�lich daran gew�hnt hatte, dass sie beide acht Stunden lang nicht zusammen sein konnten, stand sie noch immer am Ende jedes Schultags am Tor und wartete sehns�chtig darauf, dass sie wie�der vereint wurden. Ihre Freude, sobald sie ihre �ltere Schwester wiedersah, war nicht geringer geworden, noch immer begr��te sie sie so �berschw�nglich, als sei ein ganzes Jahr vergangen.
Nachdem Soja ihre Schwester umarmt hatte, huschte Ele�na in die Schule. An der T�r blieb sie noch einmal stehen und winkte ihnen zum Abschied zu. Als sie drinnen war, gingen Soja und Raisa schweigend zum Lyzeum weiter. Raisa widerstand der Versuchung, Soja etwas zu fragen. Sie wollte sie vor dem Unterricht nicht aufregen. Selbst die harmlosesten Erkundigun�gen konnten bei Soja eine Abwehrhaltung und alle m�glichen Arten von Fehlverhalten ausl�sen, das sich durch den ganzen Tag zog. Wenn Raisa sie nach den Hausaufgaben fragte, war das eine implizite Kritik an ihren schulischen Leistungen. Wenn sie sich nach ihren Klassenkameraden erkundigte, bezog Soja das darauf, dass sie sich mit niemandem anfreunden wollte. Das einzige Thema, �ber das man gefahrlos sprechen konnte, waren ihre sportlichen F�higkeiten. Soja war gro� und stark. Selbst�verst�ndlich hasste sie alle Mannschaftssportarten, weil sie sich nicht unterordnen konnte. Bei Einzelsportarten sah es anders aus. Sie war eine hervorragende Schwimmerin und L�uferin, die Schulschnellste in ihrer Altersgruppe. Aber Soja mochte keine Wettbewerbe. Wenn sie an einem Wettkampf teilnahm, vermas�selte sie das Rennen ganz bewusst, hatte allerdings gen�gend Stolz, um nicht als Letzte anzukommen. Sie strebte den vierten Platz an, und gelegentlich, wenn sie sich versch�tzte oder sich von der Stimmung mitrei�en lie�, wurde sie auch schon einmal Dritte oder sogar Zweite.
Das Lyzeum 1535 war 1929 in schmucklos kantigem Stil erbaut worden. Es sollte das p�dagogische Gleichheitsprinzip verk�rpern, eine neue Schule f�r eine neue Sch�lergeneration. Zwanzig Meter vor dem Tor blieb Soja pl�tzlich wie angewur�zelt stehen und stierte vor sich hin.
Raisa beugte sich zu ihr hinunter. �Was hast du denn?�
Mit gesenktem Kopf murmelte Soja: �Ich bin traurig. Ich bin immer traurig.�
Raisa biss sich auf die Lippe und unterdr�ckte ihre Tr�nen. Sie legte Soja eine Hand auf den Arm. �Sag mir, was ich tun kann.�
�Elena kann nicht zur�ck ins Waisenhaus. Da darf sie auf keinen Fall wieder hin.�
�Davon kann doch gar keine Rede sein.�
�Ich will, dass sie bei dir bleibt.�
�Das wird sie auch. Ihr beide. Das ist doch klar. Ich habe euch sehr lieb.� Raisa hatte noch nie gewagt, diesen Satz aus�zusprechen.
Soja musterte sie. �Ich w�re gl�cklich ... wenn ich nur mit dir zusammenleben k�nnte.�
So hatten sie noch nie miteinander gesprochen. Raisa musste behutsam sein. Wenn sie jetzt das Falsche sagte, die falsche Ant�wort gab, dann w�rde Soja sich wieder verschlie�en, und Raisa bekam vielleicht nie wieder so eine Gelegenheit. �Was m�chtest du denn, dass ich tue?�
Soja dachte nach. �Verlass Leo.�
Ihre wundersch�nen Augen waren so gro� und schienen jede Einzelheit an Raisas Reaktion genau zu registrieren. In Sojas Gesicht spiegelte sich ihre ganze Hoffnung, dass sie Leo nie mehr wiedersehen musste. Sie verlangte nichts anderes von Raisa, als sich von Leo scheiden zu lassen. Woher hatte sie �berhaupt von so etwas wie Scheidung geh�rt? Dar�ber sprach doch kaum einer. Die urspr�nglich tolerante Haltung des Staates in dieser Frage hatte sich unter Stalin verh�rtet. Scheidungen waren fortan schwieriger, teuer und schlecht angesehen. Fr�her hatte Raisa oft �ber ein Leben ohne Leo nachgedacht. Hatte Soja irgendwelche �berbleibsel dieser Verbitterung gesp�rt und daraus eine Hoffnung abgeleitet? H�tte sie �berhaupt gewagt zu fragen, wenn sie nicht glaubte, dass Raisa m�glicherweise Ja sagen w�rde?
�Soja ...�
Einerseits versp�rte Raisa das heftige Verlangen, diesem M�dchen alles zu geben, was es nur wollte. Andererseits war Soja noch jung und brauchte eine leitende Hand. Sie konnte nicht einfach irgendwelche absurden Forderungen stellen und dann auch noch erwarten, dass sie erf�llt wurden.
�Leo hat sich ge�ndert. Lass uns heute Abend mal dar�ber reden, du, ich und er.�
�Ich will nicht mit ihm reden. Ich will ihn �berhaupt nicht sehen. Ich will seine Stimme nicht h�ren. Ich will, dass du ihn verl�sst.�
�Aber Soja ... ich liebe ihn.�
Alle Hoffnung wich aus Sojas Gesicht. Ihr Ausdruck verh�r�tete sich. Ohne ein weiteres Wort rannte sie los, lie� Raisa stehen und eilte durch das Haupttor.
Raisa sah Soja nach, wie sie in der Schule verschwand. Ihr hinterlaufen konnte sie nicht. Vor den anderen Sch�lern h�tte sie nicht mit ihr sprechen k�nnen, und es war ohnehin zu sp�t. Soja w�rde schweigen und keine Antwort mehr geben. Der g�nstige Moment, die Gelegenheit war vorbei. Raisa hatte ihre Antwort gegeben - Ich liebe ihn. Mit grimmiger Gefasstheit hatte Soja die Worte hingenommen, wie eine zum Tode Verurteilte, deren Richterspruch gerade best�tigt worden war. W�hrend Raisa das Schulgel�nde betrat, verfluchte sie sich innerlich f�r ihre so ein�deutige Antwort. Ohne auf die Sch�ler und Lehrer zu achten, an denen sie vorbeikam, dachte sie �ber Sojas Traumvorstellung nach - ein Leben ohne Leo.
Als sie fahrig und durcheinander das Lehrerzimmer des Schulgeb�udes betrat, konnte sie sich immer noch nicht richtig konzentrieren. Sie fand ein P�ckchen, das man f�r sie hinterlegt hatte und dem ein Brief beilag. Sie riss ihn auf und �berflog ihn. Er wies sie an, das beiliegende Dokument allen Sch�lern in allen Altersstufen vorzulesen.
Der Brief kam vom Bildungsministerium. Raisa riss das Pack�papier ab, in das das P�ckchen gewickelt war, und warf einen Blick auf den Deckel.
nicht f�r pressezwecke
Sie nahm den Deckel ab und holte einen dicken Stapel ordent�lich gedruckter Bl�tter heraus. Als Politiklehrerin erhielt sie re�gelm��ig Material, das sie an ihre Sch�ler weitergeben musste. Als sie das Begleitschreiben in den Papierkorb warf, sah sie, dass der schon voll war mit weiteren Exemplaren des Briefes. Offen�bar hatten alle Lehrer ihn bekommen, und jeder Klasse wurde die Rede vorgelesen. Weil sie sp�t dran war, nahm Raisa die Schachtel und eilte hinaus.
Als sie in ihrer Klasse ankam, stellte sie fest, dass die Sch�ler miteinander quatschten und ihr Zusp�tkommen weidlich aus�kosteten. Es waren drei�ig, zwischen f�nfzehn und sechzehn Jahre alt. Viele von ihnen unterrichtete sie schon, seit sie vor drei Jahren an diese Schule gekommen war. Sie legte die Schach�tel auf den Schreibtisch und erkl�rte ihnen, dass sie heute eine Rede von ihrem Genossen Vorsitzenden Chruschtschow h�ren w�rden. Sie wartete, bis der Applaus abgeebbt war, dann begann sie, laut vorzulesen.
Sonderbericht des 20. Parteitags der Kommunistischen Par�tei der Sowjetunion. Von Nikita Sergejewitsch Chruscht�schow, Generalsekret�r der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Es war der erste Parteitag seit dem Tod Stalins. Raisa erinnerte ihre Klasse daran, dass die kommunistische Revolution eine weltweite Bewegung war und zu solchen Kongressen nicht nur sowjetische F�hrer kamen, sondern auch die Abgesandten der Arbeiterparteien anderer L�nder. Sie wappnete sich f�r eine Stunde voller Plattit�den und Selbstbeweihr�ucherungen und hoffte dabei inst�ndig, dass Soja den Tag �berstehen w�rde, oh�ne dass es �rger gab.
Sehr schnell jedoch kehrte Raisas Aufmerksamkeit wieder zu dem Text zur�ck, den sie gerade vorlas. Das war beileibe keine normale Rede. Sie fing auch gar nicht erst mit den �b�lichen Aufz�hlungen aufsehenerregender sowjetischer Erfolge an. In der Mitte des vierten Absatzes unterbrach Raisa sich und umklammerte mit beiden H�nden die Seiten. Sie konnte nicht fassen, was da stand. Die Klasse war mucksm�uschenstill. Mit unsicherer Stimme fuhr Raisa fort.
... Der Kult um die Person Stalins ist allm�hlich immer gr��er geworden. Ein Kult, der die Ursache wurde f�r eine ganze Reihe zunehmend ernster und schwerwiegen�der Pervertierungen der Parteiprinzipien, der Parteidemo�kratie und der revolution�ren Rechtsprechung.
Staunend bl�tterte Raisa vor und fragte sich, ob da noch mehr kam. Still las sie weiter.
Die negativen Charakterz�ge Stalins, die zu Lenins Zeiten noch schlummerten, f�hrten in seinen letzten Jahren zu einem schwerwiegenden Machtmissbrauch ...
Raisa hatte ihr ganzes Berufsleben damit zugebracht, Propagan�da f�r den Staat zu machen und ihre Sch�ler zu lehren, dass der Staat immer recht hatte, dass er gut und gerecht war. Wenn man Stalin nun vorwarf, dass er um seine Person einen Kult errichtet hatte, dann war Raisa dabei ein Werkzeug gewesen. Vor sich selbst hatte sie die Unwahrheiten damit gerechtfertigt, dass man den Sch�lern unbedingt die Sprache der Lobhudelei beibrin�gen musste, ohne die sie sich unweigerlich verd�chtig machen w�rden. Das Verh�ltnis zwischen Sch�ler und Lehrer basierte auf Vertrauen, und Raisa glaubte, dass sie dieses Prinzip auch aufrechterhalten hatte. Aber nicht in dem orthodoxen Sinne, dass sie ihnen die Wahrheit sagte, sondern indem sie ihnen die Wahrheiten beibrachte, die sie kennen mussten. Diese Worte stempelten sie nun zur Betr�gerin. Sie sah auf. Die Sch�ler wa�ren viel zu durcheinander, um derlei Spitzfindigkeiten sofort zu kapieren. Aber irgendwann w�rden sie das. Sie w�rden begrei�fen, dass Raisa nicht etwa ein leuchtendes Vorbild war, sondern nur eine Sklavin desjenigen, der sich eben gerade an der Macht befand.
Die T�r flog auf. Drau�en stand Julia Peschkowa, eine Lehre�rin. Ihr Gesicht war puterrot, der Mund stand ihr offen. Sie war offenbar so entsetzt, das sie keinen Ton herausbrachte.
Raisa stand auf. �Was ist denn los?�
�Komm schnell mit.�
Julia war Sojas Lehrerin. Panik �berfiel Raisa. Sie klappte den Text zu und befahl ihrer Klasse, ruhig sitzen zu bleiben, dann folgte sie Julia, aus der sie noch nichts Vern�nftiges herausbe�kommen hatte, durch den Flur und die Treppe hinunter.
�Was ist passiert?�
�Es ist Soja. Es ist wegen der Rede. Ich habe sie vorgelesen, und da ist sie ... sieh es dir lieber selbst an.�
Sie hatten Sojas Klassenzimmer erreicht. Julia trat zur�ck und lie� Raisa den Vortritt. Raisa �ffnete die T�r. Soja war auf dem Lehrerschreibtisch, den sie an die Wand geschoben hatte. Alle anderen Sch�ler hatten sich am gegen�berliegenden Ende des Raumes so weit weg wie m�glich zusammengedr�ngt, so als ob Soja eine ansteckende Krankheit h�tte. Um Soja herum lagen verstreut die Seiten der Rede und einige Glasscherben. Stolz und triumphierend stand Soja da. Ihre H�nde waren blutig. Sie hielten die Reste eines Plakats, das ein Bild von Stalin zeigte; darunter standen die Worte:
der vater aller kinder
Soja war auf den Tisch gestiegen, um an das Plakat heranzu�kommen. Sie hatte den Rahmen eingeschlagen und sich dabei in die Hand geschnitten. Dann hatte sie das Plakat entzweigerissen und das Stalinbild gek�pft. Ihre Augen loderten siegestrunken. Sie hob die beiden mit ihrem Blut besudelten Plakath�lften hoch, als seien sie die Leiche eines besiegten Feindes. �Mein Vater ist er nicht!�
Am selben Tag
Im Treppenhaus vor Nikolais Wohnung lagen die verstreuten Reste der Rede. Als Leo die zerrissenen Seiten sah und einen Blick auf ein paar der Worte warf, zog er seine Waffe. Timur hinter ihm folgte seinem Beispiel. W�hrend das Papier unter sei�nen F��en raschelte, streckte Leo den Arm aus und griff nach der T�rklinke. Die Wohnung war unverschlossen. Vorsichtig schob er die T�r auf, und beide traten sie in den leeren Woh�nungsflur. Nichts Auff�lliges war zu sehen. Die T�ren zu den anderen R�umen waren geschlossen, nur die zum Badezimmer stand offen.
Die Badewanne war randvoll, einzig Nikolais Kopf und die Insel seines feisten, haarigen Bauches ragten aus dem blutigen Wasser. Augen und Mund waren weit aufgerissen, wie aus Er�staunen dar�ber, dass nicht ein Teufel, sondern ein Engel ihn im Tode begr��t hatte. Leo hockte sich neben seinen ehemaligen Lehrmeister. Alles, was er von ihm gelernt hatte, hatte er in den letzten drei Jahren wieder zu verlernen versucht.
�Leo ...�, rief Timur ihn.
Der Klang in der Stimme seines Stellvertreters lie� Leo sofort aufstehen und ihm ins benachbarte Schlafzimmer folgen.
Die beiden M�dchen sahen aus, als schliefen sie. Die Bett�decken waren bis zu den H�lsen hochgezogen. Bei Nacht w�re einem die Stille im Zimmer normal vorgekommen. Aber es war helllichter Tag, und das Sonnenlicht dr�ngte durch den Spalt zwischen den Vorh�ngen. Beide lagen mit dem Gesicht zur Wand und hatten einander den R�cken zugekehrt. Das Haar der �lte�ren Schwester war �ber das Kissen ausgebreitet. Leo strich es zur�ck und betastete ihren Hals. Man sp�rte noch einen winzi�gen Rest W�rme, die sich unter der dicken Daunendecke gehal�ten hatte, in die sie liebevoll gemummelt war. Ihr K�rper wies keinerlei Zeichen von Verletzungen auf. Die J�ngere, kaum vier Jahre alt, lag genauso da. Sie war schon kalt, ihr kleiner K�rper hatte die W�rme schneller verloren als der ihrer Schwester. Leo schloss die Augen. Er h�tte diese M�dchen retten k�nnen.
Nebenan hatte man Nikolais Frau Ariadna genauso gebet�tet wie ihre T�chter - so als schlafe sie. Leo hatte sie fl�chtig gekannt. Vor sieben Jahren hatte Nikolai nach ihren Verhaftun�gen oft darauf bestanden, dass Leo bei ihm zu Hause a�. Und egal, wie sp�t es war, Ariadna hatte ihnen immer etwas zum Abendessen vorgesetzt und erinnerte Leo und Nikolai nach ih�ren gemeinsamen Grausamkeiten wieder an die Tugenden von H�flichkeit und Gastfreundschaft. Diese Abendessen sollten ihm den Wert des H�uslichen zeigen, wo ihr blutiges Handwerk keinen Raum hatte, wo man sich die Illusion aufrechterhalten konnte, dass man doch eigentlich nur ein liebevoller Ehemann war. Jetzt sa� Leo an Ariadnas Frisiertisch und musterte die elfenbeinerne Haarb�rste, die Parf�ms und Puderd�schen - al�les Luxusartikel, die Ariadna als Lohn f�r ihre bedingungslose Hingabe angenommen hatte. Sie hatte nie begriffen, dass ihre Unwissenheit keine Frage der Wahl war, sondern ihre Lebens�versicherung. Nikolai konnte ausschlie�lich eine ahnungslose Familie ertragen.
Erz�hl deiner Frau kein Wort.
Als junger Beamter hatte Leo die Warnung, die man ihm nach seiner ersten Verhaftung zugefl�stert hatte, noch als eine Mah�nung zur allgemeinen Vorsicht und Verschwiegenheit aufgefasst, als Lektion, dass er nicht einmal denen vertrauen durfte, die ihm am n�chsten standen. Aber Nikolai hatte etwas ganz anderes im Sinn gehabt.
Leo hielt es in der Wohnung nicht mehr aus. Als er aufstand, merkte er, wie unsicher er auf den Beinen war. Hastig wandte er sich von den Toten ab und lief hinaus ins Treppenhaus, wo er sich an die Wand lehnte und tief durchatmete. Er starrte hin�ab auf die �berreste von Chruschtschows Rede, die jemand in m�rderischer Absicht vor Nikolais Wohnungst�r abgelegt hatte. Als Nikolai sp�t in der Nacht zur�ckgekehrt war, hatte er wohl noch einen kleinen Teil gelesen, das meiste lag unber�hrt in der Schachtel. Eine Seite war zerrissen. Hatte Nikolai etwa geglaubt, dass er diese Worte w�rde zerst�ren k�nnen? Wenn er auch nur auf den Gedanken gekommen war, hatte der Begleitbrief ihn sp�testens eines Besseren belehrt. Die Rede sollte vervielf�ltigt und unter die Leute gebracht werden. Dass man den offiziellen Brief beigelegt hatte, sollte Nikolai sagen, dass er die Geheimnis�se seiner Vergangenheit nicht mehr kontrollieren konnte.
Leo sah verstohlen zu Timur her�ber. Bevor Timur ins Mord�dezernat eingetreten war, hatte er als Offizier in der Miliz ge�dient und Besoffene, Diebe und Vergewaltiger verhaftet. Auch wenn die Miliz gelegentlich politische Gegner verhaften musste, hatte er das Gl�ck gehabt, damit nie etwas zu tun zu bekommen.
Timur, der sonst selten die Kontrolle �ber sich verlor, war erkennbar aufgebracht. �Was f�r ein Feigling!�
Leo nickte. Das stimmte. Er war zu feige gewesen, um sich der Ablehnung zu stellen. Nikolais Leben war seine Familie ge�wesen. Ohne sie konnte er nicht leben. Aber sterben konnte er auch nicht ohne sie.
Leo hob ein Blatt aus der Rede hoch und musterte es, als sei es ein Messer oder eine Pistole - auf jeden Fall eine h�chst effektive Mordwaffe. Er hatte die Rede am Morgen, nachdem man sie ihm zugestellt hatte, gelesen. Der offen ausgesprochene Angriff hatte ihn schockiert, und er hatte eins sehr schnell begriffen: Wenn man ihm diese Rede geschickt hatte, dann hatte Nikolai sie auch erhalten. Das Ziel war klar: die Menschen, die f�r die aufgez�hlten Verbrechen verantwortlich waren.
Stapfende Schritte erf�llten den Hausflur. Der KGB war da.
Die Beamten, die die Wohnung betraten, musterten Leo mit offener Feindseligkeit. Er geh�rte nicht mehr zu ihnen, hatte sich von ihnen abgewandt. Hatte sogar eine Bef�rderung ab�gelehnt, nur um sein Morddezernat zu leiten - ein Dezernat, dessen Schlie�ung sie von Anfang an betrieben hatten. In den Augen dieser Leute, bei denen die Loyalit�t �ber allem anderen stand, war er das Schlimmste, was man sein konnte - ein Ver�r�ter.
Derjenige, der hier das Sagen hatte, war Leos Vorgesetzter Frol Panin, der im Innenministerium die Abteilung Verbrechens�bek�mpfung leitete. Er war um die f�nfzig und gut aussehend, elegant gekleidet und charmant. Leo hatte zwar noch nie einen Hollywoodfilm gesehen, aber er konnte sich vorstellen, dass Panin jemand war, den sie dort spielen lassen w�rden. Der Mann sprach mehrere Fremdsprachen und war ein ehemaliger Botschafter, der Stalins Herrschaft �berlebt hatte, weil er sich immer im Ausland befunden hatte. Man sagte ihm nach, dass er keinen Alkohol trank, jeden Tag Sport trieb und sich jede Woche die Haare schneiden lie�. Anders als viele andere Kader, die sich ihrer bescheidenen Herkunft r�hmten und betonten, wie gleichg�ltig ihnen so etwas Bourgeoises wie das �u�ere Er�scheinungsbild war, erschien Panin unversch�mterweise immer wie aus dem Ei gepellt. Er schrie nicht herum und blieb immer h�flich, eine neue Art von Funktion�r, der Chruschtschows Rede zweifellos gutgehei�en hatte. Hinter seinem R�cken wurde schlecht �ber ihn geredet. Unter Stalin, hie� es, h�tte sich so ein Waschlappen nicht lange gehalten. Seine H�nde waren zu weich, seine Fingern�gel zu sauber. Und Leo war sich sicher, dass Panin das als Kompliment nahm.
Rasch verschaffte Panin sich einen �berblick �ber den Ort des Verbrechens, dann wandte er sich an die KGB-Beamten. �Niemand verl�sst das Geb�ude. Z�hlen Sie in allen anderen Wohnungen die Bewohner durch, und vergleichen Sie die Zahlen mit denen des Meldeamtes. Stellen Sie sicher, dass Ihnen keiner durch die Lappen geht. Niemand geht zur Arbeit. Die, die schon weg sind, werden zur�ckgeholt und verh�rt. Befragen Sie jeden Einzelnen, und finden Sie heraus, was er gesehen oder geh�rt hat. Wenn Sie den Verdacht haben, dass jemand l�gt, stecken Sie ihn in eine Zelle, und verh�ren Sie ihn noch mal. Keine Gewalt, keine Drohungen, machen Sie ihnen lediglich klar, dass unsere Geduld nicht unbegrenzt ist. Wenn jemand etwas wissen sollte ...�
Panin unterbrach sich, dann fuhr er fort: �... das sehen wir dann. Au�erdem werden wir die Geschichte nach au�en anders darstellen. Gleichen Sie die Details untereinander ab, aber kein Wort �ber Mord. Ist das klar?�
Dann besann er sich, dass es wohl nicht klug war, die Erfin�dung einer plausiblen L�gengeschichte anderen zu �berlassen, und erg�nzte: �Diese vier B�rger wurden nicht ermordet. Sie wurden verhaftet und weggeschafft. Die Kinder hat man in ein Waisenhaus gebracht. Fangen Sie an, Ger�chte �ber ihre subver�siven Ansichten zu streuen. Setzen Sie die Maulw�rfe ein, die wir hier in der Gegend haben. Es ist von gr��ter Wichtigkeit, dass beim Abtransport niemand die Leichen sieht. Sperren Sie, wenn n�tig, die Stra�e.�
Es war besser, wenn die Leute glaubten, dass eine gesamte Familie auf Nimmerwiedersehen verhaftet worden war, als dass sie erfuhren, dass ein pensionierter MGB-General seine Familie umgebracht hatte.
Panin wandte sich an Leo. �Sie haben Nikolai letzte Nacht getroffen?�
�Er hat mich gegen Mitternacht angerufen. Ich war �ber�rascht. Wir hatten �ber f�nf Jahre nichts mehr voneinander geh�rt. Er war aufgeregt und betrunken. Er wollte sich mit mir treffen. Ich stimmte zu, obwohl es schon sp�t und ich m�de war. Nikolai machte einen verwirrten Eindruck. Ich sagte ihm, er solle nach Hause gehen, wir w�rden reden, wenn er wieder n�chtern sei. Das war das Letzte, was ich von ihm gesehen habe. Als er nach Hause kam, hat er wohl Chruschtschows Rede auf seiner T�rschwelle gefunden. Dass sie dort lag, war Teil eines Komplotts gegen ihn, vermutlich angezettelt von denselben Leu�ten, die heute Morgen die Rede auch vor meiner Wohnungst�r deponiert haben.�
�Haben Sie die Rede gelesen?�
�Sie war der Grund, warum ich hergekommen bin. Dass sie mir genau in dem Moment zugestellt wurde, wo Nikolai mit mir Kontakt aufnahm, konnte ja kein Zufall mehr sein.�
Panin drehte sich um und starrte auf Nikolai in dem blu�tigen Badewasser hinab. �Ich war im Kreml dabei, als Nikita Chruschtschow die Rede gehalten hat. Sie dauerte mehrere Stunden, und keiner hat sich ger�hrt. Totenstille und v�llige Fassungslosigkeit. Nur eine ganz kleine Gruppe von Leuten hat sie verfasst, ausgew�hlte Mitglieder des Zentralkomitees. Es gab keine Vorwarnung. In den ersten zehn Tagen des 20. Parteitags hatte es nur unbedeutende Redebeitr�ge gegeben. Die Delegier�ten applaudierten immer noch, wenn Stalins Name fiel. Am letzten Tag bereiteten sich die ausl�ndischen Delegierten schon auf die Heimreise vor. Wir wurden f�r eine geschlossene Sitzung einberufen. Chruschtschow schien an der Sache ziemlichen Ge�fallen zu haben. Er war ganz versessen darauf, die Fehler der Vergangenheit einzur�umen.�
�Gegen�ber dem ganzen Land?�
�Seiner Meinung nach durften diese Worte die W�nde des Saales nicht verlassen, wenn man nicht den Ruf unserer Nation besch�digen wollte.�
Leo konnte den Zorn in seiner Stimme nicht mehr verbergen. �Und warum sind dann jetzt Millionen Exemplare im Umlauf?�
�Er hat gelogen. Er will ja, dass die Leute das lesen. Sie sollen wissen, dass er der Erste war, der sich entschuldigt hat. Damit hat er schon seinen Platz in der Geschichte eingenommen. Er ist der Erste, der Stalin kritisiert und nicht daf�r hingerichtet wird. Der Vermerk, die Rede solle nicht in der Presse abgedruckt wer�den, war eine Konzession an ihre Gegner. Angesichts der sonsti�gen Verbreitungspl�ne ist solch eine Klausel nat�rlich absurd.�
�Aber Chruschtschow verdankt seinen Aufstieg immerhin Stalin.�
Panin l�chelte nur. �Wir sind doch alle mitschuldig, oder etwa nicht? Und das sp�rt er. Er gesteht, aber nur ein bisschen. In vielerlei Hinsicht ist es die gute alte Denunziationsmasche. Stalin ist schlecht, deshalb bin ich gut. Ich bin im Recht, deshalb sind die anderen im Unrecht.�
�Leute wie Nikolai und ich sind es, die er hier an den Pranger stellt. Er macht uns zu Ungeheuern.�
�Oder er zeigt der Welt, was f�r Ungeheuer wir tats�chlich sind. Dabei schlie�e ich mich selbst mit ein, Leo. Es betrifft jeden, der dabei war, der das System am Laufen hielt. Wir reden hier nicht �ber f�nf Namen. Wir reden �ber Millionen Menschen, die allesamt entweder aktiv involviert oder Mitl�ufer waren. Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass es vielleicht mehr Schuldige gibt als Unschuldige?�
Leo warf einen Seitenblick auf die KGB-Beamten, die die beiden T�chter untersuchten. �Diejenigen, die Nikolai die Rede zugeschickt haben, m�ssen gefasst werden.�
�Da stimme ich Ihnen zu. Welche Spuren haben Sie?�
Leo schlug sein Notizbuch auf und holte das zusammengefaltete Blatt hervor, das er aus Moskwins Druckmaschine gezogen hatte.
Unter Folter wurde Eikhe
Panin studierte das Blatt, w�hrend Leo eine Seite aus Nikolais Exemplar der Rede hervorzog. Er deutete auf eine Zeile.
Unter Folter wurde Eikhe gezwungen, ein von den Ermitt�lungsrichtern vorformuliertes Protokoll seines Gest�nd�nisses zu unterzeichnen.
Als Panin die vier Worte wiedererkannte, fragte er: �Woher stammt das erste Blatt?�
�Aus einer Druckerei, die von einem Mann namens Suren Moskwin geleitet wurde, einem ehemaligen MGB-Agenten. Ich bin sicher, dass man auch ihm die Rede zugeschickt hat. Seine S�hne behaupten, dass er einen offiziellen Staatsauftrag �ber zehntausend Exemplare hatte. Aber ich finde keinerlei Hinweis auf diesen Auftrag. Ich glaube nicht, dass es ihn gegeben hat. Er war gelogen. Man hat Moskwin gesagt, es gehe um einen Staatsauftrag, und ihm dann die Rede ausgeh�ndigt. Er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet und den Text gesetzt, bis er zu die�sen Worten kam. Da hat er beschlossen, sich umzubringen. Sie haben ihm die Rede gegeben, weil sie wussten, welchen Effekt sie auf ihn haben w�rde. Aus diesem Grund haben sie sie auch Nikolai und mir zugespielt. Nikolai hat gestern erz�hlt, dass man ihm Fotos von Leuten zugeschickt hat, die er verhaftet hat�te. Und auch Moskwin wurde mit Fotos von Menschen gequ�lt, mit denen er zu tun gehabt hatte.�
Leo holte den manipulierten Band des Lenin-Textes hervor und hielt das Verhaftungsfoto hoch, das man statt des Leninpor�tr�ts eingeklebt hatte. �Ich bin sicher, dass die Gemeinsamkeit zwischen uns dreien - zwischen Suren, Nikolai und mir - eine ganz bestimmte Person ist. Jemand, der vor Kurzem freigelassen wurde, oder ein Verwandter eines ...�
Leo hielt kurz inne, dann beendete er den Satz: �... eines Opfers.�
�Wie viele Leute haben Sie in Ihrer Zeit als MGB-Beamter verhaftet?�, fragte Panin.
Leo dachte nach. Manchmal hatte er ganze Familien ver�haftet, sechs Leute in einer Nacht. �In den ganzen drei Jahren? Mehrere Hundert.�
Timur konnte seine �berraschung nicht verbergen. So viele.
Panin fragte weiter: �Und glauben Sie wirklich, der T�ter w�rde eine Fotografie schicken?�
�Sie haben keine Angst vor uns, jetzt nicht mehr. Wir sind es, die Angst haben.�
Panin klatschte in die H�nde und trommelte die Beamten zusammen. �Durchsuchen Sie die Wohnung. Wir suchen nach einem Stapel Fotografien.�
Leo f�gte hinzu: �Bestimmt hat Nikolai sie gut versteckt. Es war ihm ungeheuer wichtig, dass seine Familie sie nicht finden konnte. Er war Agent, also wusste er, wie man Sachen sicher versteckt, und auch, wo man als Erstes nachsehen w�rde.�
Sie durchsuchten jeden Winkel. Nach zwei Stunden hatten sie die luxuri�se Wohnung, auf deren M�blierung und Ausstat�tung Nikolai Jahre verwandt hatte, auf den Kopf gestellt. Um unter den Betten suchen und die Dielen herausrei�en zu k�nnen, hatte man die Leichen der ermordeten Kinder und der Frau in Bettlaken geh�llt und im Wohnzimmer �bereinandergestapelt. Um sie herum wurden Schr�nke zertr�mmert und Matratzen aufgerissen. Fotos fand man keine.
Frustriert starrte Leo auf Nikolai in seinem blutigen Bad hin�ab. Dann kam ihm ein Gedanke, und er trat an die Wanne heran. Ohne sein Hemd auszuziehen, steckte er den Arm ins Wasser. Er tastete nach Nikolais Hand. Wie ein Schraubstock umschlossen die Finger einen dicken Umschlag. Nikolai hatte ihn im Tode umklammert. Das Papier war aufgeweicht und l�ste sich auf; sobald Leo es ber�hrte, trieb der Inhalt an die Oberfl�che. Ti�mur und Panin kamen hinzu und beobachteten gemeinsam mit Leo, wie eins nach dem anderen die Gesichter von M�nnern und Frauen vom Grund der Badewanne aufstiegen. Bald war die ganze Oberfl�che mit Hunderten sich �berlappender Gesichter bedeckt, die im blutroten Wasser auf und ab tanzten. Wie wild schossen Leos Augen zwischen alten Frauen und jungen M�n�nern hin und her, zwischen M�ttern und V�tern, S�hnen und T�chtern. Niemand kam ihm bekannt vor. Dann blieb sein Blick an einem Foto haften. Er holte es aus dem Wasser.
�Kennen Sie diesen Mann?�, fragte Timur.
Leo kannte ihn. Er hie� Lasar.
Am selben Tag
Jemand hatte auf den Umschlag ein Kruzifix gezeichnet, das sorgf�ltig ausgef�hrte Tuschebild des orthodoxen Kreuzes. Die Zeichnung war klein, etwa handfl�chengro�. Der Zeichner hat�te sich gro�e M�he gegeben. Die Proportionen stimmten, der Strich war gekonnt. Sollte das Bild etwa Furcht einfl��en, so als sei er ein Kobold oder D�mon? Nein, vermutlich war es eher ironisch gemeint, ein Hinweis auf seinen Glauben. Wenn das stimmte, dann hatte der Betreffende sich zumindest psycholo�gisch versch�tzt und die beabsichtigte Wirkung verfehlt.
Krassikow erbrach das Siegel und leerte den Inhalt des Um�schlags auf seinen Schreibtisch. Noch mehr Fotos. Krassikow war versucht, sie ins Feuer zu werfen, so wie er es schon mit den anderen gemacht hatte, aber dann trieb ihn doch die Neugier.
Er setzte die Brille auf, kniff die Augen zusammen und schaute sich den neuen Stapel Gesichter genau an. Auf den ersten Blick sagte ihm keines etwas. Er wollte sie schon beiseitelegen, da erregte eines seine Aufmerksamkeit. Er konzentrierte sich und versuchte, sich an den Namen des Mannes mit diesen intensiven Augen zu erinnern.
Lasar
Das hier waren die Priester, die er denunziert hatte. Er z�hlte sie durch. Drei�ig Gesichter. Hatte er tats�chlich so viele verraten? Nicht alle waren w�hrend seiner Zeit als Patriarch von Moskau und ganz Russland, der h�chsten religi�sen Autorit�t im Land, verhaftet worden. Er hatte schon vorher denunziert, �ber viele Jahre hinweg. Er war jetzt f�nfundsiebzig Jahre alt. Im Verlauf eines so langen Lebens waren drei�ig Denunziationen gar nicht mal so viel. Sein wohlkalkulierter Gehorsam gegen�ber dem Staat hatte unermesslichen Schaden von der Kirche abgewendet. Vielleicht war es eine unselige Allianz, aber diese drei�ig Priester waren nun einmal notwendige Opfer gewesen. Es war nach�l�ssig von ihm, dass er sich nicht mehr an die Namen erinnern konnte. Eigentlich sollte er jeden Abend f�r sie beten. Stattdes�sen waren sie aus seinem Ged�chtnis geronnen wie Regenwasser eine Scheibe hinunter. Vergessen war nun einmal einfacher, als um Vergebung zu bitten.
Doch noch nicht einmal als er jetzt ihre Fotografien in der Hand hielt, versp�rte er Bedauern. Und das war kein Trotz. Weder litt er unter Alptr�umen, noch unter Seelenpein. Sein Gewissen war unbeschwert. Ja, er hatte Chruschtschows Rede gelesen, die ihm wohl dieselben Leute zugestellt hatten, die ihm auch diese Fotos geschickt hatten. Er hatte die Kritik an Stalins m�rderischem System gelesen - einem Regime, das er unterst�tzt hatte, indem er seine Priester anwies, Stalin in ihren Reden zu preisen. Nat�rlich hatte es einen Kult um den Diktator gegeben, und er war selbst ein loyaler Anbeter gewesen. Na und? Wenn diese Rede eine Zukunft sinnloser Nabelschau einl�uten sollte, bitte sehr. Seine Zukunft war es sowieso nicht. War es vielleicht seine Schuld, dass die Kirche in den ersten Jahrzehnten des Kommunismus so verfolgt worden war? Nat�rlich nicht! Er hatte nur auf die Umst�nde reagiert, in denen er und seine ge�liebte Kirche sich befunden hatten. Er hatte doch gar keine Wahl gehabt. Die Entscheidung, ein paar von seinen Mitbr�dern ans Messer zu liefern, war zwar unangenehm, aber nicht schwer ge�wesen. Einige davon hatten geglaubt, sagen und tun zu k�nnen, was ihnen gerade passte, nur weil es das Wort Gottes war. Naive Menschen, die unbedingt M�rtyrer sein wollten und ihn damit zunehmend erm�det hatten. In gewisser Hinsicht hatte er ihnen nur das gegeben, was sie selbst gewollt hatten - die Gelegenheit, f�r ihren Glauben zu sterben.
Wie alles andere musste auch die Religion Kompromisse ein�gehen. Der pomestni sobor, die �rtliche Bischofsversammlung, hatte ihn als Patriarch vorgeschlagen. Der Staat brauchte jeman�den, der politisch dachte, flexibel und gerissen war, deshalb hat�te er seiner Nominierung zugestimmt und die Wahlen �berhaupt zugelassen, die dann auch prompt zu seinen Gunsten ausgegan�gen waren. Es hatte Stimmen gegeben, die sagten, mit dieser Wahl werde das Gesetz des apostolischen Kanons verletzt, denn die Hierarchie der Kirche d�rfe nicht von weltlichen Autorit�ten bestimmt werden. Seiner Meinung nach war das nur ein verwor�renes theoretisches Argument, und das in einer Zeit, in der die Anzahl der Kirchen im Land von zwanzigtausend auf weniger als tausend zur�ckgegangen war. Sollten sie vielleicht allesamt untergehen, indem sie sich stolz an ihre Prinzipien klammerten wie ein Kapit�n an den Mast seines sinkenden Schiffes? Seine Ernennung hatte zum Ziel gehabt, den Niedergang umzukehren und sich gegen weitere Verluste zu stemmen. Mit Erfolg. Neue Kirchen waren gebaut worden. Priester wurden jetzt ausgebildet und nicht mehr erschossen. Er hatte nur getan, was man von ihm verlangte. Seine Handlungen waren nie b�swillig gewesen. Und die Kirche hatte �berlebt.
Krassikow stand auf, er war diese Erinnerungen leid. Er nahm die Fotos und warf sie ins Feuer. Dann sah er zu, wie sie sich aufrollten, schwarz wurden und verbrannten. Er hatte damit gerechnet, dass es zu Vergeltungsaktionen kommen konnte. Man konnte nicht einem so komplexen Gebilde wie der Kirche vorstehen und ihr Verh�ltnis zum Staat verwalten, ohne sich dabei auch Feinde zu machen. Krassikow war ein vorsichtiger Mensch und hatte Ma�nahmen zu seinem Schutz eingeleitet. Als alter, gebrechlicher Mann war er nur noch dem Namen nach der Patriarch und in das Alltagsgesch�ft nicht mehr involviert. Stattdessen verbrachte er viel Zeit in einem Kinderhort, den er nicht weit von der Sankt-Anna-Kathedrale gegr�ndet hatte. Manche behaupteten, der Kinderhort sei nichts anderes als das Ringen eines Sterbenden nach Erl�sung. Sollten sie doch, ihm war das egal. Die Arbeit bereitete ihm Freude, das war das ganze Geheimnis. Die eigentliche Knochenarbeit wurde von j�ngeren Mitarbeitern erledigt, er selbst beschr�nkte sich auf die seelische Begleitung der etwa hundert Kinder, die sie aufnehmen konnten, um sie aus der Abh�ngigkeit von tschifir, einem aus Teepflanzen gewonnenen Rauschgift, heraus- und in ein frommes Leben zu f�hren. Da er sein Leben Gott geweiht hatte und das Gel�bde ihm eigene Kinder verbot, war dies eine Art Ausgleich.
Krassikow schloss die T�r zu seinem B�ro, sperrte ab und ging die Treppe zum Hauptsaal des Kinderhorts hinab, wo die Kinder ihre Mahlzeiten einnahmen und unterrichtet wurden. Sie hatten vier Schlafs�le, zwei f�r M�dchen und zwei f�r Jungen. Daneben gab es einen Gebetsraum mit einem Kruzifix, Ikonen und Kerzen - hier unterrichtete er die Kinder in Glaubensdin�gen. Keines durfte im Hort bleiben, wenn es sich nicht Gott �ffnete. Wer sich weigerte zu glauben, wurde ausgeschlossen. An Stra�enkindern, derer man sich annehmen konnte, gab es kei�nen Mangel. Nach staatlichen Sch�tzungen, in die er eingeweiht war, existierten �ber das ganze Land verteilt etwa achthundert�tausend obdachlose Kinder, die meisten davon in den gr��eren St�dten. Sie lebten in Bahnh�fen und schliefen in schmalen Gassen. Manche waren aus Waisenh�usern weggelaufen, andere aus Arbeitslagern. Viele waren vom Land in die St�dte gekom�men, wo sie wie Rudel wilder Hunde �berlebten, indem sie den Abfall durchw�hlten oder stahlen. Krassikow neigte nicht zur Gef�hlsduselei. Ihm war klar, dass diese Kinder unzuverl�ssig und potenziell gef�hrlich waren. Deshalb bediente er sich der Dienste ehemaliger Soldaten der Roten Armee, um sie unter Ku�ratel zu halten. Der Geb�udekomplex war gesichert. Niemand konnte unerlaubt hinein oder hinaus. Jeder, der hineinwollte, wurde durchsucht. Drinnen gab es W�rter, zwei waren stets am Eingang postiert, die anderen machten die Runde. Offiziell wa�ren die M�nner daf�r da, die Kinder unter Kontrolle zu halten. Doch sie versahen noch einen weiteren Dienst: Sie waren Krassikows Leibw�chter.
Krassikow warf einen pr�fenden Blick durch den Saal und suchte die dankbaren Gesichter nach seinem neuesten Ank�mm�ling ab, einem vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alten Jun�gen. Er hatte sein Alter nicht verraten und �berhaupt kaum den Mund aufgemacht. Der Junge stotterte ganz f�rchterlich und hatte ein seltsam erwachsenes Gesicht, so als sei er mit jedem Jahr auf Erden um drei Jahre gealtert. Es wurde Zeit, dass man ihm die Aufnahmebedingungen klarmachte und pr�fte, ob er es mit seinem Bekenntnis zu Gott ernst meinte.
Krassikow gab einem der W�rter ein Zeichen, das Kind zu ihm zu bringen. Der Junge scheute zur�ck wie ein gepr�gelter Hund, jeder menschliche Kontakt machte ihn misstrauisch. Man hatte ihn nicht weit vom Kinderheim entfernt in einer Einfahrt gefunden, eingeh�llt in Lumpen. Er hatte eine Tonfigur umklam�mert, die einen auf einem Schwein reitenden Mann darstellte, so als sei das Schwein ein Pferd. Drolliger Nippes, was darauf schlie�en lie�, dass er aus der Provinz kam. Die einst farbenfro�he Figur war mittlerweile verblasst. Bemerkenswerterweise war sie aber noch heil, nur das linke Ohr des Schweins fehlte. Der drahtige, kr�ftige Junge lie� sie keinen Augenblick aus den Au�gen und lie� sie vor allem nicht los. Sie hatte wohl irgendeinen sentimentalen Wert f�r ihn, vielleicht ein Gegenstand aus seiner Vergangenheit.
Krassikow l�chelte den W�rter an und bat ihn freundlich zu gehen. Dann �ffnete er die T�r zum Gebetsraum und wartete darauf, dass der Junge ihm folgte. Doch der Bursche r�hrte sich nicht und hielt nur die angemalte Figur umklammert, als sei sie voller Gold.
�Du musst nichts tun, was du nicht willst. Aber wenn du Gott nicht in dein Herz l�sst, kannst du hier nicht bleiben.�
Der Junge warf einen verstohlenen Blick auf die anderen Kinder. Sie hatten alles stehen und liegen lassen und glotzten neugierig, wie er sich entscheiden w�rde. Noch nie hatte einer Nein gesagt. Z�gerlich betrat der Junge den Gebetsraum. Als er an Krassikow vorbeikam, sagte dieser: �Verrat mir doch noch mal deinen Namen.�
Der Junge stammelte: �Ser ... gej.�
Krassikow schloss die T�r hinter ihnen beiden. Der Raum war vorbereitet, die Kerzen brannten. Das Licht des Nachmit�tags verblasste. Krassikow kniete sich vor das Kruzifix, gab Ser�gej aber keine Anweisungen, sondern wartete darauf, dass der Junge es ihm nachtat. Eine einfache Probe, um herauszufinden, ob das Kind irgendein religi�ses Fundament hatte. Diejenigen, die sich auskannten, knieten sich neben ihn, die anderen blie�ben an der T�r stehen. Sergej r�hrte sich nicht, er blieb an der T�r.
�Viele der Kinder sind unwissend, wenn sie zu uns kommen. Du wirst noch lernen. Ich hoffe, dass eines Tages Gott den Platz dieses Spielzeugs einnimmt, das du so lieb hast.�
Statt einer Antwort verriegelte der Junge zu Krassikows Er�staunen die T�r. Noch bevor Krassikow fragen konnte, was das sollte, zog er aus dem abgebrochenen Schweineohr einen Draht hervor. Im n�chsten Moment hob er die Figur �ber den Kopf und schleuderte sie dann mit aller Kraft zu Boden. Instinktiv wandte Krassikow sich ab, um nicht getroffen zu werden. Aber die Tonfigur zerbarst nur zu seinen F��en in mehrere ungleich gro�e St�cke. Entsetzt starrte er die Tonscherben an. Neben den �berresten des Schweins lag da noch etwas anderes, rund und schwarz. Krassikow beugte sich vor und hob es auf. Es war eine Taschenlampe.
Verwirrt versuchte er sich wieder aufzurichten, aber bevor ihm das gelang, wurde ihm eine Schlinge �ber den Kopf ge�streift, ein d�nner Stahldraht mit Schlaufe. Das andere Ende des Drahtes hielt der Junge, er hatte sich den Draht um die Hand gewickelt. Jetzt zog er an. Der Draht straffte sich, und Krassi�kow r�chelte, als ihm die Luft abgeschn�rt wurde. Sein Gesicht wurde puterrot, das Blut war gestaut. Seine Finger glitten �ber den Draht, aber er schaffte es nicht darunterzufassen und die Schlinge zu weiten.
Der Junge zog fester, dann sprach er Krassikow in ruhigem, gelassenen Tonfall an, ohne eine Spur seines vorherigen Gestot�ters. �Wenn du ehrlich antwortest, bleibst du am Leben.�
Am Eingang des Kinderheims wurde Leo und Timur von zwei W�rtern der Zutritt verwehrt. Entnervt von dieser Verz�gerung zeigte Leo den M�nnern das Foto von Lasar und redete auf sie ein. �Jeder, der etwas mit der Verhaftung dieses Mannes zu tun gehabt hat, ist in Gefahr. Zwei M�nner sind bereits tot. Wir glauben, dass der Patriarch in Gefahr ist.�
Die W�rter lie�en sich nicht beeindrucken. �Wir geben es weiter.�
�Wir m�ssen sofort mit ihm sprechen!�
�Auch wenn Sie von der Miliz sind, der Patriarch hat uns Anweisung gegeben, niemanden einzulassen.�
Pl�tzlich h�rte man von oben tumultartigen L�rm und Schreie. Von einem Moment zum anderen verwandelte sich die Selbstgef�lligkeit der W�rter in Panik. Sie verlie�en ihren Posten, rannten, gefolgt von Leo und Timur, die Treppe hinauf und sprengten in einen gro�en Saal voller Kinder. Ein Kn�u�el von Mitarbeitern umringte eine T�r und r�ttelte vergebens daran. Die W�rter st�rzten sich ins Get�mmel und zerrten am T�rgriff, dabei prasselten alle m�glichen Erkl�rungen auf sie ein.
�Mit dem neuen Jungen.�
�Krassikow antwortet nicht.�
�Irgendwas ist zerdeppert.�
Leo beendete das Geschnatter: �Tretet die T�r ein!� Unsicher wandten sie sich zu ihm um. �Schnell!�
Der Schwerste und St�rkste der W�rter dr�ngte sich nach vorn und lie� seine Schulter gegen den T�rrahmen krachen. Beim zweiten Versuch brach die T�r auf.
Leo und Timur kletterten durch die aufgesplitterte L�cke in den Raum. Eine junge Stimme rief in ebenso gebieterischem wie selbstsicherem Ton: �Bleibt, wo ihr seid!�
Die W�rter blieben wie angewurzelt stehen - unerschrockene M�nner, die nichts gegen das unternehmen konnten, was sie da vor sich sahen.
Der Patriarch hockte ihnen zugewandt auf den Knien, sein Gesicht war krebsrot. Der Mund war aufgerissen, die Zunge hing absto�end heraus wie eine zusammengerollte Schnecke. Sein Hals wurde von einem d�nnen Stahldraht zusammenge�quetscht, der bis hin zu dem Jungen lief. Der Junge hatte seine Finger mit Lappen umh�llt und darum in mehreren Windungen den Draht gewickelt. Wie ein Herrchen mit seinem Hund stand er da und �bte eine absolute, t�dliche Kontrolle aus. Wenn er den Draht nur noch ein kleines bisschen mehr spannte, w�rde er den Patriarchen entweder erw�rgen oder ihm tief in die Kehle schneiden.
Vorsichtig machte der Junge einen Schritt zur�ck und hielt dabei den Draht weiter straff, er lockerte ihn keine Sekunde. Jetzt war er schon fast am Fenster. Leo l�ste sich aus der Grup�pe der W�rter, die von ihrem eigenen Versagen wie gel�hmt waren. Etwa zehn Meter lagen noch zwischen ihm und dem Patriarchen. Leo konnte es nicht riskieren vorzupreschen. Selbst wenn er den Patriarchen erreichte, w�rde er nie und nimmer seine Finger unter den Draht bekommen.
Der Junge schien Leos �berlegungen zu ahnen und sagte: �Noch einen Schritt, und er ist tot.�
Er riss das kleine Fenster auf und kletterte auf den Sims. Sie befanden sich im ersten Stock, zu hoch zum Springen.
�Was willst du?�, fragte Leo.
�Dass dieser Mann um Verzeihung bittet, dass er Priester verraten hat. Priester, die er eigentlich besch�tzen sollte.�
Der Junge sprach, als ob er seinen Text auswendig gelernt hatte. Leo warf dem Patriarchen einen raschen Blick zu. Die Be�drohung seines Lebens w�rde ihn bestimmt gef�gig machen. Der Junge hatte den Auftrag, ihm eine Entschuldigung abzupressen. Wenn er deshalb hergekommen war, dann w�rde der Patriarch gehorchen. Das war der einzige Spielraum, den Leo hatte.
�Er wird sich entschuldigen. Lockere den Draht. Lass ihn sprechen. Deshalb bist du doch hergekommen.�
Nickend best�tigte der Patriarch, dass er die Bedingung er�f�llen w�rde. Der Junge �berlegte kurz, dann lockerte er die Schlinge. Krassikow keuchte und atmete m�hsam ein.
Un�berwindliche Widerstandskraft blitzte in den Augen des alten Mannes auf, und Leo erkannte, dass er sich vollkommen versch�tzt hatte. Der Patriarch sammelte die letzten Kr�fte und spuckte seine Worte buchst�blich aus.
�Wer immer dich geschickt hat, sag ihm ... dass ich ihn ... wieder verraten w�rde!�
Die Blicke aller anderen schossen zu dem Jungen hin�ber. Aber der war schon weg. Er war aus dem Fenster gesprungen.
Der Draht peitschte hoch, als pl�tzlich das ganze Gewicht des Jungen am Hals des alten Mannes zerrte und den Patriarchen mit solcher Wucht zur�ckriss, dass er von den Knien hochschoss wie eine Marionette an ihren F�den. Dann fiel er auf den R��cken und wurde �ber den Boden geschleift, bis er schlie�lich in das kleine Fenster krachte und sein K�rper sich im Rahmen verkeilte. Leo sprang vor und griff nach dem Draht, der den Hals des Patriarchen abschn�rte. Er versuchte ihn zu lockern, aber der Draht hatte bereits die Haut durchgeschnitten und die Muskeln durchtrennt. Leo war machtlos.
Er warf einen Blick aus dem Fenster und entdeckte den Jun�gen unten auf der Stra�e. Ohne ein Wort rannten Leo und Timur aus dem Zimmer und lie�en die best�rzten W�rter zur�ck. Sie durchquerten den Hauptsaal mit der Kinderschar und st�rzten nach unten. Der Kerl war geschickt und flink, aber er war auch noch jung und bestimmt nicht schneller als sie.
Als sie die Stra�e erreichten, war er wie vom Erdboden ver�schluckt. In der n�heren Umgebung gab es weder Seitengassen noch Kurven, und in der kurzen Zeit, die sie bis nach drau�en gebraucht hatten, konnte er unm�glich die ganze Stra�e hochge�laufen sein. Leo rannte zu dem Fenster, aus dem noch der Draht hing. Er fand die Fu�abdr�cke des Jungen und folgte ihnen bis zu einem Kanaldeckel. Der Schnee war beiseitegeschoben worden. Timur hob den Deckel hoch. Das Loch war tief, eine Eisen�leiter f�hrte hinab in die Kanalisation. Der Junge war schon fast unten, die H�nde hatte er immer noch mit Lappen umwickelt. Als er die Helligkeit �ber sich wahrnahm, sp�hte er kurz nach oben, und sein Gesicht schien im Tageslicht auf. Sobald er Leo sah, lie� er die Leiter los und lie� sich fallen, dann verschwand er in der Finsternis.
Leo drehte sich Timur zu. �Hol die Taschenlampen aus dem Wagen.�
Ohne abzuwarten, griff Leo nach der Leiter und kletterte hinab. Die eisernen Leitersprossen waren eiskalt, und ohne Handschuhe blieb seine Haut an ihnen kleben. Jedes Mal, wenn er seinen Griff l�ste, riss sie ein. Im Wagen lagen Handschu�he, aber er konnte seine Verfolgung jetzt nicht unterbrechen. Die Kanalisation war ein Labyrinth aus Tunneln, und in jedem konnte der Junge verschwinden. Leo biss vor Schmerzen die Z�hne zusammen. Seine Handfl�chen fingen an zu bluten, weil immer mehr Hautfetzen abgerissen wurden. Tr�nen schossen ihm in die Augen. Er blinzelte nach unten und sch�tzte die rest�liche Strecke ab. Zum Springen war er noch zu hoch, er musste weiterklettern und das rohe Fleisch gegen den eiskalten Stahl pressen. Leo schrie auf und lie� die Leiter los.
Er kam ungl�cklich auf einem Betonvorsprung auf, glitt aus und w�re beinahe in einen Abwasserkanal gest�rzt. Als er festen Tritt gefunden hatte, blickte er sich pr�fend um. Es war ein gro��er Backsteintunnel, etwa in der Gr��e eines U-Bahntunnels. Das Sonnenlicht aus dem Schacht �ber ihm erhellte zwar ein St�ckchen Erde um ihn herum, aber kaum mehr. Vor ihm herrschte Stockfinsternis bis auf ein flackerndes Licht etwa f�nf�zig Meter vor ihm, es sah aus wie ein Gl�hw�rmchen. Das war der Junge. Er hatte eine Taschenlampe, offenbar hatte er seine Flucht gut vorbereitet.
Das Licht verschwand. Entweder hatte der Junge die Taschenlampe ausgeschaltet, oder er war in einen anderen Tunnel abge�bogen. Leo konnte ihm in der Dunkelheit nicht folgen, konnte nicht einmal den Betonsims erkennen. Er sp�hte hinauf in den Schacht und wartete auf Timur. Jetzt kam es auf jede Sekunde an.
�Na los ...�
Oben kam Timurs Gesicht zum Vorschein. �Lass sie fallen.�
Wenn er die Taschenlampe nicht auffing, w�rde sie auf dem Betonboden zerschellen und er den Jungen erst weiter verfolgen k�nnen, wenn Timur unten war. Bis dahin konnte der Junge schon weg sein. Timur trat zur�ck, um nicht im Licht zu stehen. Dann erschien genau in der Mitte des Schachts sein ausgestreck�ter Arm mit der Taschenlampe. Er lie� los.
Leos Augen verfolgten, wie die Lampe sich drehte, die Wand streifte, zur�ckgeschleudert wurde - ihr Fall war vollkommen unvorhersagbar. Er machte einen Schritt vor, streckte die Hand aus und schnappte nach dem Griff. Seine rohen H�nde brannten, als er ihn umklammerte. Er widerstand dem Instinkt loszulas�sen und schaltete die Lampe ein. Die Birne funktionierte noch. Er leuchtete in die Richtung, in die der Junge verschwunden war, und sah einen schmalen Vorsprung, der �ber dem lang�sam dahinflie�enden F�kalienstrom den ganzen Tunnel s�umte. Leo setzte sich in Bewegung, kam aber wegen des Eises und Schlamms nur langsam voran, immer wieder rutschten seine klobigen Stiefel auf dem glitschigen Boden aus. Durch die K�lte war der Gestank noch ertr�glich, au�erdem atmete Leo nur kurz und flach.
Da, wo der Junge verschwunden war, h�rte der Vorsprung auf. Von hier ging ein viel schmalerer Nebentunnel ab, nur unge�f�hr einen Meter breit und vom Grund vermutlich schulterhoch. Dieser Seitentunnel m�ndete in den Kanal unter Leo. Die W�nde waren mit Exkrementen �berzogen. Dort musste der Junge hi�naufgeklettert sein. Leo blieb keine Wahl, als ebenfalls in den Tunnel zu kriechen.
Leo deponierte zuerst die Taschenlampe, nahm dann allen Mut zusammen und dr�ckte die H�nde an die dreckstarren�den Seitenw�nde. Es brannte wie Feuer, als das rohe Fleisch auf Dreck und F�kalien traf. Benommen vor Schmerzen versuchte Leo sich hochzuziehen. Er wusste, wenn er jetzt den Halt verlor, w�rde er in den Dreckstrom unter sich fallen. Aber weiter im Tunnel gab es nichts mehr, woran er sich festhalten konnte. Er streckte den Arm aus, seine Hand glitt �ber die spiegelglatte Oberfl�che. Eine Stiefelspitze fand Halt in der Ziegelmauer, und er dr�ckte sich in den Tunnel hoch. Dann blieb er auf dem R�cken liegen und versuchte sich den Schmutz von den H�nden zu wischen. Hier in der Enge war der Gestank unertr�glich. Leo w�rgte, schaffte es aber, sich nicht zu �bergeben. Er nahm die Taschenlampe und leuchtete in den Tunnel hinein. Dann kroch er auf dem Bauch voran und schob sich dabei mit den Ellbogen weiter vor.
Eine Reihe verrosteter Gitterst�be hinderte ihn am Weiter�kommen. Der Abstand zwischen ihnen machte weniger als eine Handbreit aus. Der Junge musste einen anderen Weg genom�men haben. Leo wollte schon umkehren, hielt dann aber inne. Es gab keinen anderen Weg, da war er sich sicher. Er wischte den Schleim von den St�ben und untersuchte sie. Zwei waren locker. Er umklammerte sie und r�ttelte daran. Sie lie�en sich herausziehen. Der Junge hatte seine Fluchtroute vorher ausge�kundschaftet, deshalb hatte er auch eine Taschenlampe dabei und vorher gewusst, dass man sich die Finger mit Lappen um�wickeln musste. Er hatte von Anfang an vorgehabt, durch die Kanalisation zu entkommen. Selbst nachdem Leo die beiden Gitterst�be entfernt und seine Jacke ausgezogen hatte, konnte er sich nur mit M�he durch die L�cke zw�ngen. Er fand sich in einer h�hlenartigen Kammer wieder.
Als er den Fu� aufsetzen wollte, schien der Boden unter ihm in Bewegung zu sein. Leo leuchtete hinunter. Alles war voller Ratten, in drei oder vier Lagen krochen sie �bereinander. Gr��er noch als sein Ekel war sein Erstaunen dar�ber, dass sie alle in einer Richtung unterwegs waren. Er richtete den Lichtkegel in die Richtung, aus der sie kamen, und sah, dass sie aus einem gr��eren Tunnel flohen. In diesem Tunnel entdeckte Leo den Jungen, etwa hundert Meter lagen zwischen ihnen. Der Junge rannte nicht, sondern stand mit einer Hand an die Tunnelwand gelehnt. Leo sp�rte, dass etwas nicht stimmte, und schlich sich behutsam weiter vor.
Ruckartig drehte der Junge sich um, und als er seinen Verfol�ger gesehen hatte, rannte er weiter. Seine Taschenlampe hatte er mittlerweile an einer Kordel um den Hals h�ngen, sodass er beide H�nde frei hatte. Leo streckte eine Hand aus und legte sie an die Tunnelwand. Etwas vibrierte so heftig, dass seine Finger zu zittern anfingen.
Der Junge sprintete weiter, das Wasser klatschte ihm um die Fu�gelenke. Leo verfolgte die Flucht mit der Taschenlampe. Wendig wie eine Katze nutzte der Junge die Rundungen der Tunnelw�nde aus, lief an einer Seite hinauf, schnellte zur�ck und sprang hoch. Sein Ziel war die unterste Sprosse einer Leiter, die aus einem senkrechten Schacht �ber ihm lugte. Der Junge verfehlte sie und landete klatschend auf dem Boden. Leo rannte los. Hinter sich konnte er Timurs angeekeltes Fluchen h�ren, bestimmt wegen der vielen Ratten. Der Junge war schon wieder auf den Beinen und nahm Anlauf f�r einen zweiten Sprung in Richtung Leiter.
Urpl�tzlich schwoll das beinahe unbewegliche Rinnsal an und verbreiterte sich. Ein unheimliches Get�se erf�llte den Tun�nel. Leo richtete die Taschenlampe nach oben. Der Lichtstrahl erfasste wei�e Gischt, eine Bugwelle, die in kaum zweihundert Metern Entfernung auf sie zuraste.
Ihnen blieben nur noch Sekunden. Der Junge machte einen weiteren Versuch, die Leiter zu erreichen. Er lief die Wand hoch und griff nach der untersten Sprosse. Diesmal erwischte er sie mit beiden H�nden. Er zog sich hoch und kletterte in den senkrechten Schacht, weg vom Wasser. Leo drehte sich um. Das Wasser kam immer n�her. Gerade hatte Timur den Haupttunnel erreicht.
Als er am Fu� der Leiter ankam, klemmte Leo sich die Ta�schenlampe zwischen die Z�hne und sprang hoch. Er erwischte die eiserne Sprosse und zog sich mit brennenden H�nden hoch. �ber sich sah er den Jungen kraxeln. Ohne auf die Schmerzen zu achten, kletterte Leo ihm so schnell wie m�glich nach. Er holte auf, erwischte seinen Fu� und hielt ihn fest, obwohl der Junge sich freizutreten versuchte. Leo richtete mit der anderen Hand den Lichtstrahl nach unten. Am Fu�e des Schachts sah er, wie Timur verzweifelt seine Taschenlampe fallen lie� und zur untersten Sprosse hochsprang. Gerade hatte er sie mit beiden H�nden gepackt, da schoss das Wasser um ihn herum ein, sodass wei�e Gischt den Schacht hinaufspritzte.
Der Junge lachte. �Wenn du deinen Freund retten willst, musst du mich schon loslassen.�
Er hatte recht. Leo musste ihn loslassen, hinabklettern und Timur helfen.
�Sonst stirbt er.�
Nach Luft schnappend tauchte Timur aus dem Wasser auf und zog sich hoch. Dann h�ngte er seinen Arm in die n�chste Sprosse ein und kletterte aus der Gischt. Sein K�rper war immer noch unter Wasser, aber er hatte festen Halt. Er sah zu Leo hoch. �Alles klar.�
Erleichtert blieb Leo, wo er war, und hielt weiter das Fu߭gelenk des Jungen umklammert, der wie wild um sich trat. Timur zog sich bis zu Leo hoch, nahm ihm die Taschenlampe aus dem Mund und richtete sie auf das Gesicht des Jungen.
�Wenn du noch einmal zutrittst, breche ich dir das Bein.�
Der Junge h�rte auf. Timur hatte keinen Zweifel daran gelas�sen, dass er es ernst meinte.
Leo befahl ihm: �Wir klettern jetzt zusammen hoch bis zum n�chsten Absatz. Und zwar langsam, verstanden?�
Der Junge nickte. M�hsam kletterten alle drei nach oben, ein Gewirr von Armen und Beinen, das aussah wie eine missgestal�tete Spinne.
Oben an der Leiter wartete Leo, das Fu�gelenk des Jungen umklammert, bis Timur �ber sie beide hin�bergeklettert war und den Gang �ber ihnen erreicht hatte.
�Lass ihn los.�
Leo lie� das Bein los und kletterte hinterher. Timur hielt die Arme des Jungen auf den Boden gedr�ckt. Um seine blutigen Handfl�chen zu schonen, nahm Leo die Taschenlampe mit spit�zen Fingern und richtete sie auf das Gesicht des Jungen. �Deine einzige Chance, am Leben zu bleiben, ist, mit mir zu reden. Du hast einen sehr wichtigen Mann umgebracht. Eine Menge Leute werden wollen, dass du hingerichtet wirst.�
Timur sch�ttelte nur den Kopf. �Du verschwendest deine Zeit. Schau dir mal seinen Hals an.�
Am Hals des Jungen prangte eine T�towierung. Es war ein orthodoxes Kreuz.
�Er geh�rt einer Bande an�, erkl�rte Timur. �Der w�rde eher sterben, als den Mund aufzumachen.�
Der Junge grinste. �Du bist hier unten. Aber da oben ist deine Frau ... Raisa ...�
Leo reagierte sofort. Er zerrte den Jungen am Hemd hoch, zog ihn von Timur weg und hob ihn von den Beinen. Auf so eine Gelegenheit hatte der Junge nur gewartet. Wie ein Aal schl�pf�te er aus seinem Hemd, lie� sich zu Boden fallen und hechtete zur Seite - Leo hielt von einem Moment auf den anderen nur noch sein Hemd in H�nden. Mit der Taschenlampe suchte er den Schacht ab und entdeckte den Jungen, der am Rand des Schachtes kauerte. Dann machte er einen Schritt vor und st�rzte sich in das Wasser unter ihm. Leo warf sich auf ihn, aber zu sp�t. Er stierte nach unten, doch von dem Jungen gab es keine Spur mehr. Er war in den rei�enden Fluss gefallen und weggetrieben worden.
Verzweifelt suchte Leo die Umgebung ab: ein Betontunnel ohne irgendeine �ffnung. Raisa war in Gefahr. Und hier war kein Herauskommen.
Am selben Tag
Raisa sa� dem Schuldirektor Karl Enukidse gegen�ber, einem freundlichen Mann mit grauem Bart. Auch Sojas Lehrerin Julia Peschkowa war dabei. Karl hatte die H�nde unter seinem Kinn verschr�nkt und kratzte sich ausgiebig den Bart. Dabei sah er abwechselnd Raisa und Julia an. Julia versuchte jeden Augen�kontakt zu vermeiden, biss sich auf die Lippen und w�nschte sich nur weg von hier. Raisa konnte ihre Angst verstehen. Wenn die Zerst�rung des Stalin-Bildes untersucht wurde, w�rde Soja vom kgb in die Mangel genommen werden. Aber die anderen auch. Man w�rde sich fragen, wer daran schuld war. War dem Kind der Vorwurf zu machen oder den Erwachsenen, die es beeinflusst hatten? War Karl ein Subversiver, der seine Sch�ler an�statt zu gl�hendem Patriotismus zu regimekritischem Verhalten anleitete? Fehlte es Julias Unterricht an sowjetischer Pr�gung? Fragen w�rden aufkommen �ber Raisas Bef�higung als Vor�mund. Rasch rechneten sich alle die m�glichen Konsequenzen aus.
Raisa brach das Schweigen. �Wir benehmen uns, als sei Stalin noch am Leben. Aber die Zeiten �ndern sich schnell. Heute ist keinem mehr danach, ein vierzehnj�hriges Kind zu denunzieren. Ihr habt doch die Rede gelesen. Chruschtschow gibt zu, dass die Verhaftungen zu weit getrieben wurden. Wir m�ssen doch eine interne Schulangelegenheit nicht gleich nach oben melden. Das k�nnen wir unter uns regeln. Worum geht es hier denn �ber�haupt? Doch nur um ein verst�rtes junges M�dchen, f�r das ich die Verantwortung trage. Lasst mich ihr helfen.�
Aber nach der Reaktion der beiden anderen zu urteilen, lie� sich lebenslange Leisetreterei nicht einfach durch eine einzige Rede wegwischen, egal, wer sie gehalten und was er gesagt hatte.
Daher wechselte Raisa die Strategie. �Es w�re am besten, wenn der Vorfall gar nicht erst gemeldet w�rde.�
Julia hob den Kopf. Karl lehnte sich zur�ck. Eine neue Runde des Abw�gens setzte ein. Raisa hatte versucht, die Sache unter den Teppich zu kehren. Dieser Vorschlag lie� sich gegen sie ver�wenden.
Julia reagierte. �Wir sind nicht die Einzigen, die wissen, was passiert ist. Die Sch�ler in meiner Klasse haben alles mitbekom�men. Es sind �ber drei�ig. Mittlerweile haben die doch l�ngst mit ihren Freunden gesprochen, also wissen es noch mehr. Und die Zahl wird weiter steigen. Ich w�re �berrascht, wenn morgen nicht die ganze Schule dar�ber spricht. Die Nachricht wird sich �ber die Schulgrenzen hinaus verbreiten, die Eltern werden es erfahren und wissen wollen, warum wir nichts unternommen haben. Was sollen wir dann sagen? Dass wir die Sache nicht f�r so wichtig gehalten haben? Das k�nnen wir doch gar nicht entscheiden, Raisa. Da m�ssen wir uns auf den Staat verlassen. Die Leute werden es mitbekommen, Raisa, und wenn wir nicht reden, dann macht es sonst jemand.�
Sie hatte recht. Die Sache zu verheimlichen war unm�glich. In die Defensive geraten, konterte Raisa: �Und wie w�re es, wenn Soja die Schule mit sofortiger Wirkung verl�sst? Ich w�rde mit Leo sprechen und der mit seinen Kollegen, wir w�rden eine andere Schule f�r Soja finden. Dass ich ebenfalls den Dienst quittieren w�rde, versteht sich von selbst.�
Dass Soja ihre Ausbildung hier fortsetzen konnte, war ohne�hin aussichtslos. Die anderen Sch�ler w�rden sie schneiden. Sie w�rden nicht mehr mit ihr sprechen, viele w�rden nicht einmal mehr neben ihr sitzen wollen. Die Lehrer w�rden sie nicht mehr in ihrer Klasse haben wollen. So sicher, als h�tte man ihr ein Kreuz auf den R�cken geschmiert, war Soja von jetzt an eine Ausgesto�ene.
�Ich schlage vor, dass Sie, Karl Enukidse, �ber unseren Ab�gang keine Meldung machen. Wir sind einfach nicht mehr da, fertig.�
Die anderen Sch�ler und Lehrer w�rden annehmen, dass man sich um die Angelegenheit �gek�mmert� hatte. Niemand w�rde dar�ber sprechen wollen, weil so hart durchgegriffen worden war. Das Thema w�rde verschwinden wie ein sinkendes Schiff auf See, an dem andere Schiffe vorbeifuhren, w�hrend s�mtliche Passagiere in die entgegengesetzte Richtung schauten.
Karl dachte �ber den Vorschlag nach. Schlie�lich fragte er: �Und Sie w�rden sich um alles k�mmern, was es zu regeln g�be?�
�Ja.�
�Auch die Sache mit den zust�ndigen Beh�rden besprechen? Haben Sie Verbindungen zum Bildungsministerium?�
�Leo bestimmt, da bin ich mir sicher.�
�Und ich muss nicht mit Soja reden? Ich muss mich �ber�haupt nicht mit ihr abgeben?�
Raisa sch�ttelte den Kopf. �Ich nehme einfach nur meine Tochter und verschwinde von hier. Sie machen weiter wie ge�habt, als w�re ich nie da gewesen. Morgen werden weder Soja noch ich zum Unterricht erscheinen.�
Karl warf Julia einen vielsagenden Blick zu, der bedeutete, dass er daf�r war. Jetzt kam es auf sie an.
Raisa wandte sich ihrer Freundin zu. �Julia?� Sie kannten sich jetzt schon seit drei Jahren. Oft hatten sie sich gegenseitig geholfen. Sie waren Freundinnen. Julia nickte. �Ich denke, das w�re wohl das Beste.� Es war das letzte Mal, dass sie miteinander sprachen.
Im Flur vor dem B�ro wartete Soja. L�ssig lehnte sie an der Wand, so als habe sie nur ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ihre Hand war verbunden, der Schnitt hatte heftig geblutet. Nachdem der Kuhhandel perfekt war, schloss Raisa die B�rot�r hinter sich und lehnte sich dagegen. Pl�tzlich war sie nur noch ersch�pft. Sie war gerade noch einmal davongekommen. Jetzt kam es auf Leo an. Raisa ging zu Soja: �Komm, gehen wir nach Hause.�
�Mein Zuhause ist das nicht.�
Keine Dankbarkeit. Nichts als Verachtung. Raisa war kurz davor, in Tr�nen auszubrechen.
Als sie das Schulgeb�ude verlie�en, blieb Raisa am Tor ste�hen. Waren sie so schnell verraten worden? Zwei uniformierte Beamte kamen auf sie zu. �Raisa Demidowa?�
Der �ltere der beiden �bernahm das Reden. �Wir sind von Ihrem Mann geschickt worden, um Sie nach Hause zu beglei�ten.�
�Was ist los?�
�Ihr Mann will sichergehen, dass Ihnen nichts passiert. Die Einzelheiten kann ich Ihnen leider nicht erkl�ren, au�er dass sich eine Reihe von Vorf�llen ereignet hat. Unsere Anwesenheit ist eine reine Vorsichtsma�nahme.�
Raisa �berpr�fte ihre Ausweise. Sie waren in Ordnung.
�Arbeiten Sie f�r meinen Mann?�, fragte sie.
�Wir geh�ren zu seinem Morddezernat.�
Da das Dezernat geheim war, tat schon dieses Eingest�ndnis das Seine, um Raisas Argwohn zu best�rken. Sie reichte die Aus�weise zur�ck und sagte zu den M�nnern: �Wir m�ssen Elena noch abholen.�
W�hrend sie zum Wagen liefen, zerrte Soja an ihrer Hand. Ihre Stimme war nur ein Fl�stern. �Ich traue ihnen nicht.�
* * *
Als Karl wieder allein in seinem B�ro war, starrte er aus dem Fenster.
Die Zeiten �ndern sich schnell.
Vielleicht stimmte das ja. Er wollte es so gerne glauben und die ganze Geschichte ad acta legen, so wie sie es besprochen hatten. Er hatte Raisa immer gemocht. Sie war intelligent und sch�n, und er w�nschte ihr nur das Beste. Dann griff er nach dem Tele�fonh�rer und �berlegte, mit welchen Worten er ihre Tochter am besten denunzierte.
Am selben Tag
Zornig blitzte Soja im Fond des Wagens die Milizbeamten an und verfolgte jede ihrer Bewegungen, als sei sie mit zwei Gift�schlangen zusammengesperrt. Der Beamte auf dem Beifahrersitz hatte sich zwar um eine oberfl�chliche Freundlichkeit bem�ht, sich umgedreht und die M�dchen angel�chelt, doch an beiden war sein L�cheln abgeprallt. F�r Soja gab es zwischen KGB und Miliz keinen Unterschied. Sie verabscheute diese M�nner, sie hasste ihre Uniformen und Rangabzeichen, ihre Lederg�rtel und die schwarzen Stiefel mit den Stahlkappen.
Raisa sah aus dem Fenster, um herauszufinden, wo in der Stadt sie waren. Der Abend war hereingebrochen, und flackernd gingen die Stra�enlaternen an. Raisa, die nicht gewohnt war, im Auto nach Hause zu fahren, versuchte zu erkennen, wo sie sich befanden. Das war doch gar nicht der Weg zu ihrer Wohnung. Bem�ht, dass man ihr die innere Unruhe nicht anh�rte, beugte sie sich vor und fragte: �Wohin fahren wir?�
Der Beamte auf dem Beifahrersitz drehte sich um, sein Ge�sicht war ausdruckslos. Unter seinem R�cken knarzte die Leder�polsterung.
�Wir bringen Sie nach Hause.�
�Das ist aber gar nicht die richtige Richtung.�
Soja schnellte vor: �Lassen Sie uns raus!�
Der Beamte zog eine Visage. �Was?�
Soja fragte nicht zweimal. W�hrend der Wagen noch fuhr, zog sie an der Verriegelung und stie� die T�r mitten auf der Stra�e auf. Grelle Scheinwerfer blitzten durchs Fenster, als ein entgegenkom�mender Laster ausbrach, um einen Zusammensto� zu vermeiden.
Raisa packte Soja, umklammerte ihre Taille und zog sie ge�rade noch rechtzeitig wieder hinein, bevor der Laster die offene T�r streifte und zuknallte. Durch den Aufprall wurde das Blech eingedellt und das Fenster zerschmettert, Glassplitter regneten ins Wageninnere. Die Beamten br�llten, Elena schrie. Der Wagen knallte �ber die Bordsteinkante und schoss auf den B�rgersteig, wo er schlitternd am Rand zum Stehen kann.
Eine benommene Stille folgte. Blass und keuchend drehten die beiden Beamten sich um. �Was ist denn mit der los?�
Der Fahrer tippte sich an die Stirn: �Die ist wohl nicht ganz richtig im Kopf.�
Raisa achtete nicht auf sie, sondern untersuchte Soja. Sie war unverletzt, aber ihre Augen gl�hten. Etwas Unb�ndiges ging von ihr aus wie die Urkr�fte eines Wildkindes, das bei W�lfen auf�gewachsen und jetzt von Menschen gefangen worden war, sich aber nicht z�hmen und zivilisieren lassen wollte.
Der Fahrer stieg aus und nahm die besch�digte T�r in Augen�schein. Dann kratzte er sich kopfsch�ttelnd den Sch�del.
�Wir bringen Sie doch nur nach Hause? Wo liegt denn da ein Problem?�
�Das ist nicht der richtige Weg.�
Der Beamte holte einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn Raisa durch das Loch, in dem einmal das Fenster gewesen war. Es war Leos Handschrift. Verdutzt las Raisa die Adresse, bis sie merkte, dass es die der Wohnung von Leos Eltern war. Ihr Zorn verrauchte. �Da wohnen Leos Eltern.�
�Ich wusste nicht, wessen Wohnung das ist. Ich f�hre nur meine Befehle aus.�
Soja wand sich aus der Umklammerung und kletterte �ber ihre Schwester hinweg aus dem Wagen. Raisa rief ihr nach. �Soja, es ist alles in Ordnung!�
Soja lie� sich nicht beeindrucken und kam nicht zur�ck. Der Fahrer ging auf sie zu. Als Raisa sah, dass er sie packen wollte, schrie sie: �R�hren Sie sie nicht an! Lassen Sie sie in Ruhe! Wir gehen den Rest zu Fu�.�
Der Fahrer sch�ttelte wieder den Kopf. �Wir haben aber Be�fehl, bei Ihnen zu bleiben, bis Leo kommt.�
�Dann fahren Sie eben hinter uns her. Wir steigen nicht wie�der in den Wagen.�
Elena sa� immer noch weinend auf der R�ckbank. Raisa legte einen Arm um sie. �Soja geht es gut. Ihr ist nichts passiert.�
Elena schien diese Worte abzuw�gen, dann sah sie ihre Schwester an. Als sie sah, dass Soja unverletzt war, versiegten die Tr�nen.
Die letzten wischte Raisa ihr weg. �Wir gehen zu Fu� weiter. Es ist nicht mehr weit. Schaffst du das?�
Elena nickte. �Ich mag es nicht, wenn man mich nach Hause f�hrt.�
Raisa l�chelte. �Ich auch nicht.�
Raisa half Elena aus dem Wagen. Entnervt �ber diesen Exodus der Fahrg�ste rang der Fahrer die H�nde.
Leos Eltern wohnten in einem niedrigen Bau im Norden der Stadt, zusammen mit zahlreichen anderen Senioren, de�ren Kinder Staatsbeamte waren. Es handelte sich um eine Art Altenheim f�r Privilegierte. Im Winter spielten die Einwohner miteinander im Wohnzimmer des einen oder anderen Karten, im Sommer spielten sie drau�en auf dem Rasen Karten. Sie gingen zusammen einkaufen, kochten zusammen - eine Gemeinschaft mit nur einer Regel: Nie sprachen sie �ber die Arbeit ihrer Kin�der.
Raisa betrat das Geb�ude und f�hrte die Kinder zum Aufzug. Just als die Milizbeamten sie einholten, schlossen sich die T�ren, sodass die Polizisten die Treppe nehmen mussten. Nie und nim�mer h�tte Soja es auf so engem Raum mit den beiden M�nnern ausgehalten. Als sie im siebten Stock ankamen, f�hrte Raisa die M�dchen durch den Flur bis zur letzten Wohnung. Leos Vater Stepan �ffnete die T�r, er war �berrascht, sie zu sehen. Schnell verwandelte sich seine �berraschung in Sorge. �Was ist denn los?�
Leos Mutter Anna kam aus dem Wohnzimmer, auch sie war besorgt.
Raisa erkl�rte den beiden: �Leo will, dass wir hierbleiben.� Sie deutete auf die Polizisten, die sich vom Treppenhaus her n�herten, und f�gte hinzu: �Wie haben eine Eskorte dabei.�
�Wo ist Leo? Was ist los?� Angst lag in Annas Stimme. Raisa sch�ttelte den Kopf. �Ich wei� es nicht.�
Die Beamten erschienen an der T�r. Der �ltere der beiden, der auch den Wagen gefahren hatte, war noch ganz au�er Atem vom Treppensteigen.
�Gibt es noch einen Zugang zu dieser Wohnung?�, fragte er.
Anna antwortete: �Nein.�
�Dann bleiben wir hier drau�en.�
Aber Anna wollte mehr wissen. �K�nnen Sie uns erkl�ren, was hier vor sich geht?�
�Es ist zu Racheakten gekommen. Mehr wei� ich nicht.�
Raisa schloss die T�r. Aber Anna war noch nicht bes�nftigt: �Es geht Leo doch gut, oder?�
Z�hneknirschend musste Soja sich Anna anh�ren und zu�sehen, wie beim Sprechen die Hautfalten unter ihrem Kinn wabbelten. Dick und fett war sie, weil sie den lieben langen Tag nichts tat, als sich von ihrem Sohn mit teuren und knappen Le�bensmitteln versorgen zu lassen. Soja konnte es kaum ertragen, sich ihre Sorgen um Leo anzuh�ren. Diese Stimme, die beinahe erstickte vor Angst um ihren M�rdersohn.
Geht es Leo gut? Es geht ihm doch gut, oder?
Und die Leute, die er verhaftet hatte, die Familien, die er zer�st�rt hatte? Ging es denen gut? Sie h�tschelten ihn wie ein Kind. Noch schlimmer als ihre Sorge war ihr elterlicher Stolz. Jede seiner Geschichten begeisterte sie, bei jedem seiner Worte hingen sie ihm an den Lippen. Diese ganzen Liebesbezeugungen waren nicht zum Aushalten: die K�sse, Umarmungen, Scherze. Sowohl Stepan als auch Anna waren willf�hrige Spie�gesellen in Leos Scharade und taten so, als seien sie eine ganz normale Familie. Sie planten Ausfl�ge und Einkaufsbummel, nat�rlich nur zu den privilegierten Gesch�ften und nicht etwa denen mit den langen Schlangen und dem knappen Angebot. Alles war nett. Alles war angenehm. Alles war eine L�ge, die den Mord an ihrem Vater und ihrer Mutter vertuschen sollte. Soja hasste sie daf�r, dass sie sie liebten.
�Racheakte?�, fragte Anna.
Sie wiederholte das Wort, als sei die Vorstellung unsinnig und erstaunlich, als k�nne niemand auch nur den geringsten Grund haben, ihren Sohn nicht zu m�gen. Soja konnte sich nicht mehr zur�ckhalten und mischte sich ein.
�Rache f�r die vielen Unschuldigen, die verhaftet worden sind! Was habt ihr denn gedacht, was euer Sohn die ganzen Jah�re gemacht hat? Habt ihr nicht die Rede gelesen?�
Unisono drehten sich Stepan und Anna entsetzt zu ihr um. Sie kannten die Rede nicht, hatten sie nicht gelesen. Soja merkte, dass sie im Vorteil war, und setzte ein Grinsen auf.
�Was f�r eine Rede?�, fragte Stepan.
�Die Rede dar�ber, wie euer Sohn unschuldige Opfer gefol�tert hat, wie er sie zu Gest�ndnissen zwang, wie er sie schlug. Dar�ber, wie die Unschuldigen in die Gulags geschickt wurden, w�hrend die Schuldigen in Wohnungen wie der hier lebten.�
Raisa stellte sich sch�tzend vor Soja. �Du musst aufh�ren. H�r sofort auf!�
�Warum denn? Es stimmt doch. Ich habe die Rede nicht ge�schrieben. Sie geh�rte zu meinem Unterricht. Ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat. Ihr habt kein Recht, Chruschtschows Worte zu zensieren. Bestimmt hat er gewollt, dass wir dar�ber reden, sonst h�tte er sie uns ja gar nicht vorlesen lassen. Sie ist kein Geheimnis. Alle wissen Bescheid. Alle wissen, was Leo getan hat.�
�Soja, h�r mir zu ...�
Aber Soja war jetzt in Fahrt und nicht mehr zu bremsen: �Ihr glaubt, keiner sollte die Wahrheit �ber euren wunderbaren Sohn erfahren? Diesen wunderbaren Sohn, der ihnen diese wunder�bare Wohnung besorgt hat, der ihnen mit den Eink�ufen hilft - euren wunderbaren M�rdersohn?�
Stepans Gesicht wurde fahl, seine Stimme zitterte vor Er�regung. �Du wei�t ja nicht, was du redest!�
�Glaubt ihr mir nicht? Dann fragt doch Raisa. Die Rede ist echt. Alles, was ich gesagt habe, ist die Wahrheit. Und alle wer�den wissen, dass euer Sohn ein M�rder ist.�
Anna konnte nur noch fl�stern. �Was ist das f�r eine Rede?� Raisa sch�ttelte den Kopf. �Dar�ber m�ssen wir im Moment nicht reden.�
Aber Soja lie� nicht locker. Sie hatte Gefallen an ihrer frisch entdeckten Macht gefunden. �Sie wurde von Chruschtschow ge�schrieben und beim 20. Parteitag gehalten. Darin hei�t es, dass euer Sohn und alle Staatsbeamten wie er M�rder sind. Sie haben gegen das Gesetz gehandelt. Sie sind keine Polizisten, sie sind Kriminelle! Fragt Raisa! Fragt sie, ob es stimmt! Fragt sie doch!�
Stepan und Anna wandten sich an Raisa. �Ja, es gibt da eine Rede. Darin kommen kritische Anmerkungen �ber Stalin vor.�
�Nicht nur �ber Stalin, auch �ber die Leute, die seinen Be�fehlen gehorcht haben, einschlie�lich eures Sohnes, dieses M�r�ders.�
Stepan trat auf Soja zu. �H�r auf, so was zu sagen.�
�Was zu sagen? M�rder? Leo, der M�rder? Was glaubt ihr, f�r wie viele Morde er noch verantwortlich ist, abgesehen von meinen Eltern?�
�Das reicht!�
�Ihr habt es die ganze Zeit gewusst. Ihr wusstet, womit er sein Geld verdiente, und es war euch egal, weil ihr gern in einer sch�nen Wohnung wohnen wolltet. Ihr seid genauso schlimm wie er. Er war wenigstens bereit, sich daf�r die Finger schmutzig zu machen!�
Anna schlug zu, eine saftige Ohrfeige. Dabei schrie sie auf sie ein. �Du wei�t ja nicht, wovon du redest, Fr�ulein. So redest du nur, weil du verw�hnt bist. Seit drei Jahren sehen sie dir jetzt schon alles nach. Du kannst machen, was immer du willst. Noch nie bist du gescholten worden. Wir haben das mitangesehen und nichts gesagt. Leo und Raisa wollten dir alles geben. Und jetzt sieh dich an, sieh, was aus dir geworden ist. Undankbar und verabscheuensw�rdig bist du, und dabei versuchen doch alle nur, dich zu lieben.�
Der Schlag brannte Soja im Gesicht, und das Gef�hl breitete sich �ber ihren ganzen K�rper aus, von ihrer stechenden Finger�spitze bis hinauf in den Nacken. Ihre Hand schoss vor, und sie kratzte Anna, grub ihre Fingern�gel so tief ein und riss so viel Haut ab, wie es nur ging. �Ich schei�e auf eure Liebe!�
Anna schrie auf und fuhr zur�ck. Aber Soja war noch nicht fertig, wie Klauen schlugen ihre Finger nach Anna. Raisa hielt ihr den Arm fest und drehte ihn um. Au�er sich suchte Soja nach einem neuen Ziel und richtete ihre Wut gegen Raisa. So fest sie nur konnte, biss sie ihr in den Arm.
Der Schmerz war so heftig, dass Raisa schwindelig wurde und ihr fast die Beine wegknickten. Stepan packte Sojas Kiefer und riss sie auseinander, als h�tte er es mit einem tollw�tigen Hund zu tun. Blut str�mte aus den tiefen Bissmalen. Soja strampelte und trat wie wild um sich. Stepan warf sie zu Boden, wo sie mit blutverschmierten, gefletschten Z�hnen liegen blieb.
Es klopfte an der T�r. Die Wachen hatten den Tumult geh�rt und wollten hinein. Raisa untersuchte den Biss: Er blutete heftig. Soja lag immer noch auf dem Fu�boden, die Augen wild, aber nicht mehr kampfeslustig. Stepan eilte ins Badezimmer und kam mit einem Handtuch zur�ck, das er auf Raisas Arm presste. Es klopfte wieder. Raisa drehte sich zu Anna um, die noch fast ge�nauso dastand wie eben, als sie angegriffen worden war. �ber ihr Gesicht zogen sich Kratzer, vier blutige Linien.
�Anna, wimmele die Polizisten ab. Sag ihnen, sie brauchen nicht einzugreifen.�
Anna reagierte nicht. Raisa musste laut werden. �Anna!�
Ihre geschundene Gesichtsh�lfte abwendend, �ffnete Anna die T�r und wollte die beiden Wachposten beruhigen. Sie hatte zwei Polizeibeamte erwartet und stutzte, als jetzt vier drau�en standen, als h�tten sie sich wie Bakterien geteilt und vermehrt. Die beiden neuen Beamten trugen allerdings andere Uniformen. Sie geh�rten zum KGB.
Die KGB-Agenten betraten die Wohnung und registrierten alles, was sie sahen: das M�dchen mit den blutigen Z�hnen und dem blutigen Mund auf dem Boden; die Frau mit dem blutenden Arm; die �ltere Frau mit dem zerkratzten Gesicht.
�Raisa Demidowa?�
Mit absurd anmutender Entschlossenheit versuchte Raisa, ihre Stimme fest und ruhig klingen zu lassen, w�hrend sich das Handtuch �ber ihren Bisswunden schon rot f�rbte. �Ja?�
�Wir m�ssen Ihre Tochter mitnehmen.� Ihre Aufmerksamkeit wandte sich Soja zu.
Raisas Plan war fehlgeschlagen. Entweder Julia oder der Schuldirektor hatten sie verraten. Ihrer Verletzung und allem, was gerade erst geschehen war, zum Trotz stellte sich Raisa in�stinktiv und besch�tzend vor Soja.
�Ihre Tochter hat ein Portr�t von Stalin zerst�rt.�
�Wir k�mmern uns bereits um die Angelegenheit.�
�Wir m�ssen sie mitnehmen.�
�Ist sie verhaftet?�
Als sie merkte, dass die KGB-Agenten entschlossen waren, ihren Befehl auszuf�hren, wandte Raisa sich an die eingesch�ch�terten Milizbeamten, die Polizisten, die Leo zu ihrem Schutz ge�sandt hatte. �Sie werden wohl warten m�ssen, bis mein Mann zur�ckgekehrt ist, nicht wahr?�
Der �ltere der beiden KGB-Agenten sch�ttelte den Kopf. �Unser Befehl lautet, Ihre Tochter zum Verh�r zu bringen. Ihr Mann hat nichts damit zu tun.�
�Diese M�nner haben Befehl sicherzustellen, dass wir hierbleiben, und zwar gemeinsam, bis mein Mann wieder da ist.�
Unterw�rfig trat der Milizbeamte vor. Raisas Mut sank. �Das sind Beamte vom KGB ...�
�Leo ist sicher gleich da. Wir bleiben zusammen, bis er kommt. Er kann das hier bestimmt aufkl�ren. Sie ist doch erst vierzehn. So schnell wird man sie ja wohl nicht irgendwo hin�bringen m�ssen. Wir k�nnen warten.�
Der KGB-Mann trat n�her und wurde lauter. �Wir m�ssen sie jetzt sofort mitnehmen!�
Irgendetwas an der Ungeduld der KGB-Leute war verd�ch�tig. Das ganze Verhalten dieser Agenten war verd�chtig. Der �ltere �bernahm das ganze Reden, w�hrend der J�ngere nur stumm danebenstand und sich offensichtlich unwohl f�hlte. Sein Blick wechselte vom einen zum anderen, so als w�rde er damit rechnen, dass ihn im n�chsten Moment jemand angriff. Beide wirkten irgendwie linkisch in ihren Uniformen. Wieso waren sie �berhaupt so schnell da gewesen? Normalerweise dauerte es Stunden, bis der KGB einen Plan fasste und eine Verhaftung anordnete. Und was noch seltsamer war, warum waren sie zu dieser Adresse gekommen? Wie konnten sie wissen, dass Raisa nicht zu Hause sein w�rde? Misstrauisch geworden durch die�se Unstimmigkeiten, richtete Raisa den Blick auf den Hals des Agenten. �ber dem Hemdkragen lugte irgendein Fleck hervor: Es war die Ecke einer T�towierung.
Diese M�nner waren gar nicht vom KGB.
Raisa warf einen verstohlenen Blick auf die Milizbeam�ten und versuchte ihnen die Gefahr klarzumachen, in der sie schwebten. Die Polizisten hatten sich von der Verkleidung dieser Agenten an der Nase herumf�hren lassen, weil sie es schon bei der blo�en Erw�hnung des KGB mit der Angst bekamen. Im Bem�hen, die Aufmerksamkeit der Miliz auf sich zu lenken, wurde sie stattdessen von dem Hochstapler bemerkt. Mochten auch die Polizeibeamten ihre Signale nicht verstehen, er verstand sie. Bevor Raisa auch nur die Hand heben konnte, um die Miliz zu warnen, hatte der T�towierte schon seine Waffe gezogen. Er drehte sich um und feuerte zweimal, je eine Kugel in die Stirn der beiden Beamten. W�hrend sie zu Boden fielen, richtete der Mann seine Waffe auf Raisa.
�Ich nehme jetzt Ihre Tochter mit.�
Raisa trat n�her an die M�ndung heran und deckte Soja, die immer noch zusammengekr�mmt am Boden lag. �Nein.� Die Waffe wanderte zu Elena. �Geben Sie mir Soja. Sonst t�te ich Elena.� Ein Schuss fiel.
Die Kugel verfehlte Elena und schlug in die Wohnungswand ein - eine Warnung. Als sie in seine Augen blickte, zweifelte Raisa keinen Augenblick daran, dass dieser Mann eine Sieben�j�hrige ebenso leichten Herzens t�ten w�rde, wie er die beiden Beamten erschossen hatte. Raisa musste eine Entscheidung tref�fen. Sie trat zur Seite und lie� es zu, dass sie Soja mitnahmen.
M�helos hob der Mann Soja hoch. �Wenn du dich wehrst, schlage ich dich bewusstlos.�
Er warf sie �ber seine Schulter und rief, w�hrend er sie zur T�r trug: �Ihr bleibt in der Wohnung!�
Sie zogen den Schl�ssel ab. Die Wohnungst�r ging zu und wurde verriegelt.
Raisa st�rzte zu Elena und hockte sich hin. Elena sa� auf den Knien und starrte auf den Boden. Ihr K�rper zitterte, ihre Augen waren leer. Sie nahm Elenas Hand, hob ihren Kopf und versuchte zu ihr durchzudringen. �Elena?�
Das M�dchen schien sie nicht zu h�ren, es gab keine Antwort.
�Elena?�
Immer noch keine Antwort, kein Erkennen, kein Bewusstsein. Elenas K�rper war schlaff.
Raisa �bergab Elena in Annas Obhut, stand auf und r�ttelte an der T�rklinke. Kein Hinauskommen. Sie sprang zur�ck zu den Leichen der Beamten, nahm einem die Waffe ab und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Dann rannte sie durchs Wohn�zimmer und �ffnete die T�r zu dem kleinen Balkon. Stepan hielt sie am Arm.
�Was hast du vor?�
�Passt auf Elena auf.�
Raisa trat auf den Balkon und schloss die T�r hinter sich.
Sie waren im siebten Stock, etwa zwanzig Meter �ber der Stra�e. Unmittelbar darunter befanden sich genau gleiche Balkone, einer nach dem anderen. Die konnte sie nacheinander als Haltepunkte benutzen und einen Balkon nach dem anderen hinunterklettern. Wenn sie allerdings abst�rzte, w�rden die kleinen Schneehaufen ihren Fall nicht nennenswert abfedern.
Raisa streifte sich die d�nn besohlten Schuhe von den F��en und kletterte auf den Sims. Sie hatte nicht an die Bisswunde in ihrem Arm gedacht, die immer noch blutete. Der Arm f�hlte sich geschw�cht an, ihr Griff weniger fest. Unsicher, ob sie ihr eigenes Gewicht w�rde halten k�nnen, umklammerte sie den eiskalten Betonvorsprung und lie� sich au�en am Balkonsims herunter. Jetzt hing sie nur noch an ihren Fingern. Blut tropfte ihr auf die Schulter. Selbst wenn sie sich ganz lang machte, erreichte sie den Balkonsims im sechsten Stock nicht. Sie riskierte die Sch�tzung, dass der Abstand nur noch wenige Zentimeter betragen konnte. Ihr blieb ohnehin keine Wahl, als loszulassen.
Den Bruchteil einer Sekunde fiel sie, dann trafen ihre F��e auf den Sims unter ihr. Sie versuchte, das Gleichgewicht zu fin�den, und schwankte hin und her, da h�rte sie Sojas Stimme. Als sie �ber ihre Schulter blickte, sah sie die M�nner aus dem Vor�dereingang kommen, einer trug Soja, der andere richtete seine Waffe auf Raisa. Auf dem schmalen Sims balancierend, hatte sie keine Chance.
Der Mann feuerte. Sie sah das M�ndungsfeuer aufblitzen, dann zerbarst Glas. Raisa fiel dem Schnee entgegen.
Am selben Tag
Ungewaschen und immer noch nach Kanalisation stinkend hol�te Leo alles aus dem Lastwagen heraus. Die Karre war schwer�f�llig und langsam und �berhaupt nicht das, was er in der Ei�le brauchen konnte. Aber der Laster war nun einmal das erste Fahrzeug gewesen, das Timur und er hatten requirieren k�nnen, nachdem sie fast einen Kilometer s�dlich von der Stelle, wo sie urspr�nglich in das Abwassersystem eingestiegen waren, wieder herausgekrochen kamen. Obwohl seine H�nde wie Hackfleisch aussahen, hatte er abgelehnt, dass Timur fuhr, stattdessen ein Paar Handschuhe angezogen und mit den Fingerspitzen das Lenkrad ergriffen. Jedes Mal, wenn er schalten musste, stiegen ihm Tr�nen in die Augen. Er war zur Wohnung seiner Eltern gefahren, nur um dort zu erleben, dass der ganze Bereich von der Miliz abgesperrt war. Elena, Raisa und seine Eltern hatte man in ein Krankenhaus gebracht. Elena wurde wegen eines Schocks behandelt. Raisa war in kritischem Zustand. Soja war verschwunden.
Schlitternd brachte er das Fahrzeug vor dem St�dtischen Not�fallkrankenhaus 31 zum Stillstand, lie� es mit den Schl�sseln im Z�ndschloss am Rand stehen und rannte hinein, Timur auf seinen Fersen. Alle starrten sie an, entsetzt �ber ihren Anblick und Gestank. Aber Leo achtete nicht darauf, was f�r ein Bild er abgab - er wollte Antworten. Endlich wurde er auf die Station gef�hrt, wo Raisa um ihr Leben k�mpfte.
Vor dem Operationssaal erkl�rte ein Chirurg ihm, dass Raisa aus einiger H�he abgest�rzt war und unter inneren Blutungen litt.
�Wird sie �berleben?�
Der Arzt wagte keine Prognose.
Als er die Privatstation betrat, wo Elena behandelt wurde, sah Leo seine Eltern an ihrem Bett stehen. Anna trug ein Pflaster auf dem Gesicht. Stepan schien unverletzt. Elena schlief, ihr kleiner K�rper verlor sich beinahe in dem gro�en Krankenhausbett. Man hatte ihr ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht, weil sie hysterisch geworden war, als sie begriffen hatte, dass Soja fort war. Leo streifte einen blutdurchtr�nkten Handschuh ab, nahm Elenas Hand und dr�ckte sie voller Mitleid gegen sein Gesicht. Er h�tte ihr gern gesagt, wie leid es ihm tat.
Timur legte ihm eine Hand auf die Schulter. �Frol Panin ist da.�
Leo folgte Timur zu dem B�ro, das Panin und sein bewaff�netes Gefolge in Beschlag genommen hatten. Die B�rot�r war verriegelt. Nur wer vorher seinen Namen nannte, gelangte hin�ein. Drinnen befanden sich zwei uniformierte und bewaffnete Wachposten. Obwohl Panin unaufgeregt und elegant wie immer wirkte, verriet dieser zus�tzliche Schutz dennoch, dass er Angst hatte.
Er las Leos Erkenntnis in dessen Augen ab. �Alle haben Angst, Leo. Jedenfalls alle, die an der Macht sind.�
�Sie hatten mit Lasars Verhaftung doch gar nichts zu tun.�
�Das Problem beschr�nkt sich nicht nur auf Ihren Hauptver�d�chtigen. Was ist, wenn sein Verhalten andere zu Racheakten verleitet? Was ist, wenn jeder, dem Unrecht widerfahren ist, jetzt Vergeltung sucht? Leo, so etwas wie das hier ist noch nie vorge�kommen: Unsere eigenen Staatssicherheitsleute werden verfolgt und umgebracht. Wir haben keine Ahnung, was als N�chstes kommt.�
Leo schwieg. Ihm wurde klar, dass es Panin nicht etwa um Raisas, Elenas oder Sojas Wohlergehen ging, sondern um die weiter reichenden Auswirkungen. Er war ein Vollblutpolitiker, der in den Dimensionen von Nationen und Armeen, Grenzen und Regionen dachte, nicht in denen einzelner Menschen. Er war zwar charmant und unterhaltsam, dennoch umgab ihn eine gewisse K�lte, die in Momenten wie diesem sichtbar wurde, wo ein normaler Sterblicher wenigstens ein paar Worte des Trostes gefunden h�tte.
Es klopfte an der T�r. Die Wachposten griffen nach ihren Pistolen.
Eine Stimme rief: �Ich suche den Beamten Leo Demidow. F�r ihn wurde ein Brief am Empfang abgegeben.�
Panin nickte den Wachleuten zu, die vorsichtig und mit gez�ckten Waffen die T�r �ffneten. Einer nahm den Brief in Empfang, w�hrend der andere den Mann durchsuchte, der ihn gebracht hatte, aber nichts entdeckte. Man �berreichte Leo den Umschlag.
Auf dem Umschlag war mit Tusche sorgf�ltig ein Kruzifix aufgemalt. Leo riss ihn auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus.
An der Kirche der Heiligen Sophia
Um Mitternacht
Allein
15. M�rz
Eine halbe Stunde nach Mitternacht wartete Leo an dem Ort, wo einst die Kirche der Heiligen Sophia gestanden hatte. Jetzt waren die Kuppeln und Heiligt�mer verschwunden. An ihrer Stelle erstreckte sich ein riesiges Loch, zehn Meter tief, zwan�zig breit und siebzig lang. An einer Seite war die Grubenwand abgerutscht und ein unregelm��iger Abhang entstanden, der hinunter in das mit braunem Schneematsch, Eis und Schlamm�wasser gef�llte Loch f�hrte. Auch die �brigen Seiten drohten einzust�rzen; so, wie sie sich nach innen neigten, wirkten sie wie ein Maul, das sich um eine riesige schwarze Zunge schloss. Seit 1950 ruhten die Arbeiten. Eine Baustelle ohne Baut�tigkeit, abgesperrt und stillgelegt. Rund um den eisernen Absperrzaun befanden sich verblichene Warnschilder, Zutritt verboten. Nach dem ersten, schiefgegangenen Versuch, bei dem ein Spreng�meister get�tet und mehrere Schaulustige verletzt worden waren, war die Kirche abgerissen und abtransportiert wor�den. Man hatte die Tr�mmer auf Lastwagen geschaufelt und irgendwo au�erhalb der Stadt abgekippt, sie waren jetzt nur noch ein von Unkraut �berwachsener Schutthaufen. Auf dem abger�umten Gel�nde hatten die Vorarbeiten f�r die gr��te Schwimmsporthalle im ganzen Land begonnen, die unter an�derem ein f�nfzig Meter langes Schwimmbecken und mehrere banjas haben sollte, eine f�r M�nner, eine f�r Frauen und eine Marmorsauna f�r Staatsbeamte.
Eine fl�chendeckende Medienkampagne hatte f�r die entspre�chende Begeisterung gesorgt. Die Baupl�ne waren in der Prawda ver�ffentlicht worden, und in den Kinos liefen Wochenschauen, in denen man echte Menschen vor den gemalten Kulissen der fertigen Halle sehen konnte. Doch w�hrend die Propaganda angeheizt wurde, kam die eigentliche Arbeit ins Stocken. Der Untergrund so nahe am Fluss war weich und drohte abzurut�schen. Die Fundamente hatten sich schon bewegt und Risse bekommen, und nun bedauerten die Beh�rden, dass sie sich die alten Kirchenfundamente nicht genau angesehen hatten, bevor sie sie herausgerissen und weggeschmissen hatten. Einige der kl�gsten K�pfe des Landes wurden mit L�sungsvorschl�gen be�auftragt, kamen aber nach eingehender Analyse zu dem Schluss, dass der Grund sich nicht f�r ein Geb�ude eignete, das ein aus�gedehntes Netz von Rohrleitungen und Abfl�ssen ben�tigte, tiefer, als die Fundamente der Kirche je gereicht hatten. Man entlie� daraufhin diese Experten und besorgte sich f�gsamere, die nach einer anderen Art eingehender Analyse erkl�rten, das Problem sei l�sbar, man brauche lediglich mehr Zeit. Das war die Antwort, die der Staat hatte h�ren wollen, denn er konnte ja schlecht zugeben, einen Fehler gemacht zu haben. Die zweiten Experten hatte man in luxuri�sen Wohnungen untergebracht, wo sie Zeichnungen anfertigten, Zigarren rauchten und Be�rechnungen anstellten. Derweil f�llte sich die Grube im Herbst mit Regenwasser, im Winter mit Schnee und im Sommer mit M�cken. Die Propagandafilme in den Kinos wurden abgesetzt. Die gewitzteren B�rger verstanden, dass es wohl am besten war, wenn man das ganze Projekt einfach verga�. Unbesonnenere bemerkten trocken, dass eine Wassergrube nicht gerade ein an�gemessener Ersatz f�r eine dreihundert Jahre alte Kirche war. Im Sommer 1951 hatte Leo einen Mann verhaftet, weil er einen Witz in diese Richtung gemacht hatte.
Leo sah auf seine Uhr. Er wartete jetzt schon �ber eine Stunde. Er zitterte vor K�lte und Ersch�pfung, und seine Unrast machte ihn schier verr�ckt. Er hatte keine Ahnung, ob seine Frau die Operation �berlebt hatte, und da er keinerlei Kommunikati�onsm�glichkeiten hatte, konnte er es auch nicht herausfinden. Es stand au�er Frage, dass seine Entscheidung, Raisas Seite zu verlassen und sich mit den Erpressern zu treffen, die richtige gewesen war. Im Krankenhaus konnte er ohnehin nichts aus�richten. Doch egal, wie sehr Soja ihn hasste, egal, wie sie sich be�nommen hatte, egal, ob sie ihm den Tod w�nschte - er hatte die Verantwortung f�r sie �bernommen und versprochen, zu dieser Verantwortung zu stehen, ob sie ihn nun liebte oder nicht. In Vorbereitung auf das Treffen war er nach Hause gefahren, hatte sich den Abwassergestank vom Leib geschrubbt, dann hatte er sich Zivilkleidung angezogen. Die H�nde hatte man ihm schon im Krankenhaus verbunden. Schmerzmittel hatte er abgelehnt, weil er bef�rchtete, die w�rden seine Sinne tr�ben. Die Uniform hatte er bewusst abgelegt, weil er bef�rchtete, dass die Rangab�zeichen der Staatsmacht einen rachs�chtigen Priester eher noch anstacheln w�rden.
Als er ein Ger�usch h�rte, drehte er sich um und suchte die Finsternis nach seinem Gegenspieler ab. Aus einigen benachbar�ten Geb�uden jenseits des Absperrzauns fiel ein schwaches Licht. Kostbare Baumaschinen - Kr�ne und Schaufelbagger - hatte man einfach abgestellt und dem Rost �berlassen, weil niemand wagte, das Fiasko einzugestehen und sie an einen Einsatzort zu bringen, wo man sie h�tte gebrauchen k�nnen. Leo h�rte das Ger�usch erneut, ein Klappern von Metall gegen Stein. Es kam nicht aus der Grube, sondern vom Fluss.
Vorsichtig n�herte er sich dem Kai, beugte sich wachsam vor und sp�hte hinunter auf das Wasser. Nicht weit von dort, wo er stand, griff eine Hand nach oben. Beh�nde zog ein Mann sich hoch und blieb einen Augenblick auf der Kaimauer hocken, dann sprang er hinunter auf das Baustellengel�nde. Neben ihm kletterte ein zweiter Mann herauf. Sie kamen aus der M�ndung eines Abwasserkanals und kraxelten die Mauer hoch wie eine aufgescheuchte Ameisenkolonie, die auf eine Bedrohung re�agierte. Leo erkannte den Jungen wieder, der den Patriarchen ermordet hatte, er kletterte als N�chster heraus und nutzte dabei gekonnt die Vorspr�nge in der Mauer. So geschickt, wie er sich anstellte, war es kein Wunder, dass er den Sprung in den rei��enden Kanal vorhin �berlebt hatte.
W�hrend die Bande ihn nach Waffen durchsuchte, muster�te Leo sie. Es waren sieben M�nner und der Junge. An ihren H�lsen und H�nden hatten sie T�towierungen. Einige ihrer Kleidungsst�cke waren gut geschneidert, andere fadenscheinig. Nichts passte zusammen, so als h�tten sie sich willk�rlich aus den Kleiderschr�nken Hunderter verschiedener Leute bedient. Ihr Erscheinungsbild lie� keine Fragen offen. Sie geh�rten einer kriminellen Bruderschaft an, den wory - einem B�ndnis, das sie w�hrend ihrer Zeit in den Gulags geschlossen hatten. Trotz seines Berufs kamen Leo wory nur selten unter. Sie betrachteten sich als jenseits des Staates.
Die Bandenmitglieder verteilten sich und durchsuchten das Gel�nde, um sich zu vergewissern, dass keine Gefahr drohte. Schlie�lich pfiff der Junge, das Zeichen, dass die Luft rein war. Zwei H�nde erschienen auf dem Kai. Lasar kletterte auf die Mauer, eine Silhouette im Licht von der anderen Uferseite, die die wory �berragte. Nur war das gar nicht Lasar, sondern eine Frau. Es war Anisja, Lasars Ehefrau.
Anisjas Haar war kurz geschnitten, ihre Gesichtsz�ge hart. Alle Weichheit war aus ihrem Gesicht und ihrem K�rper ver�schwunden. Dennoch erschien sie Leo lebendiger, tempera�mentvoller, hei�bl�tiger als je zuvor, so als gehe eine enorme Kraft von ihr aus. Sie trug weite Hosen, ein offenes Hemd und eine kurze, dicke Jacke, nicht viel anders als ihre M�nner. In ihrem G�rtel steckte eine Pistole, die die Banditenkluft ver�vollst�ndigte. Von ihrem erhabenen Standpunkt aus blickte sie auf Leo hinab, stolz, dass ihr Auftauchen ihn �berrascht hatte. Leo brachte nur ein einziges Wort heraus. Ihren Namen. �Anisja?�
Sie l�chelte. Ihre Stimme war jetzt rau und dunkel, nicht mehr melodisch, nicht mehr die Stimme der Frau, die im Chor ihres Mannes gesungen hatte. �Dieser Name bedeutet mir nichts mehr. Meine M�nner nennen mich Frajera.�
Nicht weit entfernt von der Stelle, wo Leo stand, sprang sie von der Mauer. Dann richtete sie sich auf und musterte sein Gesicht. �Maxim.�
Sie benutzte den Decknamen, den er sich damals zur Tarnung zugelegt hatte.
�Beantworte mir eine Frage und l�g nicht. Wie oft hast du an mich gedacht? Jeden Tag?�
�Nein.�
�Hast du einmal pro Woche an mich gedacht?�
�Nein.�
�Einmal im Monat?�
�Ich wei� es nicht mehr.�
Frajera gestattete ihm, sich in ein peinliches Schweigen zu fl�chten, doch dann merkte sie an: �Ich garantiere dir, dass die Opfer jeden Tag an dich denken, am Morgen und auch am Abend. Sie erinnern sich an deinen Geruch und den Klang deiner Stimme. Sie erinnern sich so deutlich an dich, wie ich dich jetzt sehe.�
Frajera hob die rechte Hand. �Diese Hand hast du ber�hrt, als du mir damals den Vorschlag unterbreitet hast, ich solle meinen Mann verlassen. Das war es doch, was du gesagt hast, oder? Ich sollte ihn im Gulag sterben lassen und derweil mit dir ins Bett steigen.�
�Ich war jung.�
�Stimmt, das warst du. Sehr jung. Und trotzdem hat man dir Macht �ber mich gegeben, und �ber meinen Mann. Du warst ein verknalltes B�rschlein, kaum aus dem Halbstarkenalter heraus. Du hast gedacht, du w�rdest anst�ndig handeln, als du versucht hast, mich zu retten.�
Wie oft war sie dieses Gespr�ch schon in Gedanken durch�gegangen. Sieben Jahre Hass hatten ihre Worte geformt. �Ich bin um Haaresbreite davongekommen. Wenn die Angst mich �berw�ltigt h�tte, wenn ich eingeknickt w�re, dann h�tte ich mich als Frau eines MGB-Agenten wiedergefunden, als Kompli�zin deiner Verbrechen. Als eine, mit der du deine Schuld geteilt h�ttest.�
�Du hast jeden Grund, mich zu hassen.�
�Ich habe mehr Gr�nde, als du ahnst.�
�Aber Raisa, Soja und Elena, die haben doch mit meinen Fehlern nichts zu tun.�
�Du willst sagen, sie sind unschuldig? Seit wann k�mmert das Agenten wie dich? Wie viele unschuldige Leute hast du ver�haftet?�
�Du willst also jeden Einzelnen umbringen, der dir Unrecht getan hat?�
�Suren habe ich nicht umgebracht. Und auch nicht deinen Mentor Nikolai.�
�Seine T�chter sind tot.�
Frajera l�chelte. �Mich bringst du nicht zum Weinen, Maxim. Ich habe kein Herz mehr. Nikolai war ein eitler Weichling. Ich h�tte mir denken sollen, dass er auf eine so erb�rmliche Wei�se sterben w�rde. Aber als Botschaft an den Staat war es so auf jeden Fall effektiver, als wenn er sich einfach nur erh�ngt h�tte.�
Die Kirche der Heiligen Sophia hatte man zerst�rt und durch eine tiefe, dunkle Grube ersetzt. Leo fragte sich, ob das Gleiche auch mit Frajera passiert war. Ihr moralisches Fundament war herausgebrochen und durch ein finsteres Loch ersetzt worden.
�Ich gehe davon aus, dass du von allein auf die Verbindung zwischen Suren, der die Druckerei geleitet hat, Nikolai, dem Patriarchen und dir selbst gekommen bist�, fuhr Frajera fort. �Du kanntest Nikolai, er war dein Vorgesetzter. Der Patriarch war derjenige, der dich in die Lage versetzte, die Kirche zu un�terwandern.�
�Suren hat f�r den MGB gearbeitet, aber pers�nlich kannte ich ihn nicht.�
�Er war W�rter, als man mich verh�rt hat. Ich wei� noch genau, wie er auf Zehenspitzen dastand und in die Zelle lugte. Ich erinnere mich an das obere Ende seines Kopfes, an die neugierigen Augen, die zusahen, so als h�tte er sich in ein Kino geschlichen.�
�Was hast du vor?�, fragte Leo.
�Wenn alle Polizisten Verbrecher sind, dann m�ssen die Ver�brecher eben zu Polizisten werden. Die Unschuldigen m�ssen buchst�blich im Untergrund hausen, in der Schei�e der Stadt, w�hrend die Gauner in ihren gut geheizten Wohnungen sitzen. Die Welt steht Kopf, und ich drehe sie wieder richtig herum.�
Leo unterbrach sie. �Und was ist mit Soja? Du willst sie t�ten. Ein junges M�dchen, das mich noch nicht einmal leiden kann. Ein M�dchen, das sich nur deshalb entschlossen hat, bei mir zu wohnen, um seiner kleinen Schwester das Waisenhaus zu ersparen!�
�Deine Versuche, an meine Menschlichkeit zu appellieren, laufen ins Leere. Anisja ist tot. Sie starb, als der Staat ihr das Kind wegnahm.�
Leo verstand nicht. Um seine offensichtliche Verwirrung auf�zul�sen, f�gte sie hinzu: �Maxim, ich war schwanger, als du mich verhaftet hast.� �
Mit chirurgischer Pr�zision untersuchte Frajera diese frische Wunde, zog sie auseinander und sah zu, wie sie blutete. �Du hast dir also nie die M�he gemacht herauszufinden, was man mit Lasar gemacht hatte. Du hast dir nicht mal die M�he gemacht herauszufinden, was man mit mir gemacht hatte. Wenn du in die Akten geschaut h�ttest, dann h�ttest du herausgefunden, dass ich acht Monate nach meiner Verurteilung ein Kind geboren habe. Drei Monate lang wurde mir erlaubt, meinen Sohn zu stil�len, dann wurde er mir weggenommen. Man sagte mir, ich solle ihn vergessen, weil ich ihn nie wiedersehen w�rde. Als ich nach Stalins Tod begnadigt und fr�hzeitig entlassen wurde, habe ich nach meinem Kind gesucht. Man hatte ihn in einem Waisenhaus untergebracht, aber seinen Namen ge�ndert. Alle Zeugnisse meiner Mutterschaft waren gel�scht worden. Das sei so �blich, wurde mir mitgeteilt. Es ist eine Sache, ein Kind zu verlieren. Eine andere ist es zu wissen, dass dein Kind lebt, irgendwo, und von deiner Existenz nichts wei�.�
�Frajera, ich kann den Staat nicht entschuldigen. Ich habe Befehle befolgt. Und ich habe Fehler gemacht. Die Befehle waren schlecht. Der Staat war schlecht. Aber ich habe mich ge�ndert.�
�Ich wei�, wie du dich ge�ndert hast. Du bist nicht mehr beim KGB, du bist jetzt bei der Miliz. Du k�mmerst dich nur noch um richtige Verbrechen, nicht mehr um politische. Du hast zwei wunderbare junge M�dchen adoptiert. Und das ist deine Vor�stellung von Reue, oder? Was geht mich das alles an? Was ist mit dem, was du mir schuldest? Und all den anderen M�nnern und Frauen, die du verhaftet hast? Wie soll diese Schuld beglichen werden? Hast du vor, eine bescheidene Stele zu errichten, um der Toten zu gedenken? Willst du eine Bronzetafel anbringen, auf der unsere Namen stehen, aber in klitzekleiner Schrift, damit alle draufpassen? Reicht das?�
�Willst du mich umbringen?�
�Dar�ber habe ich schon oft nachgedacht.�
�Dann bring mich um, und lass Soja am Leben. Lass meine Frau am Leben.�
�Du w�rdest liebend gern in den Tod gehen, um sie zu retten. Es w�rde dich adeln, w�rde dich von deinen Verbrechen rein�waschen. Glaubst du immer noch, dass du weiter der Held sein kannst?�
Frajera deutete auf seine Kleider. �Zieh dich aus.� Leo schwieg. Hatte er richtig geh�rt? Sie wiederholte die An�weisung. �Maxim, zieh deine Klamotten aus.�
Leo legte seinen Hut ab, dann seine Handschuhe und den Mantel und legte alles zu Boden. Er kn�pfte sein Hemd auf und legte es schlotternd vor K�lte auf dem Haufen ab.
Frajera hob die Hand. �Das reicht.�
Zitternd und mit h�ngenden Armen stand er da.
�Ist dir kalt, Maxim? Das ist nichts im Vergleich zu den Win�tern in Kolyma, dem Eisblock unseres Landes, wohin du meinen Mann geschickt hast.�
Zu Leos Verbl�ffung fing auch Frajera an, sich auszuziehen. Sie legte ihre Jacke ab, dann ihr Hemd und entbl��te ihren Oberk�rper. Die Haut war �bers�t mit T�towierungen: eine unter ihrer rechten Brust, eine auf dem Bauch, mehrere auf den Armen, den H�nden, den Fingern. Sie trat n�her an Leo heran.
�Willst du wissen, was ich in den letzten Jahren erlebt habe? Willst du wissen, wie eine Frau, die Ehefrau eines Priesters, zur Anf�hrerin einer wory-Bande werden konnte? Die Antworten sind mir auf die Haut geschrieben.�
Die Nacktheit schien ihr nichts auszumachen. Sie nahm ihre Brust in die Hand und hob sie hoch, damit Leo die T�towierung besser sehen konnte. Es war ein br�llender L�we. �Der bedeu�tet, dass ich mich an allen r�chen werde, die mir etwas angetan haben, von den Anw�lten �ber die Richter und Gef�ngnisw�rter bis hin zu den Polizisten.�
Mitten auf ihrem Brustkorb prangte zwischen ihren Br�sten ein Kruzifix. �Das hat nichts mit meinem Mann zu tun, Maxim. Es repr�sentiert meine Allgewalt als rechtm��ige Diebin. - Die hier verstehst du vielleicht.�
Frajera ber�hrte die T�towierung auf ihrem Bauch. Sie zeigte eine hochschwangere Frau, und ein Kreuzschnitt zeigte, was sich in ihrem gew�lbten Bauch befand. Statt eines ungeborenen Kin�des war der schwangere Bauch angef�llt mit Stacheldraht, der aufgewickelt war wie eine lange, schartige Nabelschnur.
�Du hast die reine Haut eines Kindes, Maxim. Mir und mei�nen M�nnern kommt das unehrlich vor. Wo sind deine Verbre�chen? Wo sind all die Dinge, die du getan hast? Ich sehe keinerlei Spuren davon. Du tr�gst kein einziges Stigma. Ich sehe keine Schuld auf dir geschrieben.�
Frajera machte noch einen Schritt auf ihn zu, beinahe be�r�hrte ihr K�rper jetzt seinen.
�Ich kann dich anfassen, Maxim. Wenn du aber auch nur einen Finger auf mich legst, wirst du get�tet. Meine Haut ist gleichbedeutend mit meiner Autorit�t. Wenn du mich ber�hren w�rdest, w�re das ein �bergriff, eine Beleidigung.�
Sie dr�ckte sich an ihn und fl�sterte: �Jetzt, sieben Jahre sp�ter, bin ich an der Reihe, dir ein Angebot zu machen. Lasar ist immer noch in Kolyma, er arbeitet in einer Goldmine. Sie wollen ihn nicht freilassen. Er ist ein Priester. Priester sind neuerdings wieder verhasst, wo wir keine Kriege haben, f�r deren Recht�fertigung der Staat sie braucht. Man hat Lasar gesagt, dass er seine volle Strafe absitzen muss - f�nfundzwanzig Jahre. Ich will, dass du ihn rausholst. Ich will, dass du diesen Fehler wie�dergutmachst. �
�Dazu habe ich nicht die Macht.�
�Du hast Verbindungen.�
�Frajera, ihr habt den Patriarchen ermordet. Sie machen euch f�r den Tod zweier Agenten verantwortlich, Nikolai und Moskwin. Nie und nimmer werden sie mit dir verhandeln. Nie�mals werden sie Lasar gehen lassen.�
�Dann musst du dir etwas anderes �berlegen, um ihn freizu�bekommen.�
�Bitte, Frajera! Wenn du mich vor einer Woche gefragt h�t�test, h�tte man vielleicht noch etwas deichseln k�nnen. Aber nach dem, was du getan hast, ist das unm�glich. H�r mich an: F�r Soja w�rde ich alles tun, alles, was in meiner Macht steht. Aber Lasar kann ich nicht freibekommen.�
Frajera lehnte sich zu ihm vor und fl�sterte: �Vergiss nicht, ich kann dich ber�hren, aber du darfst mich nicht ber�h�ren.�
Kaum war die Warnung ausgesprochen, k�sste sie ihn auf die Wange. Zuerst z�rtlich, doch dann gruben sich ihre Z�hne in sei�ne Haut, immer fester biss sie zu, bis sein Blut floss. Der Schmerz war schlimm. Leo h�tte sie gern weggesto�en, aber wenn er sie ber�hrte, w�rde man ihn t�ten. Es blieb ihm nichts �brig, als den Schmerz zu ertragen. Endlich lie� sie los, trat zur�ck und bewunderte ihr Bissmal.
�Jetzt hast du deine erste T�towierung, Maxim.�
Noch mit seinem Blut auf ihren Lippen schloss sie: �Befreie meinen Mann, Maxim, sonst ermorde ich deine Tochter.�
Drei Wochen danach
Westlicher Pazifik
Sowjetische Hoheitsgew�sser, Ochotskisches Meer,
Gefangenenschiff Stary Bolschewik
7. April 1956
Der Offizier Genrich Duwakin stand an Deck und zog sich mit den Z�hnen die derben Handschuhe aus. Seine Finger waren vor Eisesk�lte ganz taub, er sp�rte sie kaum noch. Er hauchte sie an, rieb die H�nde aneinander und versuchte, seinen Blut�kreislauf wieder in Gang zu bringen. Sein Gesicht f�hlte sich im bei�end kalten Wind wie tot an, die Lippen waren blutleer und blau. Die hervorstehenden Nasenhaare waren gefroren, und wenn er die Nasenl�cher zusammenkniff, brachen sie ab wie Miniatur-Eiszapfen.
Solche geringf�gigen Unannehmlichkeiten konnte er ertra�gen, denn seine M�tze war ein wahres Wunder an W�rme, ge�f�ttert mit Rentierfell und zusammengen�ht von Leuten, die sich vorstellen konnten, dass das Leben desjenigen, der sie tragen w�rde, m�glicherweise von der Qualit�t ihrer Arbeit abhing. Drei lange Klappen bedeckten seine Ohren und den Nacken. Die Ohrenklappen, die unter dem Kinn zusammengebunden wa�ren, lie�en Duwakin aussehen wie ein Kind, das man gegen die K�lte eingepackt hatte - ein Eindruck, der durch seine weichen, knabenhaften Z�ge noch verst�rkt wurde. Bislang hatte die peit�schende Salzluft seiner samtigen Haut nichts anhaben k�nnen, und seine Pausbacken hatten der schlechten Kost ebenso wider�standen wie dem Schlafmangel. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, wurde aber oft f�r j�nger gehalten, eine k�rperliche Unreife, die ihm nicht eben half. Anstatt wild und Furcht einfl��end zu sein, wie es sich geh�rte, war er ein tollpatschiger, unbeholfener Tagtr�umer - nicht gerade das, was man sich unter einem W�r�ter auf einem so ber�chtigten Gefangenenschiff wie der Stary Bolschewik vorstellte.
Die Stary Bolschewik hatte etwa die Gr��e einer Handels�barkasse und war ein unverw�stliches Schiff. Einst war sie ein sturmerprobter holl�ndischer Dampfer gewesen, in den drei��iger Jahren hatte man sie dann gekauft, umbenannt und f�r die Belange der sowjetischen Geheimpolizei umger�stet.
Urspr�nglich war die Stary Bolschewik f�r den Import kolo�nialer Waren gebaut worden, Elfenbein, scharfe Gew�rze und exotische Fr�chte. Mittlerweile bef�rderte sie M�nner in die t�dlichsten Arbeitslager im gesamten Gulag-System. Am Bug ragte vier Stockwerke hoch der Schiffsturm auf, der auch die Quartiere f�r die W�rter und die Mannschaft beherbergte. Oben im Turm befand sich die Br�cke, wo der Kapit�n und die Mann�schaft das Schiff navigierten - eine verschworene Gemeinschaft, die mit den Gefangenenw�rtern nichts gemein hatte und vor der Aufgabe des Schiffes bewusst die Augen verschloss, so als h�tte man damit nichts zu tun.
Der Kapit�n �ffnete die Luke, ging von der Br�cke und lie� den Blick schweifen �ber den Meeresabschnitt, den sie gerade hinter sich lie�en. Er gestikulierte zu Genrich an Deck hin�ber, nickte ihm zu und rief: �Alles klar!�
Sie hatten bereits die Perouse-Stra�e passiert, den einzigen Punkt auf ihrer Reise, wo sie sich den japanischen Inseln ge�n�hert und internationalen Kontakt riskiert hatten. Man hatte Vorkehrungen getroffen, damit das Schiff nicht anders aussah als ein ganz normaler, ziviler Handelsfrachter. Das schwere Ma�schinengewehr, das mitten auf Deck montiert war, hatte man ab�gebaut, die Uniformen unter langen M�nteln versteckt. Genrich war nie wirklich klar geworden, warum sie sich solche M�he gaben, um ihre wahre Mission vor den Blicken japanischer Fi�scher geheim zu halten. Manchmal fragte er sich, ob es wohl in Japan auch solche Gefangenenschiffe mit Leuten wie ihm darauf gab.
Genrich montierte das Maschinengewehr wieder zusammen. Anstatt es nach drau�en zu richten, richtete er den Lauf nach unten, in Richtung der verst�rkten Bodenluke, die hinunter in den Laderaum f�hrte. In der Dunkelheit unter Deck war eine Ladung von f�nfhundert M�nnern zusammengepfercht, sie hockten so eng auf ihren B�nken wie die Streichh�lzer in einer Schachtel. Es war der erste Gefangenentransport des Jahres, vom Durchgangslager Buchta Nachodka an der s�dlichen Pazifik�k�ste bis nach Kolyma im Norden. Beide H�fen lagen zwar an derselben K�ste, doch die Entfernung zwischen ihnen war rie�sig. Es gab keine M�glichkeit, Kolyma �ber Land zu erreichen, man gelangte nur mit dem Flugzeug oder dem Schiff dorthin. Der n�rdliche Hafen von Magadan diente als Zugang zu einem Netz von Arbeitslagern, die wie Pilzsporen an der Landstra�e von Kolyma hinauf in die Berge, W�lder und Minen kleb�ten.
F�nfhundert Gefangene war die kleinste Charge, die Genrich je bewacht hatte. Unter Stalin h�tte das Schiff um diese Zeit im Jahr viermal so viele Leute transportiert, um den Stau in den Durchgangslagern abzubauen, der sich �ber den Winter gebildet hatte.
Die Sek-Z�ge mit ihren Waggons voller Gefangener kamen weiter an, w�hrend die Schiffe angedockt blieben. Nur wenn die Eisschollen schmolzen, war das Ochotskische Meer befahrbar. Im Oktober fror es schon wieder zu, und eine Fahrt zum falschen Zeitpunkt konnte bedeuten, dass man vom Eis eingeschlossen wurde. Genrich hatte schon von Schiffen geh�rt, die sich zu sp�t im Winter oder zu fr�h im Fr�hjahr aufgemacht hatten. Weil man weder umkehren noch das Ziel erreichen konnte, waren die Wachen �ber das Eis geflohen und hatten dabei Schlitten mit Dosenfleisch und Brot hinter sich hergezogen. Die zur�ck�gelassenen Gefangenen hatte man dagegen im Laderaum dem Tod durch Verhungern oder Erfrieren �berlassen, was immer als Erstes eintreten mochte.
Mittlerweile lie� man die Gefangenen weder verhungern oder erfrieren, noch brachte man sie reihenweise um und warf die Leichen �ber Bord. Genrich hatte Chruschtschows Geheime Rede, in der er Stalin und die Exzesse in den Gulags angepran�gert hatte, nicht gelesen. Er hatte zu viel Angst gehabt. Es gab Ger�chte, dass es sich dabei nur um ein T�uschungsman�ver handelte, um Konterrevolution�re ausfindig zu machen. Viel�leicht lie�en sich Leute dazu verleiten, leichtsinnig zu werden und in die Kritik einzufallen, nur um dann prompt verhaftet zu werden. Aber Genrich glaubte nicht, dass das stimmte, dazu kamen ihm die Ver�nderungen zu echt vor. Das ganze System war im Schockzustand. Die althergebrachte Praxis von Bruta�lit�t und Gleichg�ltigkeit, ohne dass man jemanden daf�r zur Rechenschaft gezogen h�tte, war einem konfusen Mitleid ge�wichen.
Im Durchgangslager �berpr�fte man hektisch die Urteile der Gefangenen. Tausende, die f�r Kolyma vorgesehen gewesen waren, begnadigte man pl�tzlich wieder und schickte sie ge�nauso abrupt in die Freiheit, wie man sie dieser entrissen hatte. W�hrend man die meisten Frauen schon 1953 amnestiert und freigelassen hatte, sa�en nun also diese freien M�nner hilflos an der K�ste. Jeder hielt ein Pfund schwarzen Roggenbrots um�klammert, ihre Freiheitsration, mit der sie auskommen sollten, bis sie wieder zu Hause waren. F�r die meisten lag das viele tausend Kilometer weit weg. Ohne jeglichen Besitz, ohne Geld, nur in ihren Lumpen und mit ihrem Freiheitsbrot starrten sie hinaus aufs Meer und konnten nicht fassen, dass sie einfach weglaufen durften, ohne erschossen zu werden.
Wie st�rende V�gel hatte Genrich sie von der K�ste weg�gescheucht und ihnen geraten, endlich die Reise nach Hause anzutreten. Wie diese Reise m�glich sein sollte, hatte er ihnen nicht sagen k�nnen.
Wochenlang wurden Genrichs Vorgesetzte von der Angst zerfressen, dass man sie vor ein Strafgericht stellen werde. In dem Versuch zu demonstrieren, wie sehr sie sich ge�ndert hat�ten, unterzogen sie die Dienstvorschriften einer umfangreichen Revision - verzweifelte Signale nach Moskau, dass sie mit den neumodischen Anstandsregeln im Einklang waren. Genrich zog derweil nur den Kopf ein und machte, was man ihm befahl. We�der stellte er etwas infrage, noch schlug er etwas vor. Wenn man ihm befahl, die Gefangenen hart anzufassen, w�rde er sie hart anfassen. Wenn er nett sein sollte, war er eben nett. Vielleicht lag es an seinem Kindergesicht, aber das Nettsein fiel ihm leichter als das Hartsein.
Jahrelang hatte die Stary Bolschewik Tausende politischer Gefangener transportiert, die nach Artikel 58 verurteilt wor�den waren, weil sie das Falsche gesagt hatten, am falschen Ort gewesen waren oder die falschen Leute gekannt hatten. Jetzt aber hatte sie eine neue Aufgabe, ihre Fracht war erlesener. Es handelte sich nur noch um die brutalsten und gef�hrlichsten Verbrecher, M�nner, bei denen jedermann zugestimmt h�tte, dass man sie auf keinen Fall wieder laufen lassen durfte.
* * *
In dem stockfinsteren Bauch der Stary Bolschewik befand sich neben den stinkenden Leibern von f�nfhundert M�rdern, Verge�waltigern und Dieben auch Leo. Die Schultern an die Bordwand gedr�ckt, lag er in einer der obersten Kojen. Auf der anderen Seite befand sich nichts als weites Meer, dessen eiskalte Wasser�massen nur von einer Stahlplatte abgehalten wurden, die kaum dicker war als sein Daumen.
Am selben Tag
Die Luft war abgestanden und verpestet und erhitzt von dem vibrierenden Kohlenmotor, der sich im n�chsten Schiffsraum befand. Die Gefangenen kamen zwar nicht an die Maschine he�ran, aber ihre Hitze drang durch die einfache Abtrennwand aus Holzbalken, die man nachtr�glich eingezogen hatte. Am Anfang der Reise war der Laderaum bitterkalt gewesen, und die Gefan�genen hatten sich um die Kojen m�glichst nahe am Motor ge�pr�gelt. Als nach wenigen Tagen die Temperaturen in die H�he geschossen waren, pr�gelten sich dieselben Gefangenen nun um Kojen weiter weg. Der gesamte Laderaum unter Deck war in ein mit Str�flingen verseuchtes Insektennest verwandelt worden, das durchzogen wurde von einem Gitter schmaler Durchg�nge, in denen zu beiden Seiten hohe Reihen von Stockbetten standen. Leo belegte eine der oberen Kojen, die er sich erk�mpft und da�nach verteidigt hatte. Sie waren begehrt, weil sie weit �ber dem schmutz- und f�kalien�bers�ten Boden lagen. Je schw�cher man war, desto weiter unten war man auch, beinahe so, als h�tte man die Leute durch mehrere darwinistische Filter gesch�ttelt. Den ru�igen Laternen, aus denen in der ersten Woche noch ein mattes Licht wie von Sternen im Smog einer Stadt geglommen hatte, war mittlerweile das Kerosin ausgegangen. Alles war so dunkel, dass Leo noch nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte, wenn er sich im Gesicht kratzte.
Es war ihr siebter Tag auf See. Leo hatte die Tage so gewissen�haft wie m�glich gez�hlt und die nur h�chst selten gew�hrten Besuche des Aborts dazu genutzt, sein Zeitgef�hl wiederzuer�langen. An Deck, das festmontierte Maschinengewehr direkt auf sie gerichtet, mussten sich die Gefangenen in einer Reihe vor einem Loch aufstellen, das eigentlich f�r die Ankerkette vorgesehen war und von wo aus es direkt ins Meer ging. Es war eine h�ssliche Pantomime, wie die Gefangenen sich hinhockten und hin und her trippelnd versuchten, bei der kabbeligen, von eisigen Winden gepeitschten See ihr Gleichgewicht zu halten. Einige Gefangene, die sich nicht rechtzeitig anstellen konnten, konnten nicht mehr an sich halten. Dann lagen sie in ihren eige�nen Exkrementen und warteten ab, bis alles verkrustet war, erst dann r�hrten sie sich wieder. Die psychologische Bedeutung der Reinlichkeit war offensichtlich. Nach sieben Tagen dort unten konnte ein Mensch verr�ckt werden. Leo tr�stete sich damit, dass die Situation vor�bergehen w�rde. Seine Hauptsorge war, nicht seine Spannkraft zu verlieren. Viele der Gefangenen waren durch die monatelange �berf�hrung geschw�cht. Ihre Muskeln waren weich geworden durch die Unt�tigkeit und das schlechte Essen, ihr Kopf durch die Vorstellung, jahrzehntelang in den Bergwerken arbeiten zu m�ssen. Leo machte regelm��ig Turn��bungen, so hielt er seinen K�rper stramm und seinen Geist konzentriert auf die Aufgabe, die vor ihm lag.
Nach seiner Begegnung mit Frajera in dem ausgebaggerten Loch, wo einst die Kirche der Heiligen Sophia gestanden hatte, war Leo ins Krankenhaus zur�ckgekehrt und hatte erfahren, dass Raisa die Operation �berlebt hatte. Die �rzte waren zu�versichtlich, dass sie wieder vollkommen gesund werden w�rde.
Als Raisa aufgewacht war, hatte sie sich sofort nach Soja und Elena erkundigt. Leo, der sah, wie blass und schwach sie war, hatte versprochen, dass er sich voll und ganz auf seine entf�hrte Tochter konzentrieren werde, Raisa solle sich bei ihrem Zustand keine Sorgen machen. Sie hatte sich Frajeras Forderungen ange�h�rt und geantwortet:
Tu, was n�tig ist.
Frajera hatte die Kontrolle �ber eine Verbrecherbande �ber�nommen. Soweit Leo beurteilen konnte, geh�rte sie nicht zu den torpedy, den einfachen Fu�soldaten - sie war die awtoritet, die Anf�hrerin. Eigentlich hie� es, dass die wory Frauen ver�achteten. Sie schrieben zwar Lieder dar�ber, wie sehr sie ihre Mutter liebten, und brachten einander um, wenn der eine die Mutter des anderen beleidigt hatte, aber deshalb hielten sie Frauen noch lange nicht f�r ebenb�rtig. Trotzdem hatte es die Frau eines Priesters, die ihr Leben im Schatten ihres Mannes verbracht und ihn in seiner Aufgabe unterst�tzt hatte, geschafft, in die worowskoi mir vorzudringen, ja sie hatte es bis ganz nach oben geschafft. Frajera hatte sich die Rituale der M�nner zu eigen gemacht. Ihren K�rper hatte sie mit T�towierungen ge�schm�ckt und ihren eigentlichen Namen abgelegt zugunsten eines klikucha, eines wory-Spitznamens. Die geheime Welt der worowskoi mir sch�tzte sie, und ihre Machenschaften wur�den wahrscheinlich von Taschendieben und Handel auf dem schwarzen Markt finanziert. Wenn sie es von Anfang an auf Rache abgesehen hatte, dann hatte sie sich auf jeden Fall die richtigen Verb�ndeten ausgesucht. Die wory-Banden waren die einzigen Gruppierungen, �ber die der Staat keine Kontrolle hat�te. Es war unm�glich, ihre Reihen zu infiltrieren, das h�tte viel zu lange gedauert. Ein Polizist h�tte jahrelang verdeckt operie�ren, morden und vergewaltigen m�ssen, um sich zu beweisen. Nicht, dass der Staat f�r so etwas keine geeigneten Kandidaten finden konnte, aber bislang hatte man den wory keine gro�e Bedeutung zugemessen. Diese Banden funktionierten nach ihrer eigenen, undurchdringlichen Binnenstruktur von Loyalit�t und Belohnung. Keine dieser Gruppierungen hatte je ein Interesse an Politik gezeigt, jedenfalls bis dato nicht - bis Frajera auf der Bildfl�che erschienen war.
H�tte Frajera ihre Forderung, den Ehemann freizulassen, vor ihren Morden gestellt, w�re das vielleicht sogar m�glich ge�wesen. Chruschtschows Rede hatte das bisherige Rechtssystem aus den Angeln gehoben. Mit Hinblick auf Lasars Verurteilung zu f�nfundzwanzig Jahren h�tte Leo auf einen Straferlass hin�wirken k�nnen, eine Begnadigung oder die Aussetzung der Rest�strafe auf Bew�hrung. Zum Problem w�re allenfalls Chruscht�schows neue Kampagne gegen die Religion geworden. Nach den Morden jedoch bestand keine Chance mehr, noch �ber Lasars Freilassung zu verhandeln. Da gab es keinen Spielraum. Fraje�ra war eine Terroristin, die man zur Strecke bringen und t�ten musste, und dabei war es ganz egal, dass sie Soja als Geisel ge�nommen hatte. Frajeras Bande galt jetzt als konterrevolution�re Zelle. Es machte die Sache nicht besser, dass sie keinerlei Nei�gung zeigte, ihren Blutdurst zu z�geln. In den Tagen unmittel�bar nach Sojas Entf�hrung hatte Frajera mehrere Staatsbeamte ermorden lassen, Frauen und M�nner, die unter Stalin gedient hatten. Einige waren genauso gefoltert worden, wie sie fr�her selbst gefoltert hatten. Als ihnen der Spiegel ihrer eigenen Ver�brechen vorgehalten wurde, hatten die Machteliten es mit der Angst bekommen. Sie forderten die T�tung jedes Mitglieds von Frajeras Zelle und von jedermann, der ihnen half.
Zum Gl�ck f�r Leo war sein Chef Frol Panin ein ehrgeiziger Mann. Obwohl der KGB und die Miliz die gr��te Menschenjagd in Gang gesetzt hatten, die Moskau je erlebt hatte, hatten sie kei�ne Spur von Frajera und ihrer Bande gefunden. Den lautstarken Forderungen nach ihrer Ergreifung folgten nur Fehlschl�ge. Die Presse berichtete von den Vorg�ngen nichts und schrieb in den Tagen nach den grauenvollsten Hinrichtungen lieber �ber die wirtschaftliche Entwicklung, so als ob deren Zahlen die auf der Stra�e grassierenden Ger�chte ersticken k�nnten. Staatsdiener schafften ihre Familien aus der Stadt. Eine Flut von Urlaubs�antr�gen war eingegangen. Die Situation war unertr�glich. Panin begehrte offenbar den Ruhm desjenigen, der Frajera zur Strecke gebracht hatte, den Lorbeerkranz des heldenhaften Drachent�ters, und Lasar war sein K�der. Da er nicht daf�r sorgen konnte, dass Lasar auf normalem Wege freigelassen wurde, wo�mit man ja zugegeben h�tte, dass der Staat erpressbar war, blieb als einzige M�glichkeit, ihm zum Ausbruch zu verhelfen. Panin hatte angedeutet, dass einige bedeutende Leute ihr Vorhaben unterst�tzten, und handelte mit stillschweigender Einwilligung der Machthabenden.
Lasar war H�ftling im Gulag 57 in der Region Kolyma. Flucht galt als unm�glich, niemand hatte es je geschafft. In vie�len Gulags bestanden die Sicherheitsvorkehrungen im Wesent�lichen aus der Lage, der Abgeschiedenheit des Orts. Au�erhalb des Lagers gab es keine M�glichkeit zu �berleben. Die Chancen, das riesige und erbarmungslose Gebiet zu durchqueren, waren minimal. Wenn Lasar verschwand, konnte man ihn getrost f�r tot erkl�ren. Mit Panins Hilfe war es ein einfaches Unterfangen, in einen Gulag zu kommen. Sie mussten nur die entsprechenden Papiere f�lschen und Leo als Str�fling ausgeben. Wieder heraus�zukommen w�rde weniger einfach sein.
Leo wurde aus seinen Gedanken ger�ttelt. Der Schiffsrumpf vibrierte, und der Bug brach aus. Leo fuhr hoch. Sie hatten Eis gerammt.
Am selben Tag
Genrich rannte nach vorn und schaute angestrengt �ber die Reling. Langsam zog ein Eisberg vorbei. Die Spitze war nicht gr��er als ein Auto, der gr��te Teil schwamm unter Wasser, ein riesiger dunkelblauer Schatten. Auf den ersten Blick schien der Rumpf unbesch�digt zu sein. Von den Gefangenen unter Deck war auch kein Schreien zu h�ren, es brach also kein Wasser he�rein. Genrich sp�rte den Schwei� unter seinem Rentierfell. Er signalisierte dem Kapit�n, dass die Gefahr vor�ber war.
Auf den ersten Fahrten im Jahr rammte der Schiffsbug ge�legentlich Reste des Eisschelfs, was dem betagten Rumpf un�heilvolles Get�se entlockte. Fr�her hatten solche Kollisionen Genrich jedes Mal in Angst versetzt. Die Stary Bolschewik war ein altersschwacher Kahn, der kaum in der Lage war, sich durchs Wasser zu pfl�gen, geschweige denn Eis wegzuschieben. Als Handelsschiff taugte er nicht mehr, nur noch f�r Gefangene. Urspr�nglich war der Kohlendampfer f�r eine Geschwindigkeit von elf Knoten ausgelegt gewesen, doch er schaffte selten mehr als acht und keuchte dabei wie ein lahmes Maultier. Im Lauf der Jahre war der Rauch, der aus dem einzigen Schornstein am Heck kam, immer dicker und schw�rzer geworden. Das Schiff fuhr langsamer, �chzte daf�r aber umso lauter. Doch obwohl es immer anf�lliger geworden war, hatte Genrich allm�hlich seine Angst vor der See verloren. Er konnte bei Sturm durchschlafen und sein Essen sogar bei sich behalten, wenn Teller und Bestecke von einer Seite zur anderen rutschten. Nicht, dass er etwa mutig geworden w�re. Aber eine andere Angst hatte von ihm Besitz ergriffen - die vor den �brigen W�rtern.
Auf seiner ersten Fahrt hatte er einen Fehler begangen, den er nie wieder hatte ausb�geln k�nnen und den seine Kameraden ihm nie vergeben hatten. Unter Stalin hatten die W�rter oft ge�meinsame Sache mit den urki gemacht, den Berufsverbrechern. Die W�rter sorgten daf�r, dass eine oder zwei weibliche Gefan�gene in den Laderaum der M�nner verlegt wurden. Manchmal erkaufte man sich die Zustimmung der Frauen durch falsche Essensversprechungen, manchmal wurden sie bet�ubt. Ge�legentlich wurden sie auch einfach nur hinuntergezerrt, aller Gegenwehr und allem Geschrei zum Trotz. Das hing von den jeweiligen Vorlieben der urki ab, denn manchen machte das Niederringen einer sich zur Wehr setzenden Frau mindestens so viel Spa� wie der Sex selbst. Die Gegenleistung f�r solche Transaktionen waren Informationen �ber die Politischen, jene Gefangenen also, die man f�r Verbrechen gegen den Staat verur�teilt hatte. Aus den Berichten �ber Gesagtes, �ber mitangeh�rte Gespr�che konnten die W�rter, sobald das Schiff angelegt hatte, wertvolle Denunziationen fabrizieren. Als kleinen Bonus vergin�gen sich am Ende auch die Wachleute noch an den bewusstlosen Frauen und untermauerten damit ein B�ndnis, das so alt war wie die Gulags selbst. D�mlicherweise hatte Genrich das Ange�bot h�flich abgelehnt. Er hatte nicht damit gedroht, die anderen zu verraten. Er hatte keine Missbilligung an den Tag gelegt. Er hatte lediglich h�flich bekundet:
Ich will das nicht.
Diese Worte bereute er mittlerweile mehr als alles, was er je ge�tan hatte. Von diesem Moment an hatte man ihn ausgesto�en. Er hatte gedacht, das w�rde vielleicht eine Woche dauern. Es ging nun aber schon sieben Jahre so. Manchmal, wenn er an Bord festgesessen hatte, um sich herum nichts als Meer, war er fast verr�ckt geworden vor Einsamkeit. Nicht alle W�rter hatten bei jeder Vergewaltigung mitgemacht, aber alle hatten wenigs�tens gelegentlich mitgemacht. Er jedoch bekam nie mehr die Gelegenheit, seinen Fehler wiedergutzumachen. Sein damaliger Affront stand bis heute zwischen ihm und den anderen, denn er war ja nicht etwa Ausdruck einer momentanen Befindlichkeit gewesen: Heute ist mir nicht danach, sondern aus tiefstem Her�zen gekommen: Das macht man nicht! Manchmal lief Genrich nachts an Deck auf und ab und sehnte sich nach jemandem, mit dem er sprechen konnte. Aber wenn er sich dann umwandte, standen die anderen W�rter weitab von ihm beisammen. Alles, was er in der Dunkelheit von ihnen sehen konnte, waren ihre glimmenden Zigaretten, deren rote Spitzen ihn anfunkelten wie hasserf�llte Augen.
Mittlerweile machte er sich keine Sorgen mehr dar�ber, dass die See sein Schiff verschlucken oder das Eis den Rumpf auf�rei�en k�nnte. Das w�re beinahe eine Erleichterung gewesen. Stattdessen lie� ihn die Angst nicht los, dass er sich eines Nachts schlafen legen w�rde, nur um irgendwann davon aufzuwachen, dass die anderen W�rter ihn an Armen und Beinen gepackt hat�ten und wegzerrten, so wie man diese Frauen wegzerrte, dass er dagegen ank�mpfte und schrie, aber trotzdem �ber Bord gewor�fen wurde, in die schwarze, eiskalte See. Da w�rde er noch eine oder zwei Minuten hilflos herumpaddeln und zusehen, wie die Lichter des Schiffs kleiner wurden.
Doch jetzt machte ihm diese Angst nicht mehr zu schaffen, zum ersten Mal nach sieben Jahren. Die gesamte Wachmann�schaft des Schiffes war ausgetauscht worden. Vielleicht hatte ihre Auswechslung ja etwas mit den Reformen zu tun, die die Lager neuerdings auf den Kopf stellten. Er wusste es nicht, es spielte auch keine Rolle. Hauptsache, sie waren alle weg, alle au�er ihm. Ihn hatte man dabehalten und von der Schicksals�wendung der anderen ausgespart. Und diesmal hatte er nicht das Geringste dagegen, ausgeschlossen zu sein. Er war jetzt Teil einer neuen Wachmannschaft, von der keiner ihn hasste, keiner irgendetwas �ber ihn wusste. Er war wieder ein Fremder, und diese Anonymit�t war ein wundervolles Gef�hl, beinahe so, als sei er von einer t�dlichen Krankheit genesen. Jetzt, wo er die Chance hatte, von vorne anzufangen, wollte er alles tun, was er nur konnte, um auf jeden Fall zu dieser Mannschaft zu geh�ren.
Er wandte sich um und sah, dass auf der anderen Seite des Decks einer der neuen W�rter rauchte. Vermutlich hatte ihn der L�rm der Kollision nach drau�en gelockt. Es war ein gro�er, breitschultriger Mann Ende drei�ig, der die Ausstrahlung eines Anf�hrers besa�. Jakow Messing, so hie� er, hatte w�hrend der �berfahrt kaum etwas gesagt. Kein Wort hatte er �ber sich selbst preisgegeben, und Genrich wusste immer noch nicht, ob Jakow an Bord bleiben w�rde oder ob er nur unterwegs zu einem neuen Lager war. Im Umgang mit den H�ftlingen war er rigoros und den anderen W�rtern gegen�ber zugekn�pft, au�erdem war er ein brillanter Kartenspieler und b�renstark. Falls sich auf dem Schiff wieder eine neue Clique bilden w�rde wie vorher, dann bestand wenig Zweifel, dass sie sich um Jakow scharen w�rde.
Genrich �berquerte das Deck, gr��te Jakow mit einem Kopf�nicken und deutete auf sein P�ckchen billiger Zigaretten.
�Darf ich?�
Jakow hielt ihm das P�ckchen und ein Feuerzeug hin. Nerv�s nahm sich Genrich eine Zigarette, z�ndete sie an und inhalierte tief. Der Rauch kratzte in seinem Rachen. Er rauchte nur selten und tat sein Bestes, um den Anschein zu erwecken, er habe Spa� an diesem geteilten Vergn�gen. Es war jetzt unheimlich wichtig, dass er einen guten Eindruck hinterlie�. Allerdings wusste er nichts zu sagen. Jakow war schon fast mit seiner Zigarette fer�tig, bald w�rde er wieder hineingehen. So eine Gelegenheit, wo sie beide allein waren, kam vielleicht nicht noch einmal. Genrich musste also jetzt mit ihm reden. �Es war ja bisher eine ruhige Fahrt.�
Jakow schwieg. Genrich schnippte seine Asche ins Meer und redete weiter.
�Ist das dein erstes Mal? An Bord, meine ich? Dass du noch nie auf diesem Schiff warst, wei� ich, aber ich habe mich gefragt, ob du vielleicht schon mal ... auf anderen Schiffen warst. So welchen wie diesem.�
Jakow antwortete mit einer Gegenfrage. �Wie lange bist du schon hier an Bord?�
Genrich l�chelte, er war erleichtert, dass er eine Antwort aus ihm herausbekommen hatte. �Sieben Jahre. Und jetzt haben sich die Dinge ge�ndert. Ob wirklich zum Besseren, wei� ich nicht. Auf diesen �berfahrten war fr�her schon was los...�
�Wie meinst du das?�
�Na ja ... wir hatten ... eine Menge Spa�. Du wei�t schon, was ich meine.�
Genrich grinste, um seine versteckte Anspielung zu unterstrei�chen. Jakows Gesicht blieb teilnahmslos.
�Nein�, antwortete Jakow. �Was meinst du?�
Jetzt musste Genrich erkl�ren. Er senkte die Stimme und versuchte Jakow mit einem verschw�rerisch fl�sternden Ton zu schmeicheln. �Normalerweise haben die W�rter am zweiten oder dritten Tag ...�
�Die W�rter? Du bist doch selbst einer.�
Ein unachtsamer Ausrutscher. Das h�rte sich an, als ob Gen�rich nicht dazugeh�rt hatte, und jetzt wollte der andere wissen, ob das stimmte. Genrich stellte die Sache klar. �Ich meine, ich. Wir. Also, wir alle.�
Er betonte das Wort �wir� und wiederholte es zur Sicherheit noch einmal.
�Also, wir quatschen die urki an, um zu sehen, ob sie uns was anbieten wollen. Eine Liste von Namen, eine Liste von Politi�schen, von Leuten, die was Dummes gesagt haben. Wir fragen sie, was sie daf�r haben wollen: Alkohol,Tabak ... Frauen?�
�Frauen?�
�Hast du schon mal von der Eisenbahnfahrt geh�rt?�
�Hilf mir auf die Spr�nge.�
�In den guten alten Zeiten haben die M�nner sich hinter�einander aufgereiht, bis sie bei den weiblichen Gefangenen an der Reihe waren. Ich war immer der letzte Waggon, sozusagen. Du wei�t schon, von der Eisenbahn ... von den M�nnern, die nacheinander drankamen, war ich immer der Letzte.�
Er lachte. �Aber besser als gar nichts, sage ich mir immer.�
Die H�nde in die H�ften gestemmt, hielt er inne und schaute hinaus aufs Meer. Gern h�tte er jetzt Jakows Reaktion gesehen. Nerv�s wiederholte er: �Besser als gar nichts.�
Aus den Augenwinkeln studierte Timur Nesterow im fahlen Licht der Abendd�mmerung das Gesicht des jungen Mannes, der da mit seinen Vergewaltigungsgeschichten angab. Der Bursche wollte, dass man ihm auf die Schulter klopfte, ihm gratulierte und versicherte, dass die guten alten Zeiten einfach besser ge�wesen waren. Timurs Tarnung als Beamter und Gef�ngnisw�rter Jakow Messing hing entscheidend davon ab, dass er nicht auf�fiel. Er durfte sich nicht bemerkbar machen, durfte keinen Staub aufwirbeln. Er war nicht hier, um �ber diesen Mann zu urteilen oder die Frauen zu r�chen. Trotzdem fiel es ihm schwer, sich nicht seine eigene Frau als Gefangene an Bord dieses Schiffes vorzustellen. Einmal war sie ganz nahe dran gewesen, verhaftet zu werden. Sie war wundersch�n, und dann w�re sie den Ge�l�sten dieses jungen Kerls auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen.
Timur warf seine Zigarette ins Meer und ging zum Eingang. Er war schon fast drinnen, als der W�rter ihm hinterherrief: �Danke f�r die Zigarette.�
Timur blieb stehen und fragte sich, wie er diese Mischung aus guten Manieren und gedankenloser Grausamkeit einordnen sollte. Genrich kam ihm eigentlich eher wie ein Kind als wie ein Mann vor. Und wie ein Kind vielleicht versucht h�tte, einen Erwachsenen zu beeindrucken, deutete der junge Beamte jetzt zum Himmel. �Sieht nach Sturm aus.�
Es wurde Nacht, und in der Ferne erleuchteten Blitze schwar�ze Wolken, die aussahen wie die Kn�chel einer riesigen Faust.
Am selben Tag
Leo lag in der Finsternis auf dem R�cken und lauschte dem kr�ftigen Regen, der auf das Deck trommelte. Das Schiff hatte begonnen zu schwanken, zu schlingern und zu rollen und von einer Seite zur anderen zu schaukeln. Er malte es sich im Kopf aus und �berlegte, ob es einen solchen Sturm �berstehen w�rde.
Das Schiff war gedrungen wie ein riesiger Stahldaumen, breit, langsam und stabil. Au�er dem Schornstein war das Einzige, was sich vom Deck erhob, der Turm, auf dem sich die Quartiere der W�rter und der Mannschaft befanden. Das Alter des Schiffes fl��te Leo Zuversicht ein. Es musste schon viele St�rme �ber�standen haben.
Seine Koje schwankte, als ein Brecher gegen die Seite schlug und �ber das Deck rollte - ein klatschendes Ger�usch, dessen Bild man sofort vor Augen hatte: wie das Deck f�r einen Mo�ment eins mit dem Meer wurde. Leo setzte sich auf. Das Schiff torkelte heftig, und er musste sich mit beiden H�nden an den Kojenrahmen klammern. Einige Gefangene fingen an zu schrei�en, als sie aus ihren Lagern geschleudert wurden - Schreie, die in der Dunkelheit widerhallten. Mittlerweile war es von Nach�teil, so hoch oben zu liegen. Der Holzrahmen war instabil und nicht mit der Bordwand verschraubt. Die Stockbetten w�rden vielleicht umst�rzen und die darin Liegenden auf den Boden kippen. Leo wollte schon hinunterklettern, als eine Hand nach seinem Gesicht griff.
Bei dem Wind und den Wellen und der Unruhe der Gefan�genen hatte er niemanden sich n�hern h�ren. Der Atem des Mannes stank nach F�ulnis. Seine Stimme war schroff.
�Wer bist du?� Der Mann h�rte sich gebieterisch an, h�chst�wahrscheinlich war er der Anf�hrer einer Bande. Leo war sich sicher, dass er nicht allein war. Seine M�nner mussten ganz in der N�he sein, in den anderen Kojen, neben ihm, unter ihm. K�mpfen war aussichtslos. Er w�rde ja nicht einmal sehen, ge�gen wen er k�mpfte.
�Ich hei�e ...�
Der Mann unterbrach ihn. �Dein Name interessiert mich nicht. Ich will wissen, wer du bist. Warum bist du hier bei uns? Du bist keiner von uns wory. Keiner wie ich. Vielleicht bist du ja ein Politischer. Aber dann sehe ich dich Rumpfbeugen machen, ich sehe, wie du dich in Form h�ltst, und deshalb wei� ich, dass du kein Politischer bist. Die verkriechen sich in einer Ecke und heulen wie kleine Kinder, dass sie ihre Familie nie mehr wieder�sehen werden. Das macht mich nerv�s, wenn ich nicht wei�, was sich hinter einem verbirgt. Ist mir egal, wenn es Mord oder Vergewaltigung oder Diebstahl ist. Ist mir sogar egal, wenn es Kirchenges�nge und Gebete und Tugendhaftigkeit sind. Ich will es nur gern wissen. Also, ich frage dich noch mal: Wer bist du?�
Dem Mann schien es vollkommen gleichg�ltig zu sein, dass das Schiff mittlerweile wie ein Spielzeug hin und her geworfen wurde. Das gesamte Stockbett ruckelte vor und zur�ck, das Einzige, was es noch stabilisierte, war das Gewicht der Men�schen, die darin lagen. Gefangene sprangen auf den Boden und kraxelten �bereinander.
Leo versuchte es mit vern�nftigen Argumenten. �Wie w�re es, wenn wir dar�ber reden, sobald sich der Sturm gelegt hat?�
�Warum? Hast du was anderes vor?�
�Ich muss von diesem Stockbett runter!�
�Sp�rst du das?�
Eine Messerspitze dr�ckte sich in Leos Bauch.
Von einem Moment auf den anderen hob sich das Schiff, so pl�tzlich und heftig, dass man h�tte glauben k�nnen, die H�n�de eines Meeresgottes unter ihnen sch�ben es aus dem Wasser und schleuderten es gen Himmel. Genauso urpl�tzlich stoppte die Aufw�rtsbewegung, der Schub fiel in sich zusammen, die Wasserhand verwandelte sich in Gischt, und die Stary Bolsche�wik fiel senkrecht nach unten.
Der Bug klatschte aufs Wasser. Mit der Kraft einer Detona�tion wummerte der Aufprall durch das Schiff. Wie auf Kom�mando zerbarsten krachend s�mtliche Stockbetten und brachen zusammen. Einen Moment lang hing Leo schwerelos in der Dunkelheit, dann fiel er, ohne zu wissen, was unter ihm lag. Er drehte sich in der Luft, damit er auf dem Bauch landen w�rde, und streckte die H�nde gen Boden. Im n�chsten Moment h�rte er ein Krachen, das Ger�usch brechender Knochen. Unsicher, ob er verletzt war, ob er sich etwas gebrochen hatte, blieb Leo still liegen, benommen und nach Luft schnappend. Er sp�rte keinen Schmerz. Als er den Boden um sich herum abtastete, stellte er fest, dass er auf einem anderen Gefangenen aufgekommen war, l�ngs auf dem Brustkorb des Mannes. Das Krachen hatten des�sen brechende Rippen verursacht. Leo suchte nach dem Puls, fand aber nur einen Holzsplitter, der aus dem Hals des Mannes hervorstach.
W�hrend Leo sich noch aufrappelte, rollte das Schiff erst zur einen und dann zur anderen Seite. Jemand griff nach seinen Fu�gelenken. Besorgt, dass es der Bandenchef war, trat er die H�nde weg, bis ihm klar wurde, dass da eher jemand verzweifelt Hilfe suchte. Leo blieb keine Zeit, dieses Unrecht wiedergutzu�machen, denn in diesem Moment hob sich das Schiff schon wie�der, noch steiler als vorher, es schoss geradezu gen Himmel. Die zerschmetterten Stockbetten, die jetzt keinen Halt mehr hatten, rutschten auf ihn zu und schoben sich �bereinander. Spitze, t�d�liche Splitter dr�ckten gegen seine Arme und Beine. Gefangene, die sich auf dem schr�gen Boden nicht l�nger halten konnten, purzelten abw�rts und prallten auf Leo, eine Lawine aus Holz und K�rpern.
Das Chaos von Menschen und Balken dr�ckte Leo nieder. In blinder Sinnlosigkeit versuchte er, irgendetwas zu finden, was ihm Halt gab, woran er sich klammern konnte. Das Schiff stand jetzt in einem F�nfundvierzig-Grad-Winkel. Etwas Metallisches traf ihn seitlich im Gesicht. Er st�rzte und rollte abw�rts, bis er an der hinteren Wand aufschlug, dem hei�en Bretterverschlag, der die Gefangenen von der tosenden Dampfmaschine trennte. In vier Lagen �bereinander hingen die aus ihren Kojen gefal�lenen Gefangenen an der Wand und bereiteten sich darauf vor, dass die Aufw�rtsbewegung des Schiffes sich unweigerlich in einen Fall umkehren w�rde. Aus Angst, nach vorne geschleudert zu werden, ins Ungewisse, grabschten sie nach allem, was noch fest war und woran sie sich krallen konnten. Leo versuchte sich an der Bordwand festzuklammern. Sie war glatt und kalt, nir�gends fand er Halt. Das Schiff hielt in seiner Aufw�rtsfahrt inne, es ritt auf dem Wellenkamm.
Gleich w�rde Leo hilflos nach vorne geschleudert werden, und alle anderen w�rden auf ihm landen und ihn erdr�cken. Ohne etwas sehen zu k�nnen, versuchte er sich an die Aufteilung des Laderaums zu erinnern. Die Leiter zur Deckluke hinauf war seine einzige Chance. W�rde er sie in der Dunkelheit finden k�n�nen? Das Schiff kippte nach vorn und schoss in freiem Fall nach unten. Leo warf sich in die Richtung, wo er die Leiter vermutete. Er knallte auf etwas Hartes - Eisensprossen. In dem Moment, als der Bug des Schiffes auf das Wasser klatschte, schaffte er es, sie mit einem Arm zu umklammern.
Ein zweiter explosionsartiger Aufschlag folgte, diesmal von unvorstellbarer Kraft. Leo war �berzeugt, dass das gesamte Schiff auseinandergebrochen war wie eine Nussschale unter einem Hammer. Er machte sich schon gefasst auf die Wasser�wand, doch stattdessen h�rte er Holz knacken, ein Ger�usch wie berstende Baumst�mme. Er h�rte Schreie. An Leos Arm, den er um die Sprosse gehakt hatte, riss es so heftig, dass er �berzeugt war, sich die Schulter ausgekugelt zu haben. Doch immer noch drang kein Wasser ein. Der Rumpf war heil geblieben.
Leo blickte um sich und bemerkte Rauch. Er konnte ihn nicht nur riechen, er konnte ihn auch sehen. Wo kam das Licht her? Der L�rm der Maschine schien noch zugenommen zu haben. Die Plankenwand, die die Gefangenen von der Dampfmaschine getrennt hatte, war zerborsten, der Maschinenraum lag frei. In seiner Mitte befand sich ein rot gl�hendes Rad, umgeben von einem Tr�mmerfeld aus Stockbetten und einem Kn�uel von Leichen.
Leo musste seine an die andauernde Finsternis gew�hnten Augen zusammenkneifen. Der Laderaum war nicht mehr ab�gesperrt. Die Gefangenen - die gef�hrlichsten M�nner, die der Strafvollzug kannte - hatten jetzt Zugang zu den Mannschafts�quartieren und dem Kapit�nsdeck, denn beide lie�en sich �ber den Maschinenraum erreichen. Der ganz von Kohlenstaub bedeckte Maschinist hob die H�nde und ergab sich. Ein Ge�fangener sprang auf ihn zu und schleuderte ihn gegen die gl��hende Dampfmaschine. Der Maschinist schrie auf, ein Gestank verbrannten Fleisches erf�llte die Luft. Er versuchte sich von der Maschine wegzudr�cken, aber der Gefangene presste ihn dagegen und grinste h�misch, w�hrend der Maschinist sich mit aufgerissenen Augen an seinem eigenen Speichel verschluckte und bei lebendigem Leibe verkohlte. Begeistert br�llte der Ge�fangene: ��bernehmt das Schiff!�
Leo erkannte die Stimme wieder. Das war der Mann, der auf seiner Koje gewesen war, der Bandenchef mit dem Messer - der Mann, der ihn umbringen wollte.
Am selben Tag
Im Zickzackkurs k�mpfte sich Timur durch die engen G�nge der Stary Bolschewik vor, wurde hin- und hergeschleudert und schlug gegen W�nde, w�hrend er verzweifelt versuchte, die bei�den T�ren zu sichern, die zum Maschinenraum hinabf�hrten. Er war gerade auf der Br�cke gewesen, als das Schiff von einem Wellenkamm hinabgest�rzt war wie von einer Klippe. Drei�ig Meter war der Bug gefallen, bevor er in einem Wellental auf�geschlagen war. �ber die Navigationsinstrumente hinweg war Timur erst nach vorne und dann auf den Boden geschleudert worden. Der Aufprall lie� die Stahlplatten des Schiffes singen wie eine Stimmgabel. Timur rappelte sich hoch und starrte aus dem Fenster, aber das Einzige, was er sehen konnte, war eine sch�umende Wasserfront, die auf ihn zuraste, ein gr�nes, schwarzes und wei�es Unget�m. Timur war sich sicher, dass das Schiff sinken w�rde, und warf sich wieder zu Boden, doch da hob sich der Bug schon wieder und ragte in den Himmel empor.
Der Kapit�n hatte im Maschinenraum angerufen, um sich die Sch�den durchgeben zu lassen. Keine Antwort, sooft er es auch versuchte. Sie hatten noch Strom, also arbeitete die Maschine. Demnach konnte der Rumpf nicht leckgeschlagen sein, denn bei einem st�rkeren Wassereinbruch w�re das Schiff nicht so leicht nach oben gesprungen. Wenn die Au�enh�lle aber intakt war, dann gab es f�r den Zusammenbruch der Kommunikation nur eine Erkl�rung: Vermutlich war die Holzwand zwischen dem Lagerraum und dem Maschinenraum zerborsten wie ein d�rrer Zweig. Das hie�, dass die Gefangenen jetzt nicht mehr eingesperrt waren. Sie konnten in den Maschinenraum und von dort aus �ber Treppen bis zum Turm vordringen. Wenn es den Gefangenen gelang, bis zu den h�her gelegenen Decks vorzu�dringen, w�rden sie alle umbringen und einen neuen Kurs in Richtung internationaler Gew�sser ansteuern. Dort w�rden sie im Austausch f�r antikommunistische Propaganda Asyl be�antragen. F�nfhundert Gefangene gegen eine Mannschaft von drei�ig Leuten, von denen nur zwanzig W�rter waren.
Die Kontrolle �ber die unter Deck liegenden Ebenen hat�ten sie schon verloren. Sie konnten den Maschinenraum nicht zur�ckerobern oder auch nur die Mannschaft, die dort gerade Schicht hatte, retten. Aber es war immer noch m�glich, diese Zone abzuriegeln und die Gefangenen im Bauch des Schiffes eingesperrt zu halten. Vom Maschinenraum f�hrten zwei Zu�g�nge nach oben. Timur n�herte sich dem ersten, w�hrend eine Gruppe von W�rtern zum zweiten geschickt worden war. Wenn eine der T�ren offen blieb und den Gefangenen in die H�nde fiel, war das Schiff verloren.
Timur rannte nach links und dann nach rechts und stolperte die letzte Treppe hinunter. Jetzt befand er sich am Sockel des Turms. Direkt vor ihm, am Ende des Gangs, lag die erste der beiden Zugangst�ren. Unverschlossen schwang sie hin und her und schepperte gegen die Stahlw�nde. Pl�tzlich drehte sich das Schiff und neigte sich steil nach oben, sodass Timur auf H�n�den und Knien nach vorne geschleudert wurde. Die schwere Eisent�r schwang auf, und er sah eine Horde von Gefangenen, die aus dem Maschinenraum heraufgest�rmt kam, bestimmt drei�ig oder vierzig M�nner. Beide Seiten entdeckten einander gleichzeitig. Die T�r war jetzt genau zwischen ihnen, und �ber die Trennlinie zwischen Freiheit und Gefangenschaft hinweg starrten sie sich an.
Die Gefangenen st�rzten vor. Timur reagierte, sprang vom Boden auf und warf sich genau in dem Moment gegen die T�r, als von der anderen Seite unz�hlige H�nde dagegendr�ckten. Ausgeschlossen, dass er sie lange w�rde aufhalten k�nnen. Seine F��e rutschten schon weg, gleich waren die anderen durch. Er griff nach seiner Waffe.
In diesem Moment warf der Sturm das Schiff zur Seite und riss die Gefangenen von der T�r weg, w�hrend er gleichzeitig Timur dagegen warf. Die T�r knallte zu. Timur legte den Riegel vor und klemmte ihn fest. H�tte der Sturm das Schiff zur ande�ren Seite geneigt, w�re Timur zu Boden geschleudert worden. Die Gefangenen w�ren wie eine wild gewordene Herde �ber ihn hergefallen und h�tten ihn �berw�ltigt. Jetzt trommelten sie fluchend vor Wut, dass ihnen die Freiheit im letzten Moment entrissen worden war, mit den F�usten gegen die T�r. Aber ihre Stimmen waren kaum zu h�ren und die Schl�ge vergeblich. Die dicke Stahlt�r war verschlossen.
In seine Erleichterung hinein h�rte Timur pl�tzlich Maschi�nengewehrfeuer. Die Gefangenen mussten durch die zweite T�r gedrungen sein. Er rannte los, stolperte an verlassenen Mannschaftsquartieren vorbei, bog um eine Ecke und sah zwei Wachleute, die sich hingekauert hatten und feuerten. Als er bei ihnen war, zog er seine Waffe und zielte in dieselbe Richtung. Zwischen ihnen und der zweiten Zugangst�r lagen Menschen auf dem Boden, es waren getroffene Str�flinge. Einige lebten noch und winkten um Hilfe. Die entscheidende T�r hinunter zu den Ebenen unter Deck, der einzige noch verbliebene Ausgang f�r die Gefangenen, war mit einem Holzbalken aufgehebelt wor�den, der jetzt aus ihr hervorragte. Selbst wenn Timur sich also gegen die T�r stemmte, er w�rde sie nicht zubekommen. Die anderen Beamten waren panisch und schossen wild drauflos. Querschl�ger prallten von den Stahlw�nden ab und schwirrten mit t�dlicher Zuf�lligkeit durch den Gang. Timur gab den W�r�tern Zeichen, ihre Waffen zu senken.
Der Bewegung des Meeres folgend, schwappten auf dem Bo�den Wasserlachen von einer Seite zur anderen. Die Gefangenen dr�ngten nun nicht mehr vor, sondern verschanzten sich hinter der T�r. Vermutlich hatten die Halsabschneider gerade einige M�he, die etwa zwanzig Freiwilligen zu finden, die bereit waren, ihr Leben bei dem Vorsto� zu opfern, der den Gang unter ihre Kontrolle bringen w�rde. So viele w�rden mindestens sterben, bevor die W�rter �berw�ltigt waren.
Timur nahm sich eines der Maschinengewehre und zielte auf den vorstehenden Holzstumpf. W�hrend er feuerte und das Holz zersplittern lie�, r�ckte er weiter vor. Das best�ndige Trommel�feuer zerfetzte den Balken allm�hlich, und mit einer letzten Salve brach er entzwei. Jetzt lie� sich die T�r wieder schlie�en. Timur sprang vor, aber bevor er den Griff erreichte, wurden drei wei�tere Holzbalken durch die Luke gesto�en. Er bekam die T�r nicht zu. Da ihm die Munition ausgegangen war, zog Timur sich zur�ck.
Inzwischen waren vier weitere Wachm�nner angekommen und hatten sich am Ende des Gangs postiert. Jetzt waren sie zu siebt - ein j�mmerliches H�uflein, das f�nfhundert Gegner in Schach halten sollte. Seit ihren anf�nglichen Verlusten hatten die Gefangenen keinen zweiten Vorsto� riskiert. Wenn nicht ein Teil von ihnen bereit war, sein Leben zu opfern, w�rden sie nicht weiterkommen. Ohne Zweifel sannen sie schon �ber eine andere Angriffstaktik nach.
Einer der Beamten fl�sterte: �Wir schieben einfach unsere Gewehre durch den T�rspalt. Die haben doch keine Waffen. Dann lassen sie die Balken los, und wir machen die T�r zu.�
Drei W�rter nickten und preschten vor.
Sie hatten kaum ein paar Schritte gemacht, als die T�r aufflog. Panisch er�ffneten die Beamten das Feuer, doch es war zwecklos. Die ersten Gefangenen benutzten die verletzten Mannschaftsan�geh�rigen als Schutzschilde. Es war ein grausiger Anblick. Sie setzten die schreienden M�nner, deren verbrannte Haut in Fet�zen von ihren Gesichtern hing, als menschliche Schutzschilde ein.
Der Beamte, der dem Ansturm am n�chsten war, versuchte sich zur�ckzuziehen und feuerte dabei seine Waffe kopflos in den K�rper seines Kollegen ab. Der Gefangene schleuderte ihm die Leiche entgegen und warf ihn damit zu Boden. Jetzt zielten die W�rter auf die Beine der Gefangenen, aber es waren einfach zu viele. Der Strom der H�ftlinge drang weiter vor. In wenigen Minuten w�rden sie den Gang unter ihrer Kontrolle haben und von dort aus �ber das gesamte Schiff ausschw�rmen. Timur w�rden sie lynchen. Er war wie gel�hmt und schaffte es nicht einmal, seine Pistole abzufeuern. Was konnten sechs Schuss schon gegen f�nfhundert Mann ausrichten. Genauso gut h�tte er aufs Meer ballern k�nnen.
Dann kam ihm pl�tzlich eine Idee. Er wandte sich um und rannte zur Au�ent�r, die zum Deck hinausf�hrte. Er warf sie weit auf. Vor ihm tobte das aufgew�hlte Meer, eine tosende Wassermasse. Alle W�rter trugen einen Sicherungsgurt. Timur klinkte den Karabiner in den Draht ein, der daf�r um den Turm herumlief - so wurde man nicht �ber Bord gesp�lt.
Rasch blickte er sich nach der Schie�erei um und stellte fest, dass nur noch zwei Beamte �brig waren. Zahlreiche Str�flinge waren tot, aber hinter den Leichen dr�ngte eine schier uner�sch�pfliche Zahl anderer hervor. Timur br�llte gegen das Meer an, forderte es heraus, stachelte es an. �Na los!�
Das Schiff tauchte ab und zog Timur in ein tiefes Wellental. Dann hob es sich langsam wieder. Gekr�nt von wei�er Gischt, rollte ein Berg von Wasser auf ihn zu und lie� den Himmel ver�schwinden. Er schlug seitw�rts gegen das Schiff und durchflutete die G�nge. Timur wurde zur�ckgerissen und vom Meer �ber�sp�lt. �berall war nur noch Wasser, und seine Gewalt presste ihm die Luft aus der Lunge. Die K�lte bet�ubte ihn. Hilflos, unf�hig, sich zu bewegen, wurde er in den Gang gesp�lt.
Sein Karabiner rettete ihn und hielt ihn fest. Die Welle war �ber das Schiff geschlagen, und nun vollf�hrte das Schiff die Ge�genbewegung, es neigte sich zur anderen Seite. Das Wasser lief genauso schnell wieder ab, wie es hineingeschossen war. Japsend fiel Timur zu Boden und sah nach, was die Flut angerichtet hatte. Die Phalanx der Gefangenen war zur�ckgeschleudert worden, manche auf den Boden, die meisten aber die Leiter hinunter. Be�vor sie sich wieder erholen konnten, machte er seinen Haken los. Mit klatschnassen Kleidern und randvollen Stiefeln platschte er �ber die zerschossenen Leiber von W�rtern und Gefangen, den Opfern des Scharm�tzels. Er schlug die T�r zu und verriegelte sie. Das Unterdeck war verschlossen.
Timur hatte keine Zeit zu verlieren. Die dem Meer zuge�wandte T�r stand noch offen. Noch eine solche Wasserwand w�rde m�glicherweise das Innere �berfluten und das gesamte Schiff zum Kentern bringen. Timur hangelte sich zur�ck zur Au�ent�r, da packte ihn eine Hand. Einer der Gefangenen lebte noch und warf Timur um. Dann krabbelte der Gefangene auf ihn und zielte mit einer Maschinenpistole auf seinen Kopf. Er konnte ihn gar nicht verfehlen. Der H�ftling zog den Abzug, hatte aber nicht mit einer Ladehemmung gerechnet.
Timur sah seine Chance, und er explodierte f�rmlich. Mit einem Faustschlag zerschmetterte er dem Gefangenen die Nase, drehte ihn auf den Bauch und dr�ckte sein Gesicht in eine Was�serlache. Wieder neigte sich das Schiff, diesmal allerdings zu Timurs Nachteil, das Wasser lief ab. Das rettete den Str�fling, der jetzt wieder atmen konnte. Leichen rutschten den Gang ent�lang und hinaus aufs Deck. Auch Timur und der Gefangene, die miteinander rangen, schlitterten in diese Richtung. Nur noch wenige Meter, dann w�rden sie ins tosende Meer st�rzen.
Als sie durch die T�rluke rutschten, griff Timur nach oben und klammerte sich an den Sicherungsdraht. Gleichzeitig trat er nach dem verletzten Gefangenen und schleuderte ihn aufs Deck hinaus. Eine zweite Welle brandete heran. Timur zog sich hinein und schloss die T�r. Durch das kleine Glasfenster starrte er direkt in die Augen des Str�flings. Dann schlug die Welle auf, Timur sp�rte die Ersch�tterung in den H�nden. Als das Wasser sich zur�ckgezogen hatte, war der Gefangene verschwunden.
Am selben Tag
Vom Fu� der Treppe aus beobachtete Leo, wie der frischgeba�ckene Anf�hrer des Aufstands an der Stahlt�r zerrte und sie aufzuziehen versuchte. Sie waren eingeschlossen, der Weg zur Br�cke versperrt. Bei seinem Ausbruchsversuch hatte er viele seiner wory verloren. Es verstand sich von selbst, dass er den Angriff von hinten aus geleitet hatte, wo keine Kugeln pfiffen.
Der Wassereinbruch hatte ihn die Treppe hinabgesp�lt. Leo blickte zu Boden. Er stand kn�cheltief im Wasser, es rollte von einer Seite zur anderen und destabilisierte das Schiff. Abpum�pen konnte man es nicht, jedenfalls nicht inmitten des Kampfes. Dass die Gegner etwa kooperierten, daran war nicht zu denken. Wenn noch mehr Wasser eindrang, w�rde das Schiff kentern und sie selbst hier in der Finsternis untergehen, eingeschlossen in einem st�hlernen Gef�ngnis, das mit eiskaltem Meerwasser volllief. Doch ihren neuen, selbsternannten Anf�hrer interessier�te die prek�re Lage des Schiffes nicht. Er hatte eine Gefangenen�revolution angezettelt und schien entschlossen, diese entweder erfolgreich zu Ende zu bringen oder zu sterben.
Die Dampfmaschine fing an zu stottern. Leo drehte sich um und sah nach, was los war. Die Maschine musste unbedingt am Laufen gehalten werden. Er wandte sich an die verbliebenen Gefangenen und forderte sie zur Mithilfe auf. �Wir m�ssen die Kohlen trocken halten und das Feuer beschicken.�
Der Anf�hrer kam zur�ck in den Maschinenraum und schnauzte: �Wenn sie uns nicht freilassen, schlagen wir die Ma�schine kaputt.�
Leo sch�ttelte nur den Kopf. �Sobald wir an Leistung ver�lieren, kann das Schiff nicht mehr navigieren und wird sinken. Wir m�ssen die Maschine am Laufen halten. Unser Leben h�ngt davon ab.�
�Deren Leben auch. Wenn wir ihnen den Saft abdrehen, dann m�ssen sie mit uns reden. Dann m�ssen sie verhandeln.�
�Die werden nie und nimmer die T�ren aufmachen. Wenn wir die Maschine zerst�ren, geben sie das Schiff auf. Die haben gen�gend Rettungsboote - wir aber nicht. Sie w�rden uns eher ertrinken lassen.�
�Woher willst du das wissen?�
�Es w�re nicht das erste Mal. An Bord der Dschurma sind die Gefangenen mal ins Vorratslager eingebrochen, haben sich Nahrungsmittel gestohlen und den Rest in Brand gesteckt, die ganzen Reiss�cke und Holzregale. Sie dachten, die W�rter w�rden sofort heruntergest�rzt kommen. Irrtum. Die lie�en es einfach brennen. Alle Gefangenen sind erstickt.�
Leo nahm sich eine Schaufel. Der Anf�hrer sch�ttelte den Kopf. �Leg sie wieder hin.�
Ohne auf ihn zu achten, schaufelte Leo Kohle in den Ofen. Das vernachl�ssigte Feuer war schon merklich abgek�hlt. Kei�ner der M�nner half ihm, alle warteten ab, wie der Konflikt ausgehen w�rde. Leo versuchte seinen Gegner einzusch�tzen. Er war sich nicht sicher, ob er ihn w�rde bezwingen k�nnen. Es war schon lange her, seit er zum letzten Mal gegen jemanden ge�k�mpft hatte. Leo umklammerte die Schaufel fester und machte sich bereit.
Zu seiner �berraschung l�chelte der Anf�hrer nur. �Na dann los. Schaufel Kohle wie ein Sklave. Es gibt noch einen anderen Weg hier heraus.�
Er nahm sich selbst eine Schaufel und kletterte durch die kaputte Trennwand in den Gefangenenraum. Leo blieb stehen. Sollte er einfach weiterschaufeln oder dem Mann folgen? Weni�ge Augenblicke sp�ter h�rte er, wie Stahl auf Stahl wummerte. Leo sprang durch das Loch in der Trennwand zur�ck ins D�m�merlicht des Laderaums. Er kniff die Augen zusammen und sah, dass der Anf�hrer ganz oben auf der Leiter stand und mit einer Brechstange immer wieder gegen die Deckluke schlug. Bei einem normalen Mann w�re das ein sinnloses Unterfangen gewesen, aber dieser hier hatte eine solche Kraft, dass die Luke sich aus�zuheulen begann und unter den Schl�gen w�lbte. Irgendwann w�rde der Stahl rei�en.
Leo rief: �Wenn du die Luke kaputtschl�gst, dringt Wasser ein. Zu kriegst du sie dann nicht mehr. Wenn der Laderaum volll�uft, sinkt das Schiff!�
Oben auf der Treppe schlug der Str�fling mit unverminderter Kraft weiter auf die Luke ein und rief dabei triumphierend sei�nen Mitgefangenen zu: �Bevor ich sterbe, will ich frei sein. Ich will als freier Mann sterben.�
Ohne irgendwelche Erm�dungserscheinungen zerbeulte der Mann geduldig weiter die st�hlerne Luke. Jeden Schlag setzte er dort an, wo auch schon der letzte gelandet war.
Unm�glich zu sagen, wie lange es noch dauern w�rde, bis die Luke kaputt und nicht mehr zu reparieren war. Leo musste sofort handeln. Allein gegen den Mann zu k�mpfen war aus�sichtslos. Er musste die anderen Gefangenen hinter sich bringen. Er drehte sich zu ihnen um: �Unser Leben h�ngt davon ...�
Doch seine Stimme wurde von den dr�hnenden Schl�gen und dem Sturm �bert�nt. Niemand w�rde ihm helfen.
Wieder hechtete Leo, das Schwanken des Schiffes f�r sich ausnutzend, auf die unterste Leitersprosse zu und hielt sich da�ran fest. Der Str�fling hatte seine Beine um die st�hlernen Lei�terrohre geklammert und sich dadurch Halt verschafft. Immer weiter schlug er auf die Luke ein. Als er bemerkte, dass Leo zu ihm hochkletterte, richtete er das schartige Stemmeisen auf ihn. Leos Gegner stand weiter oben. Leos einzige Chance war, ihm die Beine wegzurei�en und ihn zu Fall zu bringen. Der Str�fling nahm Verteidigungshaltung ein und holte mit der Stange aus.
Bevor Leo noch seine Position wechseln konnte, schlugen durch die Luke Kugeln in den R�cken des Str�flings. Perplex, den Mund voller Blut, blickte er auf seine Brust hinab. Dann r�ttelte ihn der Sturm von der obersten Sprosse nach unten. Leo duckte sich weg, und der Mann schlug platschend auf. Noch mehr Kugeln klatschten durch die Luke und sirrten an Leos Kopf vorbei. Er sprang aus der Schusslinie und landete im Wasser.
Er warf einen Blick hin�ber und sah, dass der wory-Anf�hrer auf dem Bauch lag - er war tot. Von ihm ging keine Gefahr mehr aus. Die Luke allerdings war von Kugeln durchsiebt. Je�des Mal, wenn eine Welle �ber das Deck brach, regnete eine kr�ftige Dusche herein. Wenn sie es nicht schafften, die L�cher zuzustopfen, w�rde der Wasserspiegel weiter ansteigen und das Schiff schlie�lich zum Kentern bringen. Leo musste unbedingt auf die Leiter und die L�cher verschlie�en. Immer noch wurde das Schiff von einer Seite zur anderen geschleudert, und immer mehr Wasser ergoss sich durch die Luke. Der Pegel im Laderaum stieg stetig an, er schwappte bereits gegen die sich immer weiter abk�hlende Dampfmaschine. Das Schiff hatte jetzt schon damit zu k�mpfen, sich aufzurichten, nur langsam stellte es sich wieder in die Vertikale. Es musste etwas geschehen.
Leo zog dem toten Str�fling die Kleider aus und riss sie in Fetzen. W�hrend Wasserg�sse aus der besch�digten Luke ihn wieder und wieder durchn�ssten, setzte er vorsichtig einen Fu� auf die unterste Sprosse, um nach oben zu klettern. Sein Leben hing jetzt davon ab, dass der unsichtbare W�rter da oben mit�dachte.
Am selben Tag
W�hrend sich um ihn herum die Wellen brachen, so als w�rde er auf einem riesigen Wal reiten, klammerte Genrich sich eupho�risch an der Maschinengewehrlafette fest. Nur seinem Mut war es zu verdanken, dass der Ausbruchsversuch der Gefangenen gescheitert war. Er hatte das Schiff gerettet. Vom Feigling zum Helden in nur einer Nacht!
Als er zuvor im Turm mitangeh�rt hatte, wie der Kampf zwi�schen den W�rtern und den Gefangenen ausbrach, hatte er sich noch in die Mannschaftsquartiere gekauert und versteckt. Er hatte gesehen, wie sein Freund Jakow vorbeirannte, aber nichts unternommen, sondern war in seinem Schlupfwinkel geblieben.
Erst als er sicher war, dass die Gefangenen verloren hatten, dass man sie zur�ckgeschlagen und das Schiff gesichert hatte, war er wieder hervorgekrochen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass ihm ja noch eine ganz andere Gefahr drohte. Die �berlebenden Mann�schaftsmitglieder w�rden ihm vorwerfen, ein Deserteur zu sein. Sie w�rden ihn genauso verachten wie schon die vorherigen. Wieder w�rde er zu sieben Jahren Ausgrenzung verurteilt sein. Doch mitten in seiner tiefsten Verzweiflung war ihm die Ver�gebung praktisch in den Scho� gefallen - als er n�mlich das dr�hnende Schlagen von Stahl auf Stahl h�rte. Von der gesamten Mannschaft war er der Einzige, der mitbekam, dass die Gefan�genen die Luke aufbrechen wollten. Sie versuchten, das Schiff vom Deck aus zu erobern. Die Luke war nicht daf�r gebaut, einem l�ngeren Angriff standzuhalten. Normalerweise h�tte kein Gefangener riskiert, sie anzur�hren, aus Angst, erschossen zu werden. In dem Sturm jedoch war die Maschinengewehr�lafette unbemannt gewesen. Das war seine Gelegenheit, sich zu beweisen. Diese Aussicht verlieh ihm Fl�gel, vom Turm aus rannte er �ber das Deck bis zum Maschinengewehr. Er zielte auf die Luke und schoss. Schwindelig vor Begeisterung jauchzte er auf und feuerte eine zweite und dritte Garbe durch die Luke. Er w�rde hier drau�en bleiben, bis der Sturm vorbei war. Alle im Turm sollten seinen au�erordentlichen Mut sehen k�nnen. Wenn auch nur ein einziger Gefangener auszubrechen versuchte, wenn er sich der Luke auch nur n�herte, w�rde er ihn t�ten.
* * *
Timur stand auf der Br�cke und sch�umte vor Wut �ber Genrichs Bl�dheit. Er musste verhindern, dass der Mann noch ei�ne Salve in die Luke feuerte. Das Schiff lag jetzt schon zu tief im Wasser, der Kapit�n brachte es kaum noch �ber die Wellen. Wenn noch mehr Wasser eindrang, w�rden sie sinken. Nichts deutete darauf hin, dass der Sturm bald nachlassen w�rde. An�ders als die anderen wusste Timur, wie viel Wasser schon in das Schiff geflossen war, als er die Au�ent�ren ge�ffnet hatte. Erst hatte er die Stary Bolschewik vor den Str�flingen gerettet, und jetzt musste er sie auch noch vor einem W�rter retten.
Er rannte die Treppe hinunter und holte noch einmal tief Luft, dann dr�ckte er die T�r zum Deck auf. Der Wind und der Regen peitschten ihm entgegen, als seien sie durch seine Anwesenheit pers�nlich beleidigt. Timur schloss die T�r hinter sich und klinkte sich in den Sicherungsdraht ein. Zwischen dem Sockel des Turms und dem Maschinengewehr lagen vielleicht f�nfzehn Meter ungesch�tzten Decks. Wenn ihn auf dieser Strecke eine Welle erwischte, dann w�rde er entweder in die Decksmitte gesp�lt werden oder hinaus aufs Meer. Seine Sicherungsleine nutzte ihm da nicht viel, sie w�rde ihn nur wie einen Fischk�der durch das Wasser ziehen und schlie�lich rei�en. Er warf einen hastigen Blick auf die Einschussl�cher in der Luke. Da entdeckte er etwas. Ein Lappen wurde hindurchgedr�ckt, um eins der L��cher zu verschlie�en. Genrich begriff nichts. Er legte einen neuen Patronengurt ein und wollte weiterfeuern.
Timur st�rzte �ber das Deck. Genau im selben Moment bran�dete eine Welle seitw�rts an das Schiff und rollte auf ihn zu. Timur warf sich nach vorn, klammerte sich an die Lafette und dr�ckte den Lauf nach oben. Genrich feuerte. Im n�chsten Mo�ment schlug die Welle zu. Sekundenlang wurden Timurs Beine hochgerissen. H�tte er sich nicht festgehalten, w�re er aufs Meer hinausgesp�lt worden. Dann floss das Wasser ab, und er bekam wieder Boden unter die F��e. Timur hustete, sein Mund und seine Nase waren voller Wasser. Kaum hatte er sich einigerma��en erholt, packte er Genrich am Genick. Au�er sich vor Wut sch�ttelte er ihn wie eine Stoffpuppe. Dann stie� er ihn weg, riss den Patronengurt aus dem Maschinengewehr und warf ihn ins Meer.
Nachdem er das Maschinengewehr entladen hatte, taumelte Timur zum Turm zur�ck und sah im Vorbeigehen noch einmal zur Luke hin. Weitere Stofffetzen wurden in die L�cher gestopft.
Als er beinahe schon den Turm erreicht hatte, sp�rte er eine weitere Welle aufschlagen. Er wirbelte herum und sah, wie das Wasser direkt auf ihn zuraste. Es riss ihn von den F��en, und er krachte auf das Deck. Einen Moment lang herrschte Stille. Alles, was er sehen konnte, waren Millionen von Bl�schen. Dann zog sich das Wasser zur�ck, und das Get�se des Sturms brandete wieder auf. Timur setzte sich auf und blickte um sich. Die Ma�schinengewehrlafette war verschwunden, herausgerissen wie ein verfaulter Zahn. Die Tr�mmer waren zum Bug des Schiffes ge�sp�lt worden. Genrich hing in den verbogenen Eisenteilen fest.
Timur hatte gen�gend Leine, um sich an der Reling entlangzuhangeln und den jungen W�rter zu packen. J�mmerlich versuchte Genrich, sich aus dem Eisengest�nge zu befreien, aber er hing fest. Wenn die Tr�mmer �ber Bord gingen, w�rden sie Genrich mitnehmen. Timur konnte ihn retten. Doch Timur r�hrte sich nicht. Er warf einen schnellen Blick aufs Meer. Das Schiff erklomm eine weitere Welle, bald w�rden sie wieder ins n�chste Tal fallen, und die unb�ndige Kraft, die das festge�schraubte Maschinengewehr vom Deck gerissen hatte, w�rde auch sie wegsp�len.
Timur wandte sich von Genrich ab, griff nach der Leine und zog sich zum Turm zur�ck. Das Schiff kippte und neigte sich nach vorn. Timur erreichte die T�r, kletterte hinein und verschloss sie fest.
* * *
Genrich wurde von einer Welle emporgehoben und ruderte mit den Armen, um oben zu bleiben. Das Meer war so kalt, dass er unterhalb der H�fte nichts mehr sp�rte. Als er �ber Bord gesp�lt worden war, hatte er einen heftigen Schmerz gesp�rt, weil der Stahl ihm das Fleisch aufgerissen hatte. Aber jetzt war er taub vor Schock und der Schmerz verschwunden, so als h�tten die eiskalten Wellen ihn in der Mitte durchgebissen. Eine Sekun�de lang sah er noch das Schiff und die Lichter am Turm. Dann war es verschwunden.
Zehn Kilometer n�rdlich von Moskau
8. April
Sojas Hand- und Fu�gelenke waren mit d�nnem Draht gefes�selt. Sie hatten ihn so fest gewickelt, dass er ihr in die Haut schnitt, sobald sie sich bewegte. Mit einer Augenbinde und einem Knebel im Mund lag sie auf der Seite. Keine Decke lag unter ihr, nichts, was die Schlagl�cher in der Stra�e etwas abge�federt h�tte. Nach dem Motorenl�rm und dem Platz um sie he�rum zu urteilen befand sie sich auf der Ladefl�che eines Lasters. Sie sp�rte jede Beschleunigung und jede Vibration durch den Blechboden. Bei jedem abrupten Halt rollte sie vor und zur�ck, eher wie ein Kadaver als wie ein lebender Mensch. Nachdem sie sich erst einmal von ihrer Orientierungslosigkeit erholt hatte, hatte sie damit begonnen, sich die Fahrt einzupr�gen. Anfangs waren sie oft abgebogen und durch den Verkehr gekurvt. Da waren sie in einer Stadt gewesen, vermutlich in Moskau, ob�wohl sie das nicht mit Sicherheit wissen konnte. Im Augenblick fuhren sie bei gleichbleibender Geschwindigkeit geradeaus. Sie mussten die Stadt also verlassen haben. Au�er dem r�hrenden Motorenl�rm h�rte man nichts, auch keinen Verkehr. Sie wurde also an irgendeinen entlegenen Ort gebracht. Daraus und aus der Tatsache, dass man sich um ihre Verfassung offensichtlich keine Gedanken gemacht und ihr den Knebel so weit in den Mund geschoben hatte, dass sie beinahe daran erstickte, schloss Soja, dass sie bald sterben m�sste.
Wie lange war sie jetzt schon gefangen? Unm�glich zu sa�gen, sie hatte jedes Zeitgef�hl verloren. Nachdem man sie aus der Wohnung entf�hrt hatte, war sie bet�ubt worden. Zusam�mengeschn�rt im Wagen liegend hatte sie noch mitbekommen, wie Raisa abgest�rzt war. Das war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, bevor sie wieder aufgewacht und sich auf dem Boden einer fensterlosen Backsteinkammer wiedergefunden hatte, mit h�mmernden Kopfschmerzen und einem staubtro�ckenen Mund. Obwohl sie bewusstlos gewesen war, als man sie dorthin gebracht hatte, sagte ihr ein deutliches Gef�hl, dass sie sich tief unter der Erde befinden musste. Die Luft war stets kalt und feucht. Die Ziegel erw�rmten sich nie und lie�en keine R�ckschl�sse �ber Tag und Nacht zu. Nach dem Gestank zu urteilen war irgendein Abwassersystem in der N�he, und oft h�rte sie Wasser rauschen. Manchmal waren die Ersch�tterun�gen so stark, dass man h�tte meinen k�nnen, auf der anderen Seite bef�nde sich ein Tunnel mit einem unterirdischen Fluss. Man hatte ihr etwas zu essen und eine Decke gebracht. Ihre H�scher unternahmen keinerlei Anstrengungen, ihre Identit�t zu verbergen. Au�er einer Reihe kurz angebundener Befehle und Fragen hatte bislang keiner mit ihr gesprochen oder �ber das Lebensnotwendige hinaus irgendein Interesse an ihr gezeigt. Dennoch hatte sie gelegentlich das unbestimmte Gef�hl gehabt, dass jemand sie aus der sch�tzenden Dunkelheit des Flurs vor ihrer Zelle heraus beobachtet hatte. Wann immer Soja sich n�her herangerollt und versucht hatte, einen Blick auf die Person zu erhaschen, hatte die sich in die Dunkelheit zur�ckgezogen.
In diesen ersten beiden Wochen hatte sie viel �ber den Tod nachgedacht und das Thema immer wieder von Neuem gew�lzt, so wie man an einem ausgelutschten Bonbon saugt. Wof�r lebte sie �berhaupt? Sie tr�umte nicht davon, gerettet zu werden. Der Gedanke an Freiheit trieb ihr keine Freudentr�nen in die Augen. Freiheit, das war das Leben eines unbeliebten, ungl�cklichen Schulm�dchens gewesen, verhasst und auch hassenswert. In der Gefangenschaft versp�rte sie keine gr��ere Einsamkeit als vorher in Leos Wohnung. Und sie kam sich auch nicht einge�sperrter vor. Nur die Umgebung war eine andere, das Leben aber war dasselbe geblieben. Sie weinte nicht bei dem Gedanken an ihr Kinderzimmer oder wie die Familie am Tisch gesessen und eine warme Mahlzeit zu sich genommen hatte. Sie weinte noch nicht einmal beim Gedanken an ihre Schwester. Vielleicht w�rde Elena ohne sie sogar gl�cklicher sein, vielleicht hielt Soja ihre kleine Schwester nur davon ab, ein normales Leben zu f�hren und Leo und Raisa in ihr Herz zu schlie�en.
Warum kann ich nicht weinen?
Sie kniff sich ganz fest, aber es n�tzte nichts. Soja konnte ein�fach nicht weinen.
Sie hoffte nur, dass Raisa den Sturz �berleben w�rde. Und sie hoffte, dass Elena in Sicherheit war. Und doch f�hlten sich diese Hoffnungen, so ehrlich sie auch waren, irgendwie so an, als h�tten sie mit ihr selbst gar nichts zu tun, als seien es nicht eigene Herzensempfindungen, sondern nur das, was andere von ihr erwarteten. Das entscheidende Zahnr�dchen, das ihre Ge�f�hle mit ihren Erfahrungen h�tte in Verbindung bringen k�n�nen, fehlte ihr einfach. Sie h�tte Angst haben m�ssen. Aber sie hatte nur das Gef�hl, in einer lauwarmen So�e aus Resignation zu treiben. Wenn diese Leute sie umbringen wollten - bitte sehr. Wenn sie sie freilie�en - auch gut. Sie war nicht tapfer, ihr war nur alles gleichg�ltig.
Der Lastwagen bog von der Stra�e ab und rumpelte jetzt �ber einen Feldweg. Nach einiger Zeit wurde er langsamer, fuhr noch um ein paar Kurven und hielt schlie�lich an. Vorne wurden die T�ren ge�ffnet und wieder zugeschlagen. Schritte knirschten �ber die Erde, sie kamen nach hinten. Die Plane wurde hoch�geworfen. Wie eine Ladung hob man Soja hoch und stellte sie auf die F��e. Sie konnte kaum stehen, weil sie wegen des in die Fu�gelenke schneidenden Fesseldrahtes aus dem Gleichge�wicht kam. Sie stand auf blo�er Erde und Steinen. Von der Fahrt war ihr ganz schwindelig, vielleicht w�rde sie sich �bergeben m�ssen. Aber sie wollte nicht, dass ihre H�scher sie f�r einen Schw�chling und einen Angsthasen hielten. Jetzt nahmen sie ihr den Knebel ab, und sie atmete tief durch. Ein Mann fing an zu lachen, langsam, herzhaft und s�ffisant. Inzwischen wurde ihr der Draht von den Fu�gelenken gewickelt und die Augenbinde entfernt.
Soja musste so heftig blinzeln, als starre sie direkt ins Son�nenlicht. Wie ein unterirdischer D�mon, den man au�erhalb seiner H�hle erwischt hatte, wandte sie sich vom Himmel ab. Nur langsam gew�hnten sich ihre Augen ans Licht, und sie konnte ihre Umgebung erkennen. Sie stand auf einem Feldweg, vor ihr neben dem Lastwagen wuchsen hier und da kleine wei��e Blumen, wie Pf�tzen vergossener Milch. Als sie aufblickte, sah sie ringsherum Wald. Ihre Augen, die an keinerlei Reize mehr gew�hnt waren, verhielten sich wie ein ausgetrockneter Schwamm, den man ins Wasser wirft - jeden Farbtupfer vor ihr sogen sie auf.
Dann fielen Soja ihre H�scher wieder ein, und sie drehte sich um. Es waren zwei, einer der beiden war ein vierschr�tiger Kerl mit massigen Armen, einem Stiernacken und einem enormen, muskelbepackten Oberk�rper. Alles an ihm war kr�ftig und gedrungen, so als sei er in einer zu kleinen Schachtel aufge�wachsen. Der andere war das genaue Gegenteil, ein Junge in ihrem Alter, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Er war schlank und sehnig, sein Blick durchtrieben. Er musterte sie mit unverhohlener Verachtung, als sei sie seiner nicht w�rdig, als sei er ein Erwachsener und sie nur ein kleines M�dchen. Sie konnte ihn nicht ausstehen.
Der Vierschr�tige wies zu den B�umen hin. �Lauf ein biss�chen herum. Vertritt dir die Beine. Frajera will nicht, dass du schlappmachst.�
Frajera - den Namen hatte sie schon geh�rt. Wenn die wory betrunken und in Feierlaune gewesen waren, hatte sie ein paar Gespr�chsfetzen aufgeschnappt. Frajera war die Anf�hrerin. Soja war ihr nur einmal begegnet. Da war die Frau in ihre Zelle gerauscht. Sie hatte sich nicht vorgestellt, aber das war auch nicht n�tig gewesen. Die Macht umgab sie wie ein Umhang. Die Schl�gertypen, die ihre Kraft nur am Umfang ihres Bizeps ma�en, hatten Soja keine Angst eingefl��t, diese Frau aber wohl. Frajera hatte sie mit unterk�hlter Pr�zision gemustert wie ein Handwerksmeister das Innenleben einer zweitklassigen Uhr. Ei�gentlich w�re das eine gute Gelegenheit f�r eine Frage gewesen: Was haben Sie mit mir vor? Aber Soja ?hatte keinen Ton heraus�gebracht und wie bet�ubt geschwiegen. Frajera war nur eine Minute in ihrer Zelle geblieben, dann war sie wieder gegangen, ohne ein Wort zu sagen.
Jetzt, wo sie gehen durfte, verlie� Soja den Feldweg und be�trat die Lichtung. Ihre F��e sanken in der feuchten Wiesenerde ein. Vielleicht w�rden sie sie umbringen, w�hrend sie unterwegs zum Wald war. Vielleicht zielten sie schon auf sie. Soja warf ei�nen verstohlenen Blick zur�ck. Der Mann rauchte. Der Junge behielt sie genau im Auge. Er missdeutete ihren Seitenblick und rief: �Wenn du wegrennst, kriege ich dich.�
Seine �berheblichkeit gefiel ihr �berhaupt nicht. Was machte den eigentlich so selbstsicher? Wenn es eines gab, was sie konn�te, dann war es rennen.
Nachdem sie zwanzig Schritte in den Wald hineingemacht hatte, legte sie eine Hand auf einen Baumstamm, um endlich wieder etwas anderes zu f�hlen als die immer gleichen kalten und feuchten Backsteine. Obwohl sie beobachtet wurde, legte sie schnell ihre Scheu ab, hockte sich hin und griff eine Handvoll Erde. Tr�pfchen schmutzigen Wassers rannen �ber ihre Hand. Als Kind aus einer Kolchose hatte sie fr�her ihren Eltern beim Arbeiten geholfen. Manchmal auf den Feldern hatte ihr Vater sich geb�ckt, eine Handvoll Erde genommen und sie zwischen seinen Fingern zerrieben, die Klumpen zerbrochen und die Erde so zusammengepresst, wie sie es jetzt machte. Sie hatte ihn nie gefragt, warum. Was fand er damit heraus? Oder war es nur eine Angewohnheit? Sie bedauerte, dass sie es nie erfahren hatte. So vieles bedauerte sie, jede vergeudete Sekunde, in der sie nur geschmollt oder herumgealbert hatte, wenn er mit ihr reden wollte, oder wenn sie sich schlecht benommen und ihre Eltern w�tend gemacht hatte. Jetzt waren sie weg und w�rden nie mehr mit ihr sprechen.
Soja machte die Faust auf und klopfte hastig die Erde ab. Sie wollte nicht mehr daran erinnert werden. Wenn sie schon keinen Sinn im Leben sah, im Tod erkannte sie durchaus einen Sinn. Der Tod w�rde das Ende all ihrer traurigen Erinnerungen sein, das Ende allen Bedauerns. Der Tod w�rde sich weniger leer anf�hlen als das Leben, da war sie sicher. Sie stand auf. Dieser Wald �hnelte dem in Kimow bei ihrer Kolchose zu sehr. Dann noch lieber die Eint�nigkeit der kalten, feuchten Backsteine - die erinnerten sie wenigstens an gar nichts. Sie wollte hier weg.
Soja wandte sich wieder dem Lastwagen zu. Im n�chsten Moment schrak sie hoch. Der untersetzte Muskelprotz stand direkt hinter ihr. Sie hatte ihn gar nicht n�her kommen h�ren. Er sah grinsend auf sie herab und entbl��te dabei seinen zahnlosen Gaumen. Er warf die Zigarette beiseite, und Soja merkte sich, wo sie hinfiel und weiterglomm. Der Mann hatte schon seine Jacke ausgezogen, jetzt rollte er sich die Hemds�rmel hoch.
�Frajera hat befohlen, dass wir dir ein bisschen Bewegung verschaffen. Und du hattest ja noch keine.�
Er streckte den Arm aus und legte ihr die Hand auf die Schul�ter, dann fuhren seine Finger �ber ihr Gesicht, so als wollten sie eine Tr�ne wegwischen. Seine Fingern�gel waren abgekaut und rissig. Er senkte die Stimme. �Wir sind nicht so zahm wie du, nicht so h�flich. Wenn wir etwas wollen, dann nehmen wir es uns.�
Soja bem�hte sich verzweifelt, keine Angst zu zeigen. Mit jedem Schritt, den er auf sie zumachte, machte sie einen zur�ck.
�Uns etwas zu nehmen ist das, was wir am besten k�nnen. Was M�dchen am besten k�nnen, ist Unterwerfung. Du nennst es vielleicht Vergewaltigung. Ich nenne es ... Bewegung.�
Angst - darauf war der Mann aus. Auf Angst und Unterdr��ckung. Aber nichts davon w�rde sie ihm geben: �Wenn du mich anr�hrst, trete ich dich. Wenn du mich auf den Boden dr�ckst, kratze ich dir die Augen aus. Und wenn du mir die Finger brichst, bei�e ich dich ins Gesicht.�
Der Mann lachte laut auf. �Und wie willst du das anstellen, wenn ich dich zuerst bewusstlos schlage, Kleine?�
Jeden Schritt, den Soja machte, folgte er ihr, sein massiger K�rper dr�ngte sie immer mehr zur�ck, bis sie schlie�lich an einen Baum gedr�ckt wurde und nicht mehr weiterkonnte. Heimlich tastete sie den Baumstamm ab auf der Suche nach irgendetwas, womit sie sich verteidigen konnte. Sie brach einen kleinen Ast ab und bef�hlte mit der Fingerkuppe die Spitze. Das musste reichen. Sie warf einen fl�chtigen Blick auf den Jungen, der in der N�he des Lastwagens faulenzte. Der Mann folgte ih�rem Blick und drehte sich zu dem Jungen um. �Sie glaubt, du rettest sie.�
Mit aller Kraft schwang Soja den Ast und hieb das schartige Ende in das Gesicht des Mannes. Sie erwartete Blut zu sehen, aber der Ast brach lediglich entzwei und zerkr�melte in ihrer Hand. Der Mann zwinkerte �berrascht und starrte auf ihre Hand und die Reste des Astes darin. Als er kapierte, was passiert war, lachte er wieder.
Soja sprang vor. Der Mann st�rzte sich auf sie, aber sie duckte sich vor ihm weg. So schnell sie konnte, rannte sie in Richtung des Lasters. Sie sp�rte, dass der Mann dicht hinter ihr war. Und bestimmt w�rde der Junge ihr den Weg abschneiden, aber sie konnte ihn nicht sehen. Sie riss die Beifahrert�r des F�hrer�hauses auf und warf sich hinein. Ihr Verfolger war nur wenige Meter hinter ihr. Jetzt grinste er nicht mehr. Soja zog am Griff und schlug scheppernd die T�r zu, und im n�chsten Moment krachte er auch schon dagegen. Sie dr�ckte den Knopf herunter und hoffte, dass er die Schl�ssel nicht hatte. Er hatte sie nicht - sie steckten im Z�ndschloss. Soja krabbelte hin�ber zum Fah�rersitz und drehte den Z�ndschl�ssel. Stotternd erwachte der Motor zum Leben.
Ohne ganz genau zu wissen, was sie eigentlich machen musste, nahm sie den Schalthebel in die Hand und dr�ckte ihn knirschend nach vorn. Metallisches Schrammen - sonst schien nichts zu passieren. Der Mann hatte sich das Hemd ausgezogen und um seine Faust gewickelt. Er holte aus und schlug das Sei�tenfenster ein, Glasscherben regneten ins F�hrerhaus. Da Soja das Gaspedal nicht erreichen konnte, rutschte sie vom Sitz und dr�ckte den Fu� durch, bis der Motor aufheulte. Gerade begann der Laster loszurollen, als der Mann die T�r aufriss und sich �ber den Beifahrersitz lehnte. Soja machte sich so klein wie m�g�lich. Er packte sie bei den Haaren und zog sie hoch. Sie schrie auf und zerkratzte ihm die H�nde.
Aus irgendeinem unerkl�rlichen Grund lie� er los.
Soja plumpste zur�ck auf den Kabinenboden und duckte sich keuchend. Der Motor tuckerte. Der Laster fuhr nicht mehr, aber der Mann war weg. Die T�r stand offen. Vorsichtig richtete Soja sich auf und sp�hte �ber den Beifahrersitz hinweg. Sie konnte den Mann fluchen h�ren. Als sie noch ein St�ckchen weiterr�ck�te, sah sie ihn auf dem Boden liegen.
Verwirrt registrierte Soja, dass der Junge neben ihm stand. Er hatte ein Messer in der Hand. Die Klinge war blutverschmiert.
Der Mann hielt sich das Fu�gelenk, das heftig blutete. Seine Finger waren rot. Schweigend starrte der Junge sie an. Da der Mann nicht aufstehen konnte, grabschte er nach den Beinen des Jungen, aber der sprang zur Seite und aus der Gefahrenzone. Der Mann versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder hin und rollte sich auf den R�cken. Die Sehnen seines Kn�chels waren durchtrennt, und der linke Fu� hing nutzlos herab. Sein Gesicht war wutverzerrt, und er stie� w�ste Drohungen aus, die er jedoch allesamt nicht in die Tat umsetzen konnte, weil er bewegungsunf�hig am Boden lag. Ein seltsames Bild - ebenso gef�hrlich wie erb�rmlich.
Der Junge schenkte dem Mann nicht die geringste Beachtung, sondern wandte sich an Soja: �Komm aus dem Laster raus.�
Soja kletterte aus dem F�hrerhaus und hielt sich dabei in si�cherer Entfernung von dem Mann. Der verband sich gerade mit seinem Hemd den Kn�chel. Der Junge wischte seine Klinge ab, und im n�chsten Moment war das Messer in den Falten seiner Kleider verschwunden.
�Danke�, sagte Soja und behielt dabei den Mann im Auge.
�Wenn Frajera mir befohlen h�tte, dich umzubringen, h�tte ich es gemacht.�
Soja wartete einen Moment ab, dann fragte sie ihn: �Wie hei�t du?�
Der Junge z�gerte, offenbar unschl�ssig, ob er antworten sollte oder nicht. Schlie�lich murmelte er: �Malysch.�
�Malysch�, wiederholte sie.
Soja warf zuerst einen pr�fenden Blick auf den Verletzten und dann auf den Lastwagen. Sie hatte ihn festgefahren. Der Mann schlug mit den F�usten auf die Erde und schrie: �Warte nur, bis die anderen h�ren, was du gemacht hast. Die bringen dich um!�
Soja sah den Jungen besorgt an. �Stimmt das?�
Der Junge dachte nach. �Das muss dich nicht k�mmern. Wir gehen zu Fu� zur�ck. Wenn du versuchst wegzurennen, dann schneide ich dir die Kehle durch. Wenn du meine Hand auch nur losl�sst, um dir in der Nase zu bohren ...�
Soja, die froh war, dass sie wenigstens den Namen ihres heim�lichen Bewunderers kannte, beendete den Satz f�r ihn: �... dann schneidest du mir die Kehle durch?�
Malysch legte den Kopf schief und musterte sie misstrauisch. Bestimmt fragte er sich gerade, ob sie sich �ber ihn lustig machte. Um ihn zu beruhigen, streckte sie den Arm aus und nahm seine Hand.
Pazifikk�ste
Kolyma, Hafen von Magadan,
Gef�ngnisschiff Stary Bolschewik
Am selben Tag
Leitern und Treppen waren die einzigen Stellen, die noch �ber Wasser lagen, und dementsprechend �bers�t mit Gefangenen. Zusammengedr�ngt hockten sie wie die Kr�hen auf einer Hoch�spannungsleitung. Die weniger Gl�cklichen kauerten dicht an dicht auf den zusammengebrochenen Etagenbetten, sie hatten die zerborstenen Balken �bereinandergeschichtet und daraus eine Art h�lzerner Rettungsinsel gebaut, um die das eiskalte Wasser schwappte. Die Leichen der Get�teten hatten sie beisei�teger�umt, jetzt trieben sie auf der Oberfl�che. Leo geh�rte zu den wenigen Privilegierten hoch �ber dem Wasser, er hockte auf der Stahlleiter, die hinauf zu der von Kugeln durchsiebten und mit Stofffetzen gestopften Luke f�hrte.
Nachdem er die L�cher in der Luke verschlossen hatte, hatte Leo die Dampfmaschine am Laufen halten m�ssen. Seine Brust und sein Gesicht waren fast von der Glut ger�stet worden, w�h�rend gleichzeitig seine knietief im Wasser stehenden Beine immer gef�hlloser vor K�lte geworden waren. Sein K�rper war in zwei Gef�hlswelten geteilt. Mittlerweile zitterte er vor Ersch�pfung und konnte kaum mehr die Schaufel anheben. Keiner hatte ihm geholfen. Wie H�hlenkreaturen hatten die anderen Gefangenen in der feuchten Dunkelheit gehockt, dumpf und bewegungslos. Wenn einem lebenslange Zwangsarbeit bevorstand, warum dann noch einen zus�tzlichen Tag draufpacken? Und sp�testens, wenn die Maschine ausging, das Schiff nicht mehr man�vrier�f�hig war und aufs offene Meer hinaustrieb, w�rden die W�rter sich dem Problem schon widmen. Sollten die doch selbst ihre Kohle schippen. Die M�nner w�rden nicht auch noch dabei mit�helfen, dass man sie ins Gef�ngnis brachte. Leo brachte nicht die Kraft auf, sie von den Gefahren zu �berzeugen, wenn sie einfach tatenlos blieben. Ihm war klar, dass die W�rter nach der versuchten Revolte erst mal drauflosschie�en w�rden, wenn sie gezwungen waren, in den Frachtraum hinabzusteigen. Einfach nur, um sicherzugehen.
Leo hatte allein weitergemacht, solange er konnte. Erst als er eine ganze Ladung Kohle weggeschippt hatte und ihm die Schaufel aus den H�nden glitt, tauchte schlie�lich aus dem Halbdunkel ein anderer Mann auf und �bernahm seinen Pos�ten. Leo hatte einen unh�rbaren Dank gemurmelt und war auf die Leiter gestiegen, die Gefangenen machten ihm Platz. Auf der obersten Sprosse sackte er in sich zusammen. Wenn man es Schlaf nennen konnte, dann schlief er - zitternd und halb verr�ckt vor Durst und Hunger.
* * *
Leo machte die Augen auf. An Deck waren Leute, er konnte �ber sich Schritte h�ren. Das Schiff war stehen geblieben. Als er sich zu bewegen versuchte, merkte er, dass sein ganzer K�rper steif war, seine Gliedma�en waren in F�tushaltung erstarrt. Er bewegte die Finger, dann den Hals, alle Gelenke knackten. Die Luke wurde aufgeworfen. Leo sah nach oben und blinzelte ins helle Licht. Der Himmel war so glei�end hell wie geschmolzenes Metall. Als seine Augen sich langsam an das Licht gew�hnt hat�ten, erkannte er, dass es eigentlich ein mattes Grau war.
Um ihn herum tauchten W�rter auf und zielten mit Maschi�nengewehren hinunter. Ein Mann rief in den Lagerraum hinab: �Wenn ihr auch nur das Geringste versucht, versenken wir das Schiff, und ihr seid alle eingesperrt.�
Die Str�flinge konnten sich kaum noch r�hren, geschweige denn die Autorit�t der W�rter ernsthaft gef�hrden. Kein Wort des Dankes, dass sie die Maschine am Laufen gehalten hatten, keine Anerkennung, dass sie das Schiff gerettet hatten, nur die M�ndung eines Maschinengewehrs.
Eine zweiter Mann rief: �An Deck! Sofort!�
Leo erkannte ihn. Es war Timur. Die Stimme seines Freundes erweckte ihn wieder zum Leben. Ganz langsam setzte er sich auf. Wie eine knarrende Marionette, an deren F�den man zog, rappelte er sich hoch und kletterte von der Leiter an Deck.
Der zerbeulte Dampfer lag mit Schlagseite im Hafen. Die Maschinengewehrlafette war weg, von ihr waren nur ein paar vorstehende, verbogene Stahlteile �brig geblieben. Man konnte sich kaum vorstellen, dass die See, die jetzt ganz ruhig und glatt dalag, so wild gewesen sein sollte, wie sie es vor kaum zw�lf Stunden gewesen war. Nur einen winzigen Augenblick lang sah Leo zu Timur hin�ber und studierte das Gesicht seines Freundes, der dunkle R�nder unter den Augen hatte. Auch ihm hatte der Sturm zugesetzt. Ihre jeweiligen Erlebnisse w�rden sie sich sp�ter erz�hlen m�ssen.
Leo ging vorbei und weiter bis zum Rand des Decks. Er legte die H�nde auf die Reling und warf einen ersten Blick auf die Bucht von Magadan, das Tor zur entlegendsten Gegend seines Landes, einer Region, die Leo gleichzeitig sehr vertraut und vollkommen fremd war. Er war selbst noch nie hier gewesen, hatte aber Hunderte M�nner und Frauen hergeschickt. Er hatte sie keinem bestimmten Gulag zugewiesen, daf�r war er nicht verantwortlich gewesen. Aber mit Sicherheit hatten sich viele an Bord dieses oder eines �hnlichen Schiffes wiedergefunden und waren dann so wie er jetzt hintereinander hergeschlurft, der Vollstreckung ihres Urteils entgegen.
Wenn man bedachte, wie ber�chtigt dieser Landstrich war, h�tte Leo eigentlich schon von der Landschaft einen offensicht�lich bedrohlichen Anblick erwartet. Aber der Hafen, den man vor etwa zwanzig Jahren gebaut hatte, war klein und still und bestand vornehmlich aus Holzh�tten. Hier und da mischte sich ein schmuckloser st�dtischer Betonbau darunter, dessen Au�en�w�nde mit Parolen und Propaganda bepinselt waren - unpas�sende Farbkleckse in einer ansonsten grauen, schwarzen und wei�en Kulisse. Jenseits des Hafens lag in einiger Entfernung eine Ansammlung von Gulags, die sich zwischen die H�nge des schneebedeckten Gebirges schmiegten. Die Berge, die an der K�ste noch flach waren, erhoben sich weiter landeinw�rts im�mer h�her zum Gebirge, bis dessen riesige Gipfel in den Wolken verschwanden. Ebenso ruhig wie bedrohlich lag das Bergmassiv da - eine Landschaft, die keine Schw�che duldete und alles Ge�brechliche von ihren von arktischen Winden umtosten H�ngen fegte.
Leo stieg hinunter aufs Dock, wo einige kleine Fischerboote vert�ut waren, Zeugnisse eines Lebens au�erhalb der Gef�ng�nisse. Die Einheimischen, die sich Tschuktschen nannten und sich schon lange von dieser Scholle ern�hrt hatten, bevor das Land durch die Gulags kolonialisiert worden war, trugen K�rbe mit Walrossz�hnen und den ersten Kabeljauf�ngen des Jahres. F�r Leo hatten sie nur einen fl�chtigen, unfreundlichen Seiten�blick �brig, so als seien die Str�flinge daf�r verantwortlich, dass man ihr Land in ein Internierungsreich verwandelt hatte. An Deck standen Wachposten und trieben die Neuank�mmlinge voran. �ber ihren Uniformen trugen sie in mehreren Schichten Filz und dicke Pelze, eine Mischung aus handgefertigter Tschuktschen-Kleidung und der einheitlich geschnittenen, massenange�fertigten Standardkluft des Staates.
Hinter den Wachpolizisten hatten sich Gefangene versam�melt, die freigelassen werden sollten und auf ihre lange Heim�fahrt warteten. Entweder hatten sie ihre Strafe verb��t, oder sie waren begnadigt worden. Nun waren sie frei, aber nach dem Ausdruck auf ihren Gesichtern zu urteilen hatten sie das noch gar nicht richtig begriffen. Ihre Schultern hingen herab, und die Augen lagen tief in den H�hlen. Leo suchte nach einem Zeichen des Triumphes, einem gemeinen, wenn auch verst�ndlichen Ver�gn�gen daran, dass sie andere in die Lager ziehen sahen, die sie selbst gerade verlie�en. Stattdessen sah er fehlende Finger, aufgerissene Haut, Geschw�re und kaputte Muskeln. Vielleicht w�rden sich einige von ihnen in der Freiheit wieder erholen, aber alle w�rden nicht �berleben. Das also war aus den M�n�nern und Frauen geworden, die er hierherverfrachtet hatte.
* * *
An Deck sah Timur zu, wie die Gefangenen zu einer Lagerhal�le gef�hrt wurden. Leo war von den anderen nicht zu unter�scheiden. Ihre Maskierung war also nicht aufgeflogen. Trotz des Sturms waren sie beide unverletzt angekommen. Die Fahrt mit dem Schiff war ein notwendiger Teil ihrer Tarnung gewesen. Es gab zwar Fl�ge nach Magadan, aber dann h�tten sie das Straf�system nicht so unbemerkt infiltrieren k�nnen. Str�flinge kamen nicht mit dem Flugzeug. Zum Gl�ck w�rden bei ihrer R�ck�kehr solche Schleichman�ver unn�tig sein. Auf dem Rollfeld von Magadan wartete eine Frachtmaschine. Wenn alles lief wie geplant, w�rden er, Leo und Lasar in zwei Tagen nach Moskau zur�ckkehren. Timur wurde klar, dass das, was er gerade auf dem Schiff erlebt hatte, noch der leichteste Teil ihrer Mission gewesen war.
Er sp�rte eine Hand auf seiner Schulter. Hinter ihm standen der Kapit�n der Stary Bolschewik und ein Mann, den Timur noch nie gesehen hatte. Nach der Qualit�t seiner Uniform zu ur�teilen, war er ein hochrangiger Beamter. �berraschend f�r einen Mann in einer solchen Machtposition war er au�ergew�hnlich d�nn, beinahe str�flingsd�rr, eine merkw�rdige Solidarit�t mit den M�nnern, die er beaufsichtigte. Timurs erster Gedanke war, dass der Mann krank sein musste. Als der Beamte zu sprechen begann, nickte der Kapit�n bereits unterw�rfig, ehe der andere seinen Satz beendet hatte.
�Ich hei�e Abel Present und bin hier der Regionaldirektor. Der Beamte Genrich ...�
Er wandte sich an den Kapit�n. �Wie war noch mal sein vol�ler Name?�
�Genrich Duwakin.�
�Ich h�re, er ist tot.�
Als der Name des Mannes fiel, den er an Deck dem Tod �ber�lassen hatte, sp�rte Timur einen Klo� im Hals.�
�Ja. Er ist auf See verschollen.�
�Genrich geh�rte zur Stammbesatzung des Schiffes. Jetzt ben�tigt der Kapit�n W�rter f�r die R�ckfahrt. Es herrscht ein chronischer Mangel. Der Kapit�n hat erw�hnt, dass Sie sich an Bord w�hrend der Meuterei pr�chtig geschlagen haben. Er hat pers�nlich darum gebeten, dass Sie Genrichs Posten �berneh�men.�
Der Kapit�n l�chelte, er erwartete, dass Timur dies als Kom�pliment auffassen w�rde.
Timur dagegen stieg vor Schreck die R�te ins Gesicht. �Ich verstehe nicht.�
�Sie sollen f�r die R�ckfahrt an Bord der Stary Bolschewik bleiben.�
�Aber ich bin doch dem Gulag 57 zugeteilt. Ich soll Stellver�tretender Lagerkommandeur werden. Moskau hat mir wichtige Instruktionen erteilt, die ich umsetzen soll.�
�Das verstehe ich voll und ganz. Und Sie werden auch wie geplant im Gulag 57 stationiert werden. Wenn das Wetter mit�spielt, dauert es bis Buchta Nachodka sieben Tage und noch ein�mal sieben Tage zur�ck. In zwei, sp�testens drei Wochen treten Sie Ihren neuen Posten an.
�Genosse, ich muss darauf bestehen, dass ich meine Befehle ausf�hre und Sie sich jemand anderen suchen.�
Present wurde ungehalten, wie ein Warnsignal traten seine Adern hervor. �Genrich ist tot. Der Kapit�n hat darum gebeten, dass Sie ihn ersetzen. Ich werde meine Entscheidung Ihren Vor�gesetzten erl�utern. Die Angelegenheit ist damit erledigt. Sie bleiben auf dem Schiff.�
Moskau
Am selben Tag
Malysch stand neben seinem Ankl�ger Lichoi, dem Kerl, dem er die Sehne durchtrennt hatte. Das Fu�gelenk des Mannes war dick verbunden, und wegen des starken Blutverlusts war er blass und hatte Fieber. Doch er hatte darauf bestanden, dass die schodka, ein Schiedsgericht zwischen streitenden Banden�mitgliedern, stattfand.
�Frajera, was ist mit unserem Gesetz, dass keiner von uns wory einem anderen etwas zuf�gen darf? Indem er mich verletzt hat, hat er dich besch�mt. Er hat uns alle besch�mt.�
Lichoi st�tzte sich auf eine Kr�cke. Er hatte sich nicht hinset�zen wollen, weil das ein Zeichen der Schw�che gewesen w�re. Schaum stand ihm in den Mundwinkeln, kleine Speicheltropfen. Zeichen seiner Emp�rung, die er nicht weggewischt hatte. �Ich wollte Sex. Ist das etwa ein Verbrechen? Nicht f�r einen Ver�brecher.�
Die anderen wory grinsten. Lichoi, der sich ihrer Unterst�t�zung gewiss war, wandte sich wieder Frajera zu. Er senkte re�spektvoll seinen Kopf und sprach leiser weiter.
�Ich verlange den Tod von Malysch.�
Frajera wandte sich Malysch zu. �Deine Antwort?�
Der Junge warf einen verstohlenen Blick auf die ihn umringen�den Gesichter, dann zuckte er die Achseln. �Mir wurde gesagt, ich soll aufpassen, dass ihr nichts passiert. So lautete dein Befehl. Ich habe getan, was mir befohlen wurde.�
Noch nicht einmal die Aussicht seines m�glichen Todes machte ihn gespr�chiger. Obwohl Malysch �berzeugt war, dass Frajera seinen Tod eigentlich nicht anordnen wollte, blieb ihr nur wenig Spielraum. Er hatte das Gesetz gebrochen, daran gab es nichts zu deuteln. Es war jedem Bandenmitglied verboten, einem anderen ohne Frajeras Erlaubnis etwas anzutun. Sie soll�ten einander besch�tzen, so als sei das Leben des einen mit dem des anderen verwoben. In eindeutiger Missachtung dieser Regel hatte er impulsiv gehandelt und mit der Tochter ihres Feindes gemeinsame Sache gemacht.
Malysch sah zu, wie Frajera im Kreis ihrer Anh�nger auf und ab ging und offenbar die Stimmungslage innerhalb der Bande absch�tzte. Die meisten waren gegen ihn. In Augenblicken wie diesen konnte man sich auf ihre Macht nicht mehr verlassen. Besa� Frajera die Autorit�t, die Mehrheit zu ignorieren? Oder w�rde sie sich auf die Seite dieser Mehrheit schlagen m�ssen, um ihre Autorit�t zu wahren? Es machte Malyschs Situation nicht besser, dass sein Ankl�ger innerhalb der Bande angesehen war. Seinen klikucha �Lichoi� trug er wegen seiner ber�hmten Manneskraft. Das banale �Malysch� dagegen bedeutete einfach B�rschchen und bezog sich auf seine geringe kriminelle ebenso wie auf seine mangelnde sexuelle Erfahrung. Er war erst vor Kurzem zur Bande gesto�en. W�hrend die anderen wory sich alle aus dem Arbeitslager kannten, war Malysch eher zuf�llig bei ihnen gelandet. Seit er f�nf war, hatte er auf dem Leningrader Baltiysky-Bahnhof als Taschendieb gearbeitet. Schon bald hatte das Stra�enkind sich den Ruf des geschicktesten aller Diebe erworben. Eine derjenigen, die er bestohlen hatte, war Frajera gewesen. Anders als die meisten anderen hatte sie den Verlust sofort bemerkt und war ihm nachgesetzt. Ihre Schnelligkeit und Entschlossenheit hatte den Jungen �berrascht, er hatte all seine Fertigkeiten und Ortskenntnisse des Bahnhofsgeb�udes aufbieten m�ssen, um ihr zu entkommen. Am Ende war er aus einem Fenster geklettert, das kaum gro� genug f�r eine Katze war. Trotzdem hatte es Frajera noch geschafft, ihm einen seiner Schuhe vom Fu� zu rei�en. Malysch hatte die Sache damit als erledigt betrachtet und wollte am n�chsten Tag wieder seiner T�tigkeit nachgehen, allerdings an einem anderen Bahnhof. Doch Frajera hatte dort schon auf ihn gewartet, mit seinem Schuh in der Hand. Anstatt ihn zur Rede zu stellen, hatte sie ihm angeboten, seine Schar von Taschendieben zu verlassen und bei ihr anzufangen. Er war der einzige Taschendieb gewesen, der ihr je entwischt war.
Trotz seiner Fertigkeiten als Dieb war seine Ernennung zum echten Mitglied der wory nicht auf ungeteilten Zuspruch gesto�en. Die anderen hielten ihn f�r einen l�ppischen Klein�kriminellen, der es nicht wert war, einer von ihnen zu sein. Er hatte noch nie jemanden umgebracht und war nicht im Gulag gewesen. Frajera aber hatte diese Bedenken beiseitegeschoben. Sie fand Gefallen an ihm, obwohl er ernst und in sich gekehrt war und kaum ein Wort �ber die Lippen brachte. Z�gernd fan�den sich die anderen damit ab, dass er jetzt einer von ihnen war. Und auch er fand sich z�gernd damit ab, dass er jetzt einer von ihnen war. In Wahrheit aber war er Frajeras Ziehkind, und jeder wusste das. Als Gegenleistung f�r ihren Schutz liebte er Frajera wie ein w�tender Kampfhund sein Herrchen. Er strich um ihre Beine und schnappte nach jedem, der ihr zu nahe kam. Trotzdem machte er sich nichts vor. Wenn Frajeras Autorit�t auf dem Spiel stand, dann z�hlte das, was sie verband, nicht mehr viel. Frajera neigte �berhaupt nicht zu Sentimentalit�ten. Und Malysch hatte nicht nur einen Kameraden verwundet, er hatte auch noch ihre Pl�ne in Gefahr gebracht. Anstatt unauff�llig mit dem Laster fahren zu k�nnen, hatten sie beinahe acht Stunden lang zu Fu� in die Stadt zur�cklaufen m�ssen. Man h�tte sie anhalten und verhaften k�nnen. Dem M�dchen hatte er gedroht, ihr die Kehle durchzuschneiden, wenn sie um Hilfe schrie oder seine Hand loslie�. Sie hatte gehorcht und auch nicht �ber Ersch�pfung geklagt, sondern war die ganze Strecke mit ihm gelaufen, ohne auch nur einmal um eine Rast zu bitten. Selbst auf belebten Stra��en, wo sie ihm h�tte Schwierigkeiten machen k�nnen, hatte sie seine Hand nicht losgelassen.
Frajera sprach. �Die Tatsachen sind unbestritten. Nach unse�ren Gesetzen wird jeder, der einen anderen Kameraden verletzt, mit dem Tod bestraft.�
Das Wort Tod war hier nicht in seinem normalen Wortsinn gemeint. Man w�rde ihn nicht etwa erschie�en oder h�ngen. Tod hie� Ausschluss aus der Bande. Man w�rde ihn gut sichtbar t�towieren - auf der Stirn oder auf dem Handr�cken. Es w�rde die Darstellung einer offenen Vagina oder eines offenen Anus sein - das Zeichen f�r jeden wory-Bruder, gleich welcher Bande, dass der Tr�ger der T�towierung jede nur erdenkliche k�rperli�che und sexuelle Marter verdiente und man dabei keine Furcht vor der Rache einer anderen Bande haben musste. Malysch verehrte Frajera. Diese Strafe aber w�rde er nicht hinnehmen. Er stellte ein Bein aus und lie� seine Hand hinabgleiten. In einer verborgenen Tasche hatte er ein Messer, das die anderen beim Durchsuchen nicht gefunden hatten. Er befreite es aus dem Stoff, seine Finger lagen schon auf dem Springmechanismus, w�hrend er seine Flucht berechnete.
Frajera trat vor. Sie hatte eine Entscheidung gef�llt.
* * *
Frajera musterte die Gesichter der M�nner. Mit gespannter Konzentration fixierten sie sie, so als ob dies allein das ge�w�nschte Urteil hervorbringen w�rde. Jahre hatte sie daf�r gebraucht, sich ihre Loyalit�t zu verdienen, hatte Gehorsam belohnt und jeden Abweichler bestraft. Und trotzdem hing jetzt so viel von einem so kleinen Vorfall ab. Jede Meuterei brauchte einen Grund, hinter den sich die Leute scharen konnten. Der be�liebte, beschr�nkte Lichoi hatte ihre Leute hinter sich gebracht.
Sie sahen in ihm das Musterbeispiel eine Bandenmitglieds. In seinen Trieben erkannten sie ihre eigenen wieder. Wenn er hier vor Gericht stand, dann standen sie alle vor Gericht. Der Streit, um den es hier ging, war vielleicht banal, aber die Probleme, wegen der sie die schodka einberufen hatten, waren alles andere als banal. Ihrer Ansicht nach gab es hier nur ein annehmbares Urteil: Frajera musste Malyschs Tod anordnen.
Frajera h�rte zu, wie sie die wory-Gesetze zitierten, als seien sie heilig, und staunte �ber die fehlende Selbsterkenntnis der M�nner. Dabei basierte das Gesetz dieser Bande doch gerade nicht nur auf der Einhaltung traditioneller wory-Gepflogenheiten, sondern ebenso auf ihrer �bertretung. Schlie�lich waren sie doch alle M�nner und lie�en sich trotzdem von einer Frau anf�hren, was es in der Geschichte der wory noch nie gegeben hatte. Im Gegensatz zu jedem anderen derschat mast oder An�f�hrer einer Diebesbande war Frajera nicht nur daran interes�siert, au�erhalb des Staates zu operieren. Sie wollte Rache am Staat und an den Leuten, die ihm dienten. Diese Rache hatte sie ihnen in den Worten erkl�rt, die sie verstehen konnten, n�mlich dass der Staat nichts anderes war als eine gr��ere, rivalisierende Bande, mit der sie in einer erbitterten Blutfehde lagen. Trotzdem wusste sie, dass die wory letztendlich konservativ waren. Lieber h�tten sie einen m�nnlichen Anf�hrer gehabt, einen, dem es nur um Geld und Sex und ums Saufen ging. Sie tolerierten ihren Racheplan ebenso wie ihr Geschlecht, aber beides tolerierten sie nur, weil Frajera brillant war und sie selbst nicht. Frajera finan�zierte sie und besch�tzte sie, sie waren von ihr abh�ngig. Ohne Frajera w�rde die Mitte fehlen und die Bande in zerstrittene und bedeutungslose Gr�ppchen zerfallen.
Zu dieser merkw�rdigen Allianz war es im Gulag Minlag gekommen, einem im Norden, s�d�stlich von Archangelsk ge�legenen Lager. Urspr�nglich hatte die nach Artikel 58 verurteilte politische Gefangene, die damals noch Anisja gehei�en hatte, kein Interesse an den wory gehabt. Sie bewegten sich in ver�schiedenen Kreisen, die sich ebenso wenig mischten wie Wasser und �l. Im Mittelpunkt von Anisjas Leben hatte einzig und allein ihr neugeborener Sohn Alexej gestanden. F�r ihn hatte es sich gelohnt zu leben, ein Kind, das man lieben und besch�tzen musste. Nachdem sie den Jungen drei Monate lang gestillt und mehr geliebt hatte, als sie je geglaubt hatte, jemanden lieben zu k�nnen, hatten sie ihn ihr weggenommen. Eines Nachts war sie aufgewacht und hatte festgestellt, dass er weg war. Zun�chst hatte die Schwester behauptet, Alexej sei im Schlaf gestorben. Anisja hatte die Schwester gepackt und durchgesch�ttelt und ihr Kind zur�ckverlangt, bis ein W�rter sie zur�ckgepr�gelt hatte. Die Schwester hatte sie angezischt, dass keine Frau, die nach Artikel 58 verurteilt war, es verdiente, ein Kind aufzuziehen.
Du wirst nie eine Mutter sein!
Von nun an w�rde der Staat die Elternschaft f�r Alexej �ber�nehmen.
Anisja war krank geworden, krank vor Kummer. Sie hatte im Bett gelegen, jede Nahrung verweigert und im Schlaf fantasiert, dass sie immer noch schwanger war. Sie hatte gesp�rt, wie das Kind trat und um Hilfe schrie. Die Schwestern und feldschery hatten es kaum erwarten k�nnen, dass sie starb. Die Welt um sie herum hatte ihr jeden Grund gegeben zu sterben und auch jede Gelegenheit. Doch etwas in ihr hatte sich gewehrt. Anisja hatte ihre eigene Weigerung zu sterben genau untersucht, wie ein Arch�ologe, der eine d�nne Schicht W�stensand wegwischt, weil er wissen will, was sich darunter verbirgt. Was sie freigelegt hatte, war nicht das Gesicht ihres Sohnes oder das von Lasar gewesen. Sie hatte Leo gesehen, den Klang seiner Stimme geh�rt, seine Hand auf ihrer gesp�rt und mit ihr den ganzen Betrug und Verrat. Wie einen Zaubertrank hatte sie diese Erinnerungen in einem Zug genossen. Der Hass hatte sie von der Schwelle des Todes zur�ckgeholt. Am Hass war sie genesen.
H�tte sie den Gedanken, Rache an einem MGB-Offizier zu nehmen, der sich viele Hundert Kilometer weit weg befand, je�mandem erz�hlt, h�tte man sie ausgelacht. Aber ihre Ohnmacht zerm�rbte sie nicht etwa, sondern wurde f�r Anisja zu einer regelrechten Inspirationsquelle. Dann w�rde sie eben bei null anfangen und von dort ihre Rache aufbauen. W�hrend die an�deren Patientinnen schliefen, bet�ubt mit Kodein, spuckte sie die Tabletten wieder aus und sammelte sie. Sie stellte sich weiter krank und blieb in der Krankenstation, w�hrend sie unbemerkt ihre Kraft zur�ckgewann und eine Dosis Medizin nach der an�deren sammelte. Die Tabletten verbarg sie im Saum ihrer Hose. Als sie eine gen�gende Menge beisammenhatte, verlie� sie zur gro�en �berraschung der Schwestern die Krankenstation und kehrte ins Lager zur�ck, ausger�stet nur mit ihrem Verstand und einer Hose voller Tabletten.
Bis zu ihrer Verhaftung hatte man Anisja immer nur als ein Anh�ngsel von anderen betrachtet. Erst war sie die Tochter eines Mannes gewesen, dann die Frau eines Mannes. Jetzt, wo sie auf sich allein gestellt war, begann sie sich ein neues Ich zu erschaf�fen. All ihre Schw�chen schob sie dem Charakter von Anisja zu. All ihre St�rken b�ndelte und verwob sie zu einer neuen Identit�t - zu der Frau, die sie werden wollte. Sie belauschte die wory, machte sich mit ihrem Jargon vertraut und w�hlte sich einen neuen Namen. Ab jetzt w�rde sie Frajera hei�en, die Au��enseiterin. Die wory gebrauchten das Wort nur ver�chtlich, als Beleidigung, aber sie w�rde es zum Namen ihrer St�rke machen.
Einem der Anf�hrer hatte sie ihr Kodein im Tausch f�r seine Gunst angeboten und ihn gebeten, seiner Bande beitreten zu d�rfen. Der Hauptmann hatte sie verlacht und die Be�dingung gestellt, dass sie einen allseits bekannten Informanten umbrachte. Ihr gesamtes Kodein hatte er als Garantiezahlung ohne R�ckerstattung eingestrichen, denn die Aufgabe, die er ihr gestellt hatte, lag seiner Ansicht nach weit �ber ihren F�higkeiten. Schlie�lich hatte sie noch vor drei Monaten ihren S�ugling gestillt. Und selbst wenn sie sich traute und tats�chlich versuchte, den Informanten umzubringen, w�rde sie bestimmt erwischt und in Isolationshaft gesteckt oder gleich exekutiert werden. Keine Sekunde hatte der derschat mast geglaubt, sein Versprechen halten zu m�ssen. Doch drei Tage sp�ter hatte der Informant w�hrend des Abendessens angefangen zu husten und war auf den Boden gesackt, den Mund voller Blut. Jemand hat�te zerkleinerte Rasierklingen unter seinen Kohl gemischt. Sein Versprechen zur�ckzunehmen war dem Bandenchef unm�glich gewesen, das verbot das Gesetz der wory. So war Frajera die erste Frau in seiner Bande geworden.
Frajera hatte allerdings nicht die Absicht, nur einfaches Mit�glied zu bleiben. Um ihre Pl�ne verwirklichen zu k�nnen, musste sie das Sagen haben. So benutzte sie das, was sie von den wory lernte, um ihre Unabh�ngigkeit zu erlangen. Unter anderem hatte sie von ihnen gelernt, dass sie ihren K�rper als eine Ware wie jede andere einsetzen konnte, ohne sich in irgendeiner Weise daf�r sch�men zu m�ssen. Also hatte sie sich darangemacht, den Kommandanten des Gulags zu verf�hren. Da der sich jedoch f�r seine sexuelle Befriedigung sowieso jede Frau in sein B�ro bringen lassen konnte, hatte Frajera daf�r sorgen m�ssen, dass er sich in sie verliebte. Ihren Abscheu hatte sie lediglich als wei�teres Hindernis betrachtet, das es zu �berwinden galt. Innerhalb von f�nf Monaten hatte er auf ihre Bitte hin die gesamte Bande in ein anderes Lager verlegen lassen. Jetzt konnte Frajera ihre eigene Bruderschaft aufmachen.
Da kein Verbrecher, der etwas auf sich hielt, je eine Frau als Anf�hrerin akzeptiert h�tte, hielt sie sich an die Au�enseiter, die Ausgesto�enen - jene wory also, die die Abfallhaufen durch�w�hlten, Fischgr�ten ablutschten und an verfaultem Gem�se herumkauten. Versto�en hatte man sie entweder wegen irgend�eines Streits oder Verrats oder weil sie irgendwann versagt hat�ten. Manche waren sogar bis zum tchuschka abgesunken, derart in Ungnade gefallen, dass es den anderen wory nicht einmal er�laubt war, sie zu ber�hren. Nach dem Gesetz der Verbrecherban�den war eine solche Schande unumkehrbar. Doch w�hrend sich sonst niemand dazu herabgelassen h�tte, auch nur den Namen dieser Verachteten in den Mund zu nehmen, hatte Frajera ihnen eine zweite Chance gegeben. Einige waren schon an Leib oder Seele zerbrochen, andere hatten ihr damit gedankt, dass sie sie zu st�rzen versuchten, sobald sie wieder bei Kr�ften waren. Die meisten aber hatten sie als Anf�hrerin anerkannt.
Nach Stalins Tod hatte die Freiheit nicht mehr lange auf sich warten lassen. Frauen und Kinder waren amnestiert worden. Die Mitglieder ihrer Bande hatten ohnehin k�rzere Strafzeiten, da sie keine politischen Gefangenen waren. Frajera hatte nicht etwa vor, Leo einfach zu stellen und ihm ein Messer in den R�cken oder eine Kugel in den Kopf zu jagen. Sie wollte, dass er so litt, wie sie gelitten hatte. Daf�r brauchte sie Zeit und die n�tigen Mittel. Viele Banden betrieben Handel auf dem Schwarzmarkt, doch hier waren die M�glichkeiten begrenzt, weil der Kuchen bereits verteilt war. Und Frajera hatte nicht etwa die Absicht, sich als kleines R�dchen mit bescheidenen Gewinnmargen aus importierten Lebensmitteln abspeisen zu lassen. Nicht, wenn sie sich Zugang zu erheblich wertvolleren G�tern verschaffen konnte.
Als man auf dem H�hepunkt der antireligi�sen Bewegung die Kirche verfolgt hatte, waren viele ihrer Kunstgegenst�nde - Ikonen, B�cher und Silber - versteckt worden, da man sie sonst verbrannt oder eingeschmolzen h�tte. Die meisten Priester hat�ten Widerstand geleistet und alles unternommen, um das Erbe der Kirche zu retten. Sie hatten Kultgegenst�nde in Feldern vergraben, Silber in Kaminsch�chten gebunkert und sogar Gem�lde in wasserdichtes Leder gewickelt und beispielsweise im Motor eines ausrangierten, vor sich hin rostenden Traktors versteckt. Karten wurden keine angelegt. Nur einige wenige kannten die Verstecke, die nur im Fl�sterton weitergegeben wurden, immer mit den Worten:
Falls ich sterben sollte ...
Die meisten H�ter dieser Geheimnisse waren verhaftet und er�schossen worden, waren in den Gulags verhungert oder hatten sich totgearbeitet. Von denen, die Bescheid wussten, war Frajera eine der Ersten gewesen, die man freigelassen hatte. Einen nach dem anderen hatte sie die Sch�tze ans Tageslicht geholt. Durch die wory kannte sie die Infrastruktur des schwarzen Marktes und die Leute, die man bestechen musste. So verschacherte sie die Kunstgegenst�nde an westliche Religionsgemeinschaften oder Privatk�ufer und Museen. Manche ihrer Gesch�ftspartner schraken vor der Vorstellung zur�ck, die Sch�tze einer anderen Kirche aufzukaufen, aber schlie�lich erwies sich Frajeras knall�harte Verkaufstechnik immer als erfolgreich: Wenn ihre Preis�vorstellungen auf Widerstand stie�en, dann konnte man eben f�r die Unversehrtheit der Gegenst�nde nicht mehr garantieren. So hatte sie einmal ihren K�ufern eine Ikone des Heiligen Niko�laus von Moschaisk geschickt. Einst war sie in kr�ftigen Farben gemalt worden, doch die Temperafarbe war mit der Zeit verblasst, und um den Glanz wiederherzustellen, hatte man sie mit Blattgold und Silber belegt. Frajera hatte sich vorgestellt, wie die Priester geweint hatten, als sie das Paket ge�ffnet und nur noch Bruchst�cke der Ikone vorgefunden hatten, das Gesicht des Heiligen bis auf die Augen heruntergekratzt. Etwas damit zu tun zu haben hatte sie allerdings bestritten, sondern im Interesse funktionierender Gesch�ftsbeziehungen diesen Akt des Vandalismus stattdessen fanatischen Parteimitgliedern in die Schuhe geschoben. Danach hatte sie einfach nur noch den Preis nennen m�ssen und sich �berdies nicht etwa als Profiteurin, sondern als Retterin dargestellt.
Bezahlt wurde in Gold. So lieferte Frajera ihren wory die Reicht�mer, die sie ihnen immer versprochen hatte. Die Kunst�sch�tze barg sie einen nach dem anderen - f�r den Fall, dass jemand sie f�r �berfl�ssig halten sollte. Weil sie vorsichtig war und niemandem traute, war das Erste, wof�r sie Geld ausgab, ein mit Zyanid gef�llter Zahn, den sie ihren M�nnern stolz vorf�hrte. Wenn einer glaubte, dass man die Verstecke der �b�rigen Kunstsch�tze durch Folter aus ihr herauspressen konnte, dann hatte er sich geschnitten. Noch im Tod w�rde sie ihre Pl�ne durchkreuzen. Nach der Reaktion ihrer Bande zu urteilen, hatten zwei der M�nner offenbar tats�chlich etwas �hnliches im Sinn gehabt. Noch vor Ablauf der Woche hatte Frajera sie umgebracht.
Danach war nur noch eine Sache zu kl�ren gewesen. Der La�gerkommandant von Minlag war aufgetaucht, um sein Leben mit ihr zu verbringen, wie sie beide es sich doch ertr�umt hatten, und um seinen Anteil an der Beute zu kassieren.
Hier ist dein Anteil.
Mit diesen Worten hatte sie ihm ein Messer in den Bauch ge�rammt. Nicht besonders nett, schlie�lich verdankte sie ihm ihr Leben. Zum Sterben hatte er nicht mal eine Stunde gebraucht, hatte sich auf dem Fu�boden gewunden und sich dabei gefragt, wie er sich nur so hatte irren k�nnen. Bis die Messerspitze in sei�nen Bauch drang, war er sich sicher gewesen, dass sie ihn liebte.
Im Raum herrschte gespannte Stille. Frajera hob die Hand. �Die normalen wory-Gesetze gelten f�r uns nicht. Fr�her hattet ihr gar nichts, nicht einmal etwas zu bei�en. Ich habe euch gerettet, obwohl ich euch nach den wory-Gesetzen h�tte sterben lassen sollen. Wenn ihr krank wart, habe ich euch Medizin besorgt. Wenn es euch gut ging, habe ich euch Opium und Alkohol ge�geben. Meine einzige Bedingung war Gehorsam. Das ist unser einziges Gesetz, und was das betrifft, hat Lichoi mich betrogen.�
Keiner r�hrte sich. Die Blicke der M�nner flackerten von links nach rechts, jeder versuchte zu erahnen, was der neben ihm dachte.
Lichoi hatte sich auf seine Kr�cke gest�tzt, sein Gesicht war wutentstellt. �Warum bringen wir die Schlampe nicht einfach um? Ein Mann soll uns befehligen und nicht irgendein Weib, die findet, v�geln w�re ein Verbrechen.�
Frajera trat n�her an Lichoi heran. �W�rdest du etwa diese neue Bande anf�hren? Du, Lichoi? Fr�her hast du mir f�r eine Brotkruste die Stiefel geleckt. Du l�sst dich von deinen Ein�gebungen leiten, und das macht dich dumm. Du w�rdest eine Bande ins Verderben f�hren.�
Lichoi wandte sich an die M�nner. �Los, wir machen sie zu unserer Hure. Wir sind doch richtige M�nner.�
Frajera h�tte einfach einen Satz nach vorn machen, Lichoi die Kehle durchschneiden und die Kampfansage damit beenden k�nnen. Aber ihr war klar, dass sie diesen Streit einvernehmlich l�sen musste, und deshalb konterte sie. �Er hat mich beleidigt.�
Jetzt mussten die wory sich entscheiden.
Einen Moment lang r�hrte sich keiner. Dann griff eine Hand nach Lichoi, danach eine zweite. Jemand trat ihm die Kr�cke weg. Sie stie�en ihn zu Boden und rissen ihm die Kleider vom Leib. Nackt hielten sie ihn am Boden fest, je ein Mann pro Arm und Bein. Einer ging zum Ofen und holte eine gl�hend hei�e Kohle aus dem Feuer.
Frajera sah auf Lichoi hinab. �Du geh�rst nicht mehr zu uns.�
Sie dr�ckten ihm die Kohle an sein eint�towiertes Kruzifix - das Zeichen, das sie alle trugen. Die Haut warf Blasen. Nicht nur war die T�towierung ausgel�scht, seine Haut w�rde auch so entstellt sein, dass er sich keine neue machen lassen konnte. Normalerweise h�tte man ihn daraufhin ausgesto�en und gehen lassen. Aber Frajera kannte sich zu gut mit Rachegel�sten aus. Sie w�rde sicherstellen, dass er seine Verletzungen auf keinen Fall �berlebte. Sie warf Malysch einen kurzen Blick zu, und in diesem Blick lag ihr Befehl. Er zog sein Messer und lie� die Klinge aufschnappen. Er w�rde s�mtliche T�towierungen her�ausschneiden.
* * *
In ihrer Zelle umklammerte Soja die Gitterst�be, w�hrend sie h�rte, wie die Schreie durch den Flur hallten. Es waren die Schreie eines Mannes, nicht die eines Jungen. Soja war er�leichtert.
Kolyma
F�nfzig Kilometer n�rdlich vom Hafen von Magadan,
sieben Kilometer s�dlich von Gulag 57
9. April
Sie standen nebeneinander, jeder stierte auf die Schulter sei�nes Nebenmannes und schaukelte mit der Bewegung des Last�wagens. Es gab zwar keinen W�rter, der sie daran gehindert h�t�te, sich hinzusetzen, aber B�nke gab es ebenso wenig, und der Boden war so kalt, dass sie allesamt beschlossen hatten, lieber stehen zu bleiben. Wie eine Viehherde traten sie auf der Stelle, um sich warm zu halten.
Leo befand sich ganz au�en am Ende der Ladefl�che. Die Plane hatte sich gel�st und sorgte dadurch auf der Ladefl�che f�r Temperaturen unter null, doch daf�r gew�hrte die auf- und zuflatternde Leinwand wenigstens gelegentliche Ausblicke auf die Landschaft. Der Konvoi folgte der Landstra�e von Kolyma hinauf in die Berge, einer k�nstlich angelegten Fahrbahn, die sich aber so vorsichtig �ber das Gel�nde wand, als sei sie sich bewusst, dass sie hier unbefugt in die totale Wildnis eindrang. Insgesamt waren es drei Lastwagen. Man hatte sich nicht einmal die M�he einer Eskorte gemacht, um sicherzustellen, dass keiner der Gefangenen vom Wagen sprang und fl�chtete. Hier konnte man nirgendwohin entfliehen.
Pl�tzlich wurde die Stra�e steiler, und das Heck des Lasters neigte sich so be�ngstigend ins schneebedeckte Tal hinab, dass Leo sich an der Stahlreling festhalten musste. Die anderen Ge�fangenen rutschten nach unten und wurden gegen ihn gedr�ckt. Der Lastwagen schaffte die Steigung nicht und blieb hin- und herwippend stecken, gleich w�rde er zur�ckrollen. Die Hand�bremse wurde angezogen, der Motor ging aus. Die Wachen �ffneten die hintere Luke, und die Gefangenen purzelten auf die Stra�e.
�Marschieren!�
Die ersten beiden Lastwagen hatten es �ber den Kamm ge�schafft und waren nicht mehr zu sehen. Der letzte lie� nun ohne das Gewicht der Str�flinge den Motor an und fuhr den Hang hinauf. Die Zur�ckgelassenen qu�lten sich bergan und keuchten dabei wie alte M�nner, hinter sich die W�rter mit den Gewehren im Anschlag. Vor dem Hintergrund der Landschaft wirkte das wichtigtuerische Gehabe der Wachm�nner so bedeutungslos und l�cherlich wie Insektengekrabbel. Leo beobachtete sie mit den Augen eines Gefangenen und konnte nur dar�ber staunen, wie wichtig sie sich offensichtlich vorkamen. Wie Viehtreiber. Am liebsten h�tte er ihnen, nur um ihre �berraschung zu sehen, zugerufen:
Ich bin einer von euch!
Im n�chsten Moment fragte er sich, ob er wirklich einer von de�nen war? So selbstgef�llig, so eingelullt von der eigenen Macht, von der Geltung, die der Staat einem verliehen hatte. Auf jeden Fall war er fr�her so einer gewesen.
Oben auf dem Kamm wurde es flacher. Leo blieb stehen, atmete durch und inspizierte das vor ihm liegende Gel�nde, w�hrend kalter Wind an ihm zerrte und ihm Tr�nen in die Au�gen trieb. Was er sah, war eine Mondlandschaft, eine riesige Hochebene, gro� wie eine Stadt, gegl�ttet vom Eis und vom Permafrost und �bers�t mit Kratern. Die einsame Landstra�e schnitt in einer ungef�hren Diagonalen hindurch und wand sich dann den bislang h�chsten Berg hinauf. Wie ein gewaltiger Ka�melh�cker erhob er sich aus dem Plateau. Irgendwo an seinem Fu� lag der Gulag 57.
W�hrend die Str�flinge zur�ck auf den Laster kletterten, warf Leo einen Blick auf die anderen beiden Fahrzeuge. Er musste sich der Tatsache stellen, dass Timur sich nicht im Konvoi be�fand. Niemals w�re sein Freund in einen der Lastwagen gestie�gen, ohne Kontakt mit ihm aufzunehmen, selbst wenn es nur ein fl�chtiger Blick in der Menge gewesen w�re. Seit gestern, als er an Deck der Stary Bolschewik an ihm vorbeigelaufen war, hatte Leo ihn nicht mehr gesehen. Danach hatte man Leo ins Durchgangslager von Magadan abgef�hrt, wo er entlaust und von einem Arzt untersucht worden war. Der hatte ihn als voll tauglich eingestuft und der TFT zugeteilt, der Tjascholy Fisitscheski Trud oder Schwerstarbeiterkolonne, f�r deren Arbeit es keinerlei Beschr�nkungen gab. Danach hatte Leo in einem der gro�en Zelte gewartet, die man f�r die Neuank�mmlinge auf�gebaut hatte. Mit den Hunderten zusammengezw�ngter Liegen hatte es ihn an die Behelfslazarette im Gro�en Vaterl�ndischen Krieg erinnert. Eigentlich war ausgemacht gewesen, dass Timur und er am Abend zusammentreffen sollten. Als Timur nicht er�schienen war, hatte Leo sich mit allen m�glichen Erkl�rungen beruhigt. Es hatte eben eine Verz�gerung gegeben, morgen fr�h w�rden sie sich schon begegnen. Sich nach ihm zu erkundigen war zu riskant, nicht nur, weil ihre Tarnung auffliegen konnte, man h�tte Leo f�r einen Informanten halten k�nnen. Weil er keinen Schlaf gefunden hatte, war er fr�h aufgestanden in der Hoffnung, seinen Freund zu finden. Als sie auf die Lastwagen verfrachtet worden waren, hatte Leo bis zum letzten Moment gewartet. Mittlerweile fielen ihm beruhigende Erkl�rungen f�r Timurs Abwesenheit schon schwerer.
Zum ersten Mal nach sieben Jahren w�rde Leo wieder auf Lasar treffen. Ihre erste Begegnung, der Augenblick, wo sie einander entdeckten, war m�glicherweise der gef�hrlichste Mo�ment der ganzen Mission. Darauf, dass Lasars Hass sich mit der Zeit gelegt hatte, brauchte Leo nicht zu hoffen. Wenn er ihn nicht auf der Stelle umzubringen versuchte, w�rde Lasar auf jeden Fall verbreiten, dass Leo ein Tschekist war, ein Mann, der f�r die Einkerkerung von Hunderten unschuldiger M�nner und Frauen verantwortlich war. Wie lange w�rde Leo dann wohl noch zu leben haben, umgeben von Leuten, die man gefoltert und verh�rt hatte? Genau f�r eine solche Situation war Timurs Anwesenheit so wichtig. Sie hatten einkalkuliert, dass das Zu�sammentreffen gewaltt�tig verlaufen konnte. Mehr noch, es war sogar Teil ihres Plans. Als W�rter w�rde Timur einschreiten und jede Auseinandersetzung unterbinden k�nnen. Vorschrifts�gem�� w�rde man Leo und Lasar voneinander trennen und anschlie�end in den Isolationstrakt sperren, in benachbarte Einzelzellen. Dort w�rde Leo dann Gelegenheit haben, Lasar zu erkl�ren, dass er gekommen war, um ihn zu befreien, dass seine Frau lebte und dass er auf keinen Fall jemals auf regul�rem Weg w�rde entlassen werden. Entweder nahm er Leos Hilfe an, oder er w�rde als Sklave sterben.
Leo fuhr sich mit seinen eiskalten Fingern �ber den frisch�geschorenen Sch�del. Verzweifelt entwarf er einen Notplan. Es gab nur eine L�sung: Er w�rde die Begegnung mit Lasar hinaus�z�gern m�ssen, bis Timur auftauchte. Sich zu verbergen w�rde nicht einfach sein. Seit Stalins Tod war der Gulag 57 sowohl in der Zahl seiner Gefangenen als auch in seiner r�umlichen Ausdehnung geschrumpft. Zuvor hatte er aus einer Vielzahl von �ber den Berghang verstreuten lagpunkty bestanden, Unterko�lonien des Lagers. Einige hatten in so schroffem Gel�nde und an so unergiebigen Minen gelegen, dass ihr Zweck eigentlich nur der Tod sein konnte. All diese kleineren Baracken von Gulag 57 waren mittlerweile geschlossen, und das einstige Gef�ngnis�imperium beschr�nkte sich nur mehr auf das Hauptlager am Fu� des Berges, den einzigen Ort, wo die Goldmine �berhaupt je einigerma�en ertragreich gewesen war. Und nach dem, was Leo auf den Lagerpl�nen gesehen hatte, war selbst von diesem Terrain nur wenig �brig geblieben. Die �Zone�, der �berwachte Bereich, war rechteckig angelegt, obwohl dem Gel�nde ein kur�viger Grundriss eher entsprochen h�tte. Aber es war ein eher�nes Gesetz, dass die Zone nun einmal rechteckig zu sein hatte. Etwas Rundes gab es in einem Gulag nicht, wenn man einmal vom Stacheldraht absah, der sich um sechs Meter hohe Pfosten ringelte, die zwei Meter tief in die Erde eingegraben waren und die �u�ere Eingrenzung des Lagers darstellten. Im Innern dieses Zauns befanden sich mehrere Schlafbaracken und eine Kanti�nenbaracke, von denen wiederum der in der Lagermitte liegen�de Verwaltungstrakt durch ein inneres Stacheldraht-Rechteck abgeschirmt wurde. Sektoren innerhalb von Sektoren, Zonen innerhalb von Zonen. F�r die Sicherheit sorgten neben Schutz�w�llen aus Baumst�mmen sechs kleinere Beobachtungst�rme sowie zwei m�chtige wachta-T�rme zu beiden Seiten des Haupt�tors, die beide mit schweren Maschinengewehren auf Lafetten bewaffnet waren. Zudem befanden sich in jeder Ecke der Zone kleinere T�rme, von denen aus Wachbeamte das Lager durch Fernrohre beobachteten. Und selbst wenn die Wachen einschlie�fen oder betrunken in der Ecke lagen, spielte das keine Rolle, denn um in die Freiheit zu gelangen, musste man zun�chst �ber den Berg klettern oder kilometerweit die ungesch�tzte Hoch�ebene durchqueren.
Bei seiner Ankunft w�rde man Leo in die innere Gefange�nenzone treiben. Da es drei Baracken gab, bestand zumindest die theoretische Chance, dass er noch weitere vierundzwanzig Stunden unentdeckt blieb. Vielleicht gab das Timur ausreichend Zeit hinterherzukommen.
Der Lastwagen wurde langsamer. Vorsichtig, damit ihn nicht etwa ein �bereifriger Scharfsch�tze auf dem wachta abschoss, sp�hte Leo hinaus auf den Berg. Die H�nge waren gef�hrlich steil. Vor dem kolossalen Bergmassiv sahen die Mine und die paar Gr�ben und k�nstlich angelegten B�che, in denen die Erd�klumpen gewaschen und nach Gold durchsiebt wurden, gerade�zu l�cherlich klein aus.
Oben auf den zwei wachta bemerkte er Schatten, es waren Posten, die die Neuank�mmlinge im Auge behielten. Die T�rme waren f�nfzehn Meter hoch und wurden �ber eine Reihe wacke�liger Leitern erklommen, die man jederzeit hochziehen konnte. Die Tore zwischen den T�rmen wurden von Hand ge�ffnet. Wachposten dr�ckten die schweren Holztore auf und schoben sie durch den Schnee. Die Lastwagen fuhren auf das Lagerge�l�nde. Von der Ladefl�che aus sah Leo, wie die Tore hinter ihnen geschlossen wurden.
Am selben Tag
Leo kletterte von der Ladefl�che und wurde von den W�rtern ans Ende einer L�ngsreihe gef�hrt. Nebeneinander standen die Str�flinge zitternd da und warteten auf die Inspektion. Da er keinen Schal und nur eine zu kleine M�tze besa�, hatte Leo sich Lappen in den Jackenkragen gesteckt, um sich gegen die K�lte zu sch�tzen. Obwohl er sich alle M�he gab, schaffte er es nicht, das Z�hneklappern zu unterdr�cken. Sein Blick glitt �ber die Zone. Die einfachen Blockhausbaracken standen auf St�tzpfos�ten �ber der gefrorenen Erde. Der Horizont bestand aus Stachel�draht und wei�em Himmel. Die Geb�ude und anderen Anlagen waren so primitiv, als h�tte eine hochstehende Zivilisation sich pl�tzlich zur�ckentwickelt und Hochh�user durch H�tten er�setzt. Hier also waren sie gestorben, die M�nner und Frauen, die er verhaftet und deren Namen er vergessen hatte. Hier hatten sie gestanden und diesen Anblick vor Augen gehabt. Trotzdem ging es Leo nicht wie ihnen. Die anderen hatten keine Fluchtpl�ne gehabt. Sie hatten �berhaupt keine Pl�ne mehr gehabt.
Sie warteten schweigend, doch von Schores Sinjawski, dem Kommandanten des Gulags 57, war nichts zu sehen. Der Mann war weit �ber die Gulags hinaus bekannt, �berlebende hatten seine Geschichte nach drau�en mitgenommen und �berall im Land verbreitet. Der f�nfundf�nfzigj�hrige Sinjawski war ein Veteran der glawnoje uprawlenije lagerei, kurz Gulags genannt; sein ganzes Erwachsenenleben hatte er in deren t�dlichen Dienst gestellt. Er hatte von Str�flingen durchgef�hrte Bauprojekte �berwacht, unter anderem den Fergana-Kanal und die nicht fer�tiggestellte Eisenbahn an der M�ndung des Ob. Hunderte von Kilometern vor ihrem geplanten Ziel, dem Jenissei, brachen die Gleise ab und verrotteten mittlerweile wie eine pr�historische st�hlerne Schlangenhaut. Viele Tausend Menschenleben und mehrere Milliarden Rubel hatte dieses Projekt verschlungen, doch Sinjawskis Karriere hatte sein Scheitern nicht geschadet. W�hrend andere Lagerkommandanten dem Verlangen der Ge�fangenen nach Ruhepausen, Nahrung und Schlaf nachgegeben hatten, hatte er immer sein Plansoll erf�llt. Er hatte seine Gefan�genen gezwungen, im k�ltesten Winter und im hei�esten Som�mer zu arbeiten. Er hatte nicht am Bau einer Eisenbahn, sondern an seinem Ruf gearbeitet. Er hatte seinen Namen in die Knochen anderer Menschen gemei�elt. Da spielte es keine Rolle, wenn man die Schwellen nicht gen�gend vorbehandelt hatte, sodass sie in der Julisonne rissen und sich im eisigen Januar verzogen. Es spielte keine Rolle, wenn Arbeiter zusammenbrachen. Auf dem Papier hatte er sein Soll erf�llt. Auf dem Papier war er ein Mann, dem man vertrauen konnte.
Es war offensichtlich, dass die Gulags f�r Sinjawski mehr als nur eine Arbeit waren. Er strebte nicht nach Privilegien. Geld interessierte ihn nicht. Und h�tte man ihm einen bequemen Verwaltungsposten in moderatem Klima angeboten, wo er ein Lager nicht weit von einer Stadt beaufsichtigen konnte, dann h�tte er abgelehnt. Er war f�nfundf�nfzig Jahre alt und wollte dennoch �ber das feindseligste Territorium herrschen, das je kolonisiert worden war. Er hatte sich freiwillig nach Kolyma gemeldet. Er hatte die W�stenei gesehen und beschlossen, dass dies der richtige Ort f�r ihn war.
Leo h�rte Holz knarren und wandte den Kopf. Oben auf der Treppe kam Sinjawski gerade aus der Kommandantenbaracke. Er war so dick in Rentierfelle eingepackt, dass sie seinen Umfang verdoppelten. Sein Mantel war ebenso kleidsam wie praktisch, und er lag ihm derart selbstverst�ndlich um die Schultern, als h�tte er die Tiere selbst im heldenhaften Kampf get�tet. Bei je�dem anderen Mann h�tte ein solch theatralischer Auftritt l�cher�lich gewirkt. Aber an diesen Ort und zu diesem Mann schien er zu passen. Es war sein Kaisermantel. Er war der Herrscher dieses Reiches.
Anders als andere H�ftlinge, deren �berlebensinstinkte h�her entwickelt waren, weil sie schon mehrere Monate in Z�gen und Durchgangslagern verbracht hatten, starrte Leo den Komman�danten offen und mit ungez�gelter Faszination an. Erst als ihm einfiel, dass er ja gar kein Milizbeamter mehr war, wandte er das Gesicht ab und senkte den Blick zu Boden. Als Gefangener konnte man erschossen werden, wenn man dem Wachpersonal in die Augen sah. Theoretisch hatten sich die Vorschriften zwar ge�ndert, aber wer konnte schon wissen, ob diese �nderungen auch wirklich umgesetzt wurden? �Du da!�, rief Sinjawski.
Leo hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet. Er h�rte die Treppe knarren, als der Kommandant von der erh�hten Veran�da hinabstieg. Als er unten angekommen war, knirschten seine Schritte im eisigen Schnee. Dann tauchten zwei wundersch�n ge�fertigte Fellstiefel in Leos Blickfeld auf. Immer noch hielt er die Augen gesenkt wie ein gescholtener Hund. Eine Hand umklam�merte sein Kinn und zwang ihn aufzuschauen. Das Gesicht des Kommandanten war durchzogen von tiefen dunklen Linien, eine Haut wie R�ucherfleisch. In seinen Pupillen blitzte es jodfarben. Leo war ein kapitaler Fehler unterlaufen: Er war aufgefallen. Eine weitverbreitete Methode, den H�ftlingen zu zeigen, was sie erwartete, war, gleich nach der Ankunft an einem von ihnen ein Exempel zu statuieren. �Warum siehst du weg?�
Es war mucksm�uschenstill. Leo sp�rte f�rmlich die Erleich�terung der anderen Gefangen, wie W�rme verstr�mten sie sie. Ihn hatte es erwischt, nicht sie. Sinjawskis Stimme war auffal�lend leise. �Antworte.�
�Ich wollte Sie nicht beleidigen�, sagte Leo.
Sinjawski lie� Leos Kinn los, trat einen Schritt zur�ck und griff in seine Tasche.
Leo hatte als N�chstes die M�ndung einer Pistole erwartet und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was er sah. Sinjawskis Arm war zwar tats�chlich ausgestreckt, aber die Handfl�che wies nach oben und hielt ihm drei kleine, purpur�rote Bl�mchen hin, keine gr��er als ein Hemdknopf. Leo fragte sich, ob er gerade den irren Augenblick erlebte, wo die Kugel in sein Hirn drang, ein Wirrwarr von Bildern und Erinnerungen. Aber nach einigen Augenblicken flatterten die zarten Bl�tenbl�t�ter immer noch im Wind. Das hier war real.
�Nimm eine.�
War es ein Gift? Sollte er sich im Angesicht der anderen vor Schmerzen winden? Leo r�hrte sich nicht und hielt die Arme streng an die Hosennaht gelegt.
�Nimm eine.�
Was sollte er machen? Also streckte Leo gehorsam die Hand aus. Wie die Beine eines Betrunkenen torkelten sein Daumen und sein Zeigefinger unsicher auf Sinjawskis Handfl�chen her�um, beinahe h�tte er die Bl�ten heruntergesto�en. Schlie�lich erwischte er eine. Sie war getrocknet, die Bl�ttchen br�chig.
�Riech dran.�
Wieder r�hrte Leo sich nicht, er verstand nicht, was der an�dere von ihm wollte.
Der wiederholte seine Anweisung. �Du sollst dran riechen.�
Leo hob die Bl�te an seine Nase und beschn�ffelte sie, roch aber gar nichts.
Sinjawski l�chelte. �Riecht gut, oder?�
Leo dachte nach. War das eine Falle? �Ja.�
�Gef�llt es dir?�
�Gef�llt mir sehr.�
Der Mann klopfte Leo auf die Schulter. �Du wirst ein G�rtner sein. Die Landschaft hier sieht zwar unfruchtbar aus, aber sie steckt voller M�glichkeiten. Es gibt nur zwanzig Wochen im Jahr, wo die Erdoberfl�che geschmolzen ist. In dieser Zeit er�laube ich allen Gefangenen, das Land zu kultivieren. Du kannst anbauen, was immer du willst. Die meisten ziehen Gem�se. Aber die Blumen, die hier wachsen, sind sehr sch�n, auf ihre einfache Art. Einfache Blumen sind oft die sch�nsten, findest du nicht auch?�
�Doch.�
�Glaubst du, dass du Blumen ziehen wirst? Ich will dir nichts vorschreiben. Du kannst auch was anderes machen.�
�Blumen ... sind ... sch�n.�
�In der Tat. Sie sind sch�n. Und einfache Blumen sind die sch�nsten.�
Der Kommandant lehnte sich nahe zu Leo heran und fl�ster�te: �Ich reserviere dir ein sch�nes St�ckchen Land. Bleibt unser Geheimnis.�
Herzlich dr�ckte er Leos Arm.
Sinjawski ging zur�ck und richtete seine Worte jetzt an die aufgereihten Gefangenen. Dabei zeigte er ihnen die auf seiner ausgestreckten Hand liegenden purpurnen Bl�ten. �Nehmt eine.�
Die H�ftlinge z�gerten.
Er wiederholte seinen Befehl. �Nehmt eine!�
Ver�rgert �ber ihr Zaudern schleuderte er die Bl�ten in die Luft, sodass die rotblauen Bl�ttchen ihnen um die kahl gescho�renen K�pfe flogen. Dann holte er noch eine Handvoll aus seiner Tasche und warf sie ihnen ebenfalls entgegen, immer wieder. Einige M�nner sahen auf, Bl�tenbl�ttchen in den Wimpern. An�dere blickten weiter zu Boden, ohne Zweifel �berzeugt, dass das hier ein ganz besonders ausgekochter Trick war, auf den nur sie nicht hereingefallen waren.
Leo hielt immer noch die Blume in der gekr�mmten Handfl�che. Er begriff es nicht, konnte sich keinen Reim auf die Sache machen. Hatte er die falsche Akte gelesen? Dieser Mann da mit den Taschen voller Blumen konnte doch nicht der sein, der H�ftlingen noch befohlen hatte weiterzuarbeiten, w�hrend die Leichen der Kameraden neben ihnen schon verfaulten. Nicht derselbe, der den Bau des Fergana-Kanals und der Ob-Eisen�bahn �berwacht hatte.
Als er alle seine Bl�ten verpulvert hatte und die letzten Bl�tt�chen in den Schnee trudelten, setzte Sinjawski seine Einf�h�rungsrede fort. �Diese Blumen stammen aus der schlimmsten, unbarmherzigsten Erde der Welt. Aus dem H�sslichen erw�chst das Sch�ne. Daran glauben wir hier. Ihr seid nicht hier, weil ihr leiden sollt. Ihr seid hier, um zu arbeiten, genau wie ich. Wir sind gar nicht so verschieden, ihr und ich. Na sch�n, wir verrichten unterschiedliche Arbeiten. Und vielleicht ist eure Arbeit h�rter. Aber trotzdem werden wir zusammenarbeiten, f�r unser Land. Wir werden an uns arbeiten. Wir werden zu besseren Menschen werden, genau hier, an diesem Ort, wo niemand irgendetwas Gutes zu finden glaubt. Wir werden es allen beweisen. Ihr und ich.�
Seine Worte schienen aus tiefstem Herzen zu kommen und einem ehrlichen Gef�hl zu entspringen. Ob Sinjawski nun die eigene Schuld oder Reue qu�lte oder die Angst, von den neu�en Machthabern vor Gericht gestellt zu werden, auf jeden Fall war ziemlich klar, dass der Kommandant den Verstand verloren hatte.
Sinjawski gab den W�rtern ein Zeichen. Einer rannte dar�aufhin zur Offiziersbaracke und kam nur Augenblicke sp�ter mit mehreren H�ftlingen wieder heraus, von denen jeder eine Flasche und ein Tablett mit kleinen Blechn�pfen trug. Sie gossen eine dickfl�ssige dunkle Fl�ssigkeit in die Becher und boten sie allen Gefangenen an.
Sinjawski erkl�rte. �Dieses Getr�nk, chwoja genannt, ist eine Mischung aus dem Extrakt der chwoja-Nadel und Rosenwasser. Beide enthalten viele Vitamine. Sie halten euch bei guter Ge�sundheit. Wenn ihr gesund seid, seid ihr produktiv. Hier werdet ihr ein produktiveres Leben f�hren als fr�her, au�erhalb des Lagers. Meine Aufgabe ist es, euch dabei zu helfen, dass ihr zu produktiveren B�rgern heranreift. Und indem ich das tue, werde auch ich zu einem produktiveren B�rger. Euer Wohl ist auch mein Wohl. Wenn ihr Fortschritte macht, tue ich das auch.�
Leo hatte sich nicht ger�hrt, er stand noch genauso da wie zuvor. Seine Hand war immer noch ausgestreckt. Eine Brise erfasste die Bl�te und wehte sie zu Boden. Er b�ckte sich und hob sie auf. Als er sich wieder aufrichtete, sah er, dass der H�ftling mit dem Pinienextrakt bei ihm angekommen war. Leo nahm sich die kleine Blechtasse, und dabei ber�hrten seine Finger f�r einen Moment die des anderen Gefangenen. F�r den Bruchteil einer Sekunde waren sie sich noch fremd, doch dann blitzte die Erinnerung auf.
Am selben Tag
Lasars Augen wirkten riesengro�, wie kalte, schwarze Monde, hinter denen eine rote Sonne brannte. Er war schmal, sein K�r�per zusammengeschmolzen zu einem Konzentrat seiner fr�heren Existenz. Seine Haut war straff bis auf die linke Gesichtsh�lfte, wo sein Kinn und seine Wange eingefallen waren, als best�nden sie aus Wachs und seien zu nah ans Feuer geraten. Leo vermu�tete kurz, dass er einen Schlaganfall erlitten hatte, doch dann fiel ihm der Abend der Verhaftung von Lasar wieder ein. Un�willk�rlich ballte er die Faust - dieselbe Faust, mit der er immer und immer wieder auf ihn eingepr�gelt hatte, bis die Wangen�knochen nachgegeben hatten. Eigentlich h�tte die Verletzung in sieben Jahren heilen sollen, so wie jede. Aber in der Lubjanka hatte man Lasar vermutlich nicht medizinisch versorgt. Viel�leicht hatten die Verh�rspezialisten sich der Verletzung sogar bedient und die gebrochenen Knochen gequetscht, wenn ihnen eine Antwort nicht gepasst hatte. Im Lager hatte man ihn dann zwar vermutlich notd�rftig zusammengeflickt, aber sicher nicht mit plastischer Chirurgie - allein die Vorstellung war abwegig. Leos ebenso unbesonnener wie sinnloser Gewaltakt - ein Ver�brechen, das er vergessen hatte, sobald die Kn�chel ihm nicht mehr wehtaten - hatte lebendige Gestalt angenommen.
Lasar lie� sich angesichts ihres Wiedersehens nichts anmer�ken, er hielt nur kurz inne, und es schien Leo, als schl�gen ihre Augen aufeinander wie Feuersteine. Lasars Gesicht aber blieb unergr�ndlich, die linke H�lfte war zu einer st�ndigen Grimasse verzogen. Ohne ein Wort ging er weiter die Reihe der H�ftlinge entlang und goss f�r die Neuank�mmlinge Pinienextrakt in klei�ne Becher. Er warf nicht einmal einen fl�chtigen Blick zur�ck, so als sei alles in Ordnung und sie beide wieder Fremde.
Leo blieb reglos stehen und umklammerte seine Blechtasse, bis sich seine Finger um sie verkrampften. Die gallertartige Oberfl�che des Sirups aus Kiefernnadeln und Rosenwasser vi�brierte mit dem Zittern seiner Hand. Er hatte jede F�higkeit verloren, klar oder strategisch zu denken.
Der Kommandant rief ihm gut gelaunt zu: �Du da! Freund! Der Blumenliebhaber! Trink! Das macht dich stark.�
Leo hob die Tasse und nippte an der dicken schwarzen Br��he. Sie schmeckte entsetzlich bitter und legte sich wie Teer �ber seine Schleimh�ute. Am liebsten h�tte er sie ausgespuckt. Doch dann schloss er die Augen und schluckte widerwillig.
Als er die Augen wieder aufmachte, sah er, wie Lasar gerade seinen Auftrag beendete und ohne Hast wieder zu den Baracken zur�cktrottete. Selbst als er an ihm vorbeikam, warf er ihm kei�nen Blick zu, zeigte nicht das geringste Zeichen von Erregung. Kommandant Sinjawski sprach noch eine Weile weiter, aber Leo h�rte nicht mehr zu. Die getrocknete, purpurne Bl�te in seiner geballten Faust hatte er zu Staub zermahlen. Der H�ftling neben ihm zischte ihm zu: �Pass auf. Es geht weiter.�
Erst jetzt registrierte Leo, dass der Kommandant aufgeh�rt hatte zu reden. Die Einf�hrung war vorbei, und die H�ftlinge wurden aus der Verwaltungszone in die Str�flingszone abge�f�hrt. Leo befand sich fast am Ende der Kolonne. Sein Herz raste. Der Abend war hereingebrochen, der Horizont erlo�schen. In den Wacht�rmen flackerten Lichter auf. Aber keine m�chtigen Scheinwerfer suchten den Boden ab. Au�er einem matten Schein aus den Fenstern der H�tten war die Zone stock�finster.
Sie kamen durch die zweite Stacheldrahtabsperrung. Die W�rter blieben an der Grenze zwischen den beiden Zonen zu�r�ck, die Gewehre entsichert und im Anschlag. Kein Beamter betrat bei Nacht diese Zone, es war zu gef�hrlich. Leicht h�t�te ein Str�fling ihm den Sch�del einschlagen und wieder ver�schwinden k�nnen. Den W�rtern war es lediglich darum zu tun, die Absperrung zu �berwachen und die Str�flinge eingesperrt zu halten. Die da drinnen waren sich selbst �berlassen.
Leo war der Letzte, der die Baracke betrat - Lasars Baracke. Er w�rde allein mit ihm fertig werden m�ssen, ohne Timur. Er w�rde vern�nftig mit ihm reden, ihm alles erkl�ren. Schlie�lich war der Mann ein Priester, er w�rde sich seine Beichte schon anh�ren. Leo hatte viel zu berichten. Er hatte sich ge�ndert. Seit drei Jahren bem�hte er sich nun schon um Wiedergutmachung. Wie ein Mann auf dem Weg zu seiner Hinrichtung stieg er mit schweren Beinen die Treppe hoch. Er dr�ckte die T�r auf, holte tief Luft, atmete den Gestank der �berf�llten Baracke ein und blickte in eine Kulisse aus hasserf�llten Gesichtern.
Am selben Tag
Leo war bewusstlos gewesen. Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf dem Fu�boden wieder, jemand zerrte an seinen Fu߭gelenken, und eine Horde Gefangener trat auf ihn ein. Als er mit den Fingern seinen Sch�del betastete, f�hlte er klebriges Blut. Er konnte sich nicht konzentrieren, konnte nicht k�mpfen, hilflos lag er im Epizentrum dieser Wut. Lange w�rde er das nicht �berleben. Ein Spuckebatzen traf ihn ins Auge, ein Stiefel seitlich am Kopf. Er knallte mit dem Kinn auf den Boden, sei�ne Kiefer schlugen aufeinander. Doch urpl�tzlich verebbte das Spucken und Treten und Schreien, einm�tig zog sich die Meute zur�ck und lie� ihn keuchend da liegen wie einen, der in einen Wirbelsturm geraten war. Eben noch rasender Hass und jetzt pl�tzlich Stille. Jemand musste ihnen Einhalt geboten haben.
Leo blieb liegen, wo er war, weil er f�rchtete, dass diese kostbaren Momente der Ruhe vorbei sein w�rden, sobald er aufzublicken wagte.
�Aufstehen!�, rief eine Stimme. Es war nicht Lasars, sondern die eines j�ngeren Mannes. Leo rollte sich aus seiner F�tus�stellung und warf einen verstohlenen Blick auf die M�nner, die da vor ihm aufragten. Es waren zwei, Lasar und neben ihm ein vielleicht drei�ig Jahre alter Mann mit roten Haaren und rotem Bart.
Leo wischte sich die Spucke vom Gesicht und das Blut von den Lippen und der Nase. Dann setzte er sich m�hsam auf. An die zweihundert Gefangenen beobachteten ihn. Einige hockten auf ihren Kojen, andere standen in der N�he, so als sei dies eine Theaterauff�hrung mit schlechteren und besseren Pl�tzen. Die Neuank�mmlinge hatten sich in eine Ecke zur�ckgezogen, er�leichtert, dass die Aufmerksamkeit nicht ihnen galt.
Leo rappelte sich hoch, vorgebeugt wie ein Kr�ppel stand er da. Lasar trat auf ihn zu, ging um ihn herum und musterte ihn dabei. Dann stellte er sich direkt vor Leo hin, Auge in Auge. Sein Blick flackerte vor aufgestauter Energie, die straffe Haut zitterte. Langsam �ffnete er den Mund und schloss dabei die Augen, offensichtlich litt er uns�gliche Schmerzen. Das Wort, das er sprach, war eigentlich nur ein Fl�stern, ein Lufthauch, der ein kaum h�rbares Ger�usch mit sich trug: �Max...im.�
Alles, was Leo hatte sagen wollen, die Geschichte, dass er sich ge�ndert hatte, das Gerede �ber seine Erleuchtung, das Luftschloss seiner Transformation schmolz dahin wie Schnee auf hei�en Kohlen. Er hatte sich immer damit getr�stet, dass er ein besserer Mensch war als die meisten Agenten, mit denen er zusammengearbeitet hatte. M�nner, die sich ein vollst�n�diges neues Gebiss aus dem Gold anfertigen lie�en, das aus den M�ndern der verh�rten Verd�chtigen stammte. Er war beileibe nicht der Schlimmste gewesen. Er war h�chstens in der Mitte, vielleicht auch noch weiter unten, verborgen im Schatten der Unmenschen, die �ber ihm gemordet hatten. Er hatte Unrecht begangen, aber doch kein so gravierendes. Wenn er ein Schuft war, dann h�chstens ein durchschnittlicher. Als er jetzt diesen Namen h�rte, den Decknamen, den er sich selbst ausgesucht hatte, fing er an zu weinen. Er versuchte aufzuh�ren, aber es gelang ihm nicht, die Tr�nen str�mten weiter �ber seine Wan�gen. Lasar streckte die Hand aus, ber�hrte eine seiner Tr�nen und sammelte sie mit seiner Fingerkuppe auf. Er begutachtete sie eine Weile, dann setzte er sie wieder genau dort ab, wo er sie hergenommen hatte. Fest presste er seinen Finger gegen Leos Wange und zerrieb die Tr�ne ver�chtlich, so als wolle er sagen:
Behalt deine Tr�nen. Die z�hlen nicht.
Lasar nahm Leos Hand, deren Innenseite noch verschorft war von der Jagd durch die Kanalisation, und legte sie auf seine lin�ke Gesichtsh�lfte. Die Wange f�hlte sich uneben an, so als h�tte Lasar den Mund voller Kieselsteine. Als er den Mund jetzt wie�der �ffnete, zuckte er vor Schmerz zusammen und schloss die Augen. Als Erstes schlug Leo der F�ulnisgestank in die Nase, der Geruch nach verrotteten, kranken Z�hnen. Dann erst sah er es: Viele Z�hne fehlten ganz. Der Gaumen war deformiert, er sah schwarze Reihen mit fleckigen, blutigen St�mpfen. Anders als seine eigene war Lasars Ver�nderung eine Transformation, die den Namen auch tats�chlich verdiente. Aus dem brillanten Rhetoriker, der drei�ig Jahre lang Reden und Predigten gehalten hatte, war im Gulag ein �bel riechender Stummer geworden.
Lasar schloss den Mund und machte einen Schritt zur�ck. Der Rothaarige trat neben ihn und hielt ihm die Wange wie zum Kuss hin. Lasar lehnte sich so nah zu ihm heran, dass seine Lippen beinahe das Ohr des Mannes ber�hrten. Beim Sprechen schienen sie sich kaum zu bewegen. Als er geendet hatte, lie� er den Rothaarigen f�r sich sprechen.
�Ich habe dich behandelt wie einen Sohn. Ich habe dir mein Heim ge�ffnet. Ich habe dir vertraut. Dich geliebt.� Der Rothaa�rige �bersetzte nicht in der dritten Person, sondern sprach so, als sei er Lasar selbst. Leo antwortete.
�Lasar, es gibt nichts, womit ich mich verteidigen k�nnte. Dennoch bitte ich Sie, mich anzuh�ren. Ihre Frau lebt. Sie hat mich geschickt, um Sie zu befreien.�
Leo und Timur hatten dar�ber spekuliert, ob man Lasar wohl schon einen verschl�sselten Brief mit Frajeras Pl�nen hatte zu�kommen lassen. Doch seine �berraschung war echt. Er wusste nichts �ber seine Frau. Er hatte keine Ahnung, wie sehr sie sich ver�ndert hatte. W�tend gab er dem Rothaarigen ein Zeichen, der daraufhin vortrat und Leo so fest trat, dass dieser in die Knie ging. Dabei zischte er: �Du l�gst!�
Leo wandte sich erneut an Lasar. �Ihre Frau lebt. Sie ist der Grund, warum ich hier bin. Das ist die Wahrheit.�
Der Rothaarige warf einen Blick �ber die Schulter und war�tete auf Anweisungen. Lasar sch�ttelte den Kopf. Der Mann nahm das als Signal und �bersetzte.
�Was wei�t du denn von der Wahrheit? Du bist ein Tschekist. Dir darf man kein Wort glauben.�
�Anisja wurde vor drei Jahren aus dem Gulag entlassen, La�sar. Sie hat sich vollkommen ver�ndert und geh�rt jetzt zu den wory.�
Mehrere der wory, die das Schauspiel verfolgten, lachten angesichts der Vorstellung, dass die Frau eines regimekritischen Priesters bei ihnen angeheuert haben sollte.
Leo lie� sich nicht beirren. �Sie geh�rt nicht nur zu den wory, sondern ist sogar eine Anf�hrerin. Den Namen Anisja hat sie abgelegt, ihr klikucba ist Frajera.�
Das ungl�ubige Gezeter wurde immer lauter. Br�llend dr�ngten einige M�nner nach vorn, die allein schon den Ge�danken, eine Frau k�nne sie anf�hren, als Affront empfanden.
Leo rief lauter, um den L�rm zu �bert�nen. �Sie hat ihre eigene Bande, die sich auf Rache eingeschworen hat. Sie ist nicht mehr die Frau, an die Sie sich erinnern, Lasar. Sie hat meine Tochter entf�hrt. Wenn ich es nicht schaffe, Sie hier rauszuholen, wird Frajera sie umbringen. Sie haben nicht die geringste Chance, jemals freigelassen zu werden. Wenn Sie meine Hilfe nicht an�nehmen, werden Sie hier sterben.�
Die Menge war emp�rt �ber solche Worte und stand kurz vor einem erneuten Gewaltausbruch. Str�flinge sprangen auf und kreisten ihn ein, um �ber ihn herzufallen. Doch Lasar hob eine Hand und beorderte sie zur�ck. Offensichtlich genoss er bei den M�nnern einiges Ansehen, denn sie gehorchten ohne Murren und kehrten auf ihre Kojen zur�ck. Lasar winkte den Rothaarigen zu sich und fl�sterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann nickte zustimmend.
Als Lasar geendet hatte, wandte sich der Rothaarige in selbst�herrlichem Ton an Leo. �Du bist ein verzweifelter Mann. Du w�rdest alles sagen. Du bist ein L�gner. Du warst immer schon ein L�gner. Einmal hast du mich hereingelegt. Ein zweites Mal gelingt dir das nicht.�
Mit Skepsis hatten sie gerechnet. Wenn Timur jetzt da gewe�sen w�re, h�tte er als Beweis, dass sie lebte, Frajeras Brief vorzei�gen k�nnen. Sie hatte ihn geschrieben, um genau diese Zweifel auszur�umen. Aber Timur war nicht da. Ohne den Brief war Leo hilflos. Verzweifelt sagte er: �Lasar, Sie haben einen Sohn.�
In der Baracke wurde es still. Lasar fing an zu zittern, so als stecke etwas in ihm, das herauswollte. Er �ffnete den Mund zu einer verzerrten Grimasse, und trotz seines Zorns war das Wort, das er stammelte, kaum zu h�ren. �Nein!�
Seine Stimme war ebenso entstellt wie seine Wange, nur mehr ein Kr�chzen. Der Schmerz, den ihn nur dieses eine Wort gekos�tet hatte, hatte ihn ersch�pft. Man brachte ihm einen Stuhl, auf den er sich setzte und sich den Schwei� aus dem blassen Gesicht wischte. Weil er nicht weiterreden konnte, gab er dem Rothaa�rigen ein Zeichen, der nun zum ersten Mal im eigenen Namen sprach. �Lasar ist unser Priester. Wir sind seine Gemeinde. Ich bin seine Stimme. Hier kann er von Gott reden, ohne bef�rchten zu m�ssen, dass er etwas Falsches sagt. Der Staat kann ihn nicht ins Gef�ngnis stecken, wenn er schon drin ist. In der Gefan�genschaft hat er die Freiheit gefunden, die man ihm drau�en nicht gew�hren wollte. Mein Name ist Georgi Wawilow. Lasar ist mein Mentor, wie er einst auch deiner zu sein versuchte. Ich allerdings w�rde eher sterben, als ihn zu verraten. Ich verachte dich.�
�Dich kann ich auch hier rausholen, Georgi.�
Der Rothaarige sch�ttelte den Kopf. �Du weidest dich an den Schw�chen der Menschen. Ich will nirgendwo anders sein als an der Seite meines Meisters. Lasar h�lt es f�r g�ttliche Ge�rechtigkeit, dass du zu ihm geschickt wurdest. Dein Urteil soll gesprochen werden, und zwar von den Menschen, die du einst selbst hast verurteilen lassen.�
Lasar wandte sich an einen alten Mann, der ganz hinten an der Wand der Baracke stand und sich bisher aus dem Geschehen herausgehalten hatte. Er bedeutete ihm vorzutreten. Der Mann gehorchte und kam mit langsamen, unsicheren Schritten nach vorn. Dann wandte er sich an Leo. �Vor drei Jahren habe ich den Mann wiedergetroffen, der mich verh�rt hatte. Genau wie dich hatte man ihn ins Gef�ngnis gesteckt, wohin er selbst so viele geschickt hatte. Wir �berlegten uns eine Strafe f�r ihn. Wir machten eine Liste aller Foltermethoden, die wir alle zusam�mengenommen hatten erdulden m�ssen und f�r die es keines besonderen Aufwands bedurfte. Dabei kamen wir auf �ber hundert. Jede Nacht haben wir den Agenten einer dieser Me�thoden unterzogen, die ganze Liste durch, eine Folter nach der anderen. Wenn er sie alle �berlebte, w�rden wir ihn am Leben lassen. Wir wollten ihn nicht umbringen. Wir wollten nur, dass er jede Folter am eigenen Leib sp�rte. Deshalb haben wir ihn auch daran gehindert, sich zu erh�ngen. Wir haben ihm zu essen gegeben. Wir haben ihn bei Kr�ften gehalten, damit er weiter leiden konnte. Er kam nur bis Nummer drei�ig, dann ist er ab�sichtlich an den Rand der Zone gelaufen und von den Wachen wegen Fluchtversuchs erschossen worden. Die Folter, die er mir hat angedeihen lassen, war die erste auf der Liste. Es wird auch deine erste Folter sein.�
Der Alte rollte seine Hosenbeine hoch und zeigte seine Knie vor. Sie waren blaurot und schwarz und vollkommen deformiert.
Kolyma
Drei�ig Kilometer n�rdlich von Magadan,
siebzehn Kilometer s�dlich vom Gulag 57
10. April
Die Wolkendecke hatte sich auf tausend Meter abgesenkt und behinderte die Sicht. Silbrige Tr�pfchen hingen in der Luft, halb Nebel, halb Eis und halb Zauberei. Nur meterweise tauchte die eint�nige Landstra�e daraus hervor wie ein grauer, holpriger Teppich, der sich vor ihnen entrollte. Der Lastwagen kam nur langsam voran. Entnervt von dieser zus�tzlichen Verz�gerung sah Timur auf die Uhr, er hatte vergessen, dass sie ja gar nicht mehr funktionierte. Im Sturm war sie kaputtgegangen und umschloss nun nutzlos sein Handgelenk, das Glas zersprungen und das Uhrwerk vom Salzwasser lahmgelegt. Er fragte sich, ob sie wohl sehr besch�digt war. Sein Vater hatte behauptet, sie sei ein Familienerbst�ck. Timur vermutete, dass das gelogen war, denn sein Vater war ein stolzer Mann gewesen und hatte wahrschein�lich nur dar�ber hinwegt�uschen wollen, dass er seinem Sohn zum achtzehnten Geburtstag lediglich eine zerbeulte Uhr aus zweiter Hand schenken konnte. Aber gerade wegen und nicht trotz dieser L�ge war die Uhr zu Timurs gr��tem Schatz gewor�den. Wenn sein �ltester Sohn achtzehn wurde, wollte Timur sie ihm schenken, allerdings hatte er sich noch nicht entschieden, ob er ihm die sentimentale Bedeutung der L�ge erkl�ren oder einfach nur den Herkunftsmythos der Uhr weitertragen sollte.
Trotz der Verz�gerung war Timur sehr erleichtert, dass er es immerhin hatte verhindern k�nnen, �ber das Ochotskische Meer zur�ck nach Buchta Nachodka geschickt zu werden. Ges�tern Abend waren sie an Bord der Stary Bolschewik gewesen, die zum Auslaufen bereit war. Der Frachtraum war repariert und das Wasser abgepumpt worden, dann hatte man die gerade entlassenen Gefangenen eingeladen, auf deren Gesichtern immer noch die Ratlosigkeit �ber ihre Freiheit gestanden hatte. Ohne einen Ausweg aus seiner misslichen Lage zu sehen, hatte Timur wie gel�hmt an Deck gestanden und beobachtet, wie die Hafen�mannschaft die Leinen losgemacht hatte. In wenigen Minuten w�rde das Schiff in See stechen, und er h�tte keine Chance, vor Ablauf von Wochen den Gulag 57 zu erreichen.
V�llig verzweifelt war er zur Kapit�nsbr�cke gelaufen in der Hoffnung, dass ihm angesichts der dringenden Umst�nde schon eine plausible Geschichte einfallen w�rde. Als der Kapit�n sich zu ihm umgedreht hatte, war es aus ihm herausgeplatzt: �Da ist etwas, was ich Ihnen sagen muss.�
Aber was? Timur war kein guter L�gner, und jetzt erinnerte er sich an die alte Weisheit, immer so nah wie m�glich an der Wahrheit zu bleiben. �Ich bin eigentlich gar kein W�rter. Ich ar�beite f�r den MVD. Man hat mich geschickt, um zu �berpr�fen, ob die nach Chruschtschows Rede beschlossenen �nderungen im System auch tats�chlich umgesetzt werden. Davon, wie dieses Schiff gef�hrt wird, habe ich nun ja schon genug mitbe�kommen.�
Bei der Erw�hnung der Rede erblasste der Kapit�n. �Habe ich etwas falsch gemacht?�
�Ich f�rchte, der Inhalt meines Berichts ist geheim.�
�Aber die Dinge, die auf dem Hinweg passiert sind, waren doch nicht meine Schuld. Erw�hnen Sie das bitte, falls Sie ei�nen Bericht dar�ber schreiben, wieso ich die Kontrolle �ber das Schiff verloren habe.�
Timur staunte nicht schlecht, welche Macht ihm seine Ausre�de pl�tzlich verliehen hatte.
Der Kapit�n war ganz dicht herangekommen und sprach mit flehentlicher Stimme weiter. �Niemand h�tte doch voraussehen k�nnen, dass die Trennwand kaputtgehen w�rde. Bitte lassen Sie mir meine Arbeit. Ich finde doch keine andere mehr. Wer w�rde denn noch mit mir arbeiten wollen, wenn er erf�hrt, womit ich meinen Lebensunterhalt verdient habe? Als Kapit�n eines Ge�f�ngnisschiffes? Alle w�rden mich verabscheuen. Das hier ist der einzig richtige Ort f�r mich. Hier geh�re ich hin. Bitte! Ich wei� nicht, wo ich sonst hinsoll.� Die Verzweiflung das Kapit�ns wurde geradezu peinlich.
�Der einzige Grund, warum ich Ihnen das erz�hlt habe, ist, dass ich die R�ckreise nicht antreten kann. Ich muss mit dem Regionaldirektor Abel Present sprechen. Sie werden auf dem Schiff ohne mich klarkommen m�ssen. Erz�hlen Sie der Mann�schaft irgendeine Ausrede, warum ich nicht da bin.�
Der Kapit�n grinste verschw�rerisch und verneigte sich.
Als er von Bord ging und den Hafen betrat, begl�ckw�nschte Timur sich daf�r, dass er rein zuf�llig auf eine derart durchschla�gende Ausrede gekommen war. Zuversichtlich betrat er den Ver�waltungstrakt des Durchgangslagers und erklomm die Treppe zum B�ro des Regionaldirektors Abel Present, des Mannes, der ihn auf die Stary Bolschewik versetzt hatte.
Als Timur anklopfte und eintrat, verzog Present gereizt das Gesicht. �Stimmt etwas nicht?�
�Ich habe genug von dem Schiff gesehen, um meinen Bericht zu schreiben.�
Wie bei einer Katze, die die Gefahr sp�rte, verwandelte sich Presents K�rperhaltung. �Was f�r einen Bericht?�
�Ich bin vom MVD geschickt worden, um Informationen dar��ber zu sammeln, wie nach Chruschtschows Rede die Reformen vorankommen. Meine Absicht war es, anonym zu bleiben, um objektiver beurteilen zu k�nnen, wie die Lager gef�hrt werden. Nachdem Sie mich allerdings gegen meinen Befehl auf die Stary Bolschewik versetzt haben, bin ich nun gezwungen, mich zu er�kennen zu geben. Es versteht sich wohl von selbst, dass ich keine Papiere bei mir trage. Das hielten wir nicht f�r notwendig. Wir konnten ja nicht damit rechnen, dass jemand meinen Auftrag infrage stellen w�rde. Wenn Sie allerdings einen Beweis brauchen: Ich kenne s�mtliche beruflichen Details aus Ihrer Akte.�
Timur und Leo hatten gewissenhaft die Unterlagen aller hie�sigen Schl�sselfiguren studiert. �Sie haben f�nf Jahre lang im kasachischen Karlag gearbeitet, und davor ...�
Present unterbrach ihn h�flich, indem er einen Finger hob. Seine Stimme klang gepresst, als h�tten sich unsichtbare H�nde um seinen blassen Hals gelegt. �Ich verstehe schon.�
Er stand auf, legte die H�nde auf den R�cken und dachte nach. �Sie sind also hier, um einen Bericht zu schreiben?�
�Das ist zutreffend.�
�Ich hatte schon mit so etwas gerechnet.�
Timur nickte. Dass seine erfundene Geschichte so glaub�w�rdig klang, gefiel ihm sehr. �Moskau verlangt regelm��ige Evaluationen.�
�Evaluationen ... was f�r ein gef�hrliches Wort.�
Mit einer solch nachdenklichen und melancholischen Re�aktion hatte Timur nicht gerechnet. Er versuchte, die unausge�sprochene Drohung abzuschw�chen. �Es geht hier nur darum, Fakten zu sammeln, um sonst nichts.�
Present antwortete: �Ich leiste f�r den Staat schwere Arbeit. Ich wohne an einem Ort, wo sonst niemand leben will. Ich habe es mit den gef�hrlichsten Str�flingen der Welt zu tun. Ich habe Dinge erledigt, die sonst keiner machen wollte. Man hat mir beigebracht, eine F�hrungsperson zu sein. Dann hie� es, diese Lektionen seien falsch gewesen. Erst ist es Gesetz, bestimmte Dinge zu tun, und im n�chsten Moment ist es ein Verbrechen. Erst sagt das Gesetz, dass ich streng sein soll. Dann sagt das Gesetz, dass ich nachgiebig sein soll.�
Er hatte Timurs L�ge voll und ganz geschluckt. Schon bei der blo�en Erw�hnung der Geheimen Rede duckten sie sich alle.
Aber anders als der Kapit�n flehte Present ihn nicht etwa an oder bettelte um einen g�nstigen Bericht. Er hing stattdessen der Erinnerung an vergangene Zeiten nach - Zeiten, in denen sein Platz im Leben und sein Auftrag noch klar gewesen waren. Timur nutzte seine �berlegene Position. �Ich brauche sofort ein Fahrzeug zum Gulag 57.�
�Selbstverst�ndlich�, antwortete Present.
�Ich muss unverz�glich los.�
�Bei Nacht kann man nicht in die Berge fahren.�
�Auch wenn es gef�hrlich ist, ich w�rde doch lieber sofort aufbrechen.�
�Verstehe. Ich habe Sie aufgehalten, daf�r entschuldige ich mich. Aber es ist einfach unm�glich. Morgen in aller Herrgotts�fr�he, mehr kann ich nicht anbieten. Gegen die Dunkelheit bin ich machtlos.
* * *
�Wie lange noch, bis wir da sind?�, frage Timur den Fahrer.
�Zwei, drei Stunden. Der Nebel ist ziemlich schlimm, also eher drei, w�rde ich sagen.� Dann lachte er und f�gte hinzu: �Hab noch nie von einem geh�rt, der es so eilig hatte, in einen Gulag zu kommen.�
Timur ignorierte diesen Witz und konzentrierte seine rastlose Energie darauf, noch einmal den Plan durchzugehen. Wenn er funktionieren sollte, musste er ziemlich viel Gl�ck haben. Dar�auf, ob Lasar mitspielte, hatten sie keinen Einfluss. Wenigstens hatte Timur einen Brief von Frajera bei sich, den sie immer und immer wieder daraufhin �berpr�ft hatten, ob er vielleicht irgendeine Warnung oder geheime Anweisungen enthielt. Sie hatten nichts gefunden. Frajera wusste allerdings nicht, dass Leo als zus�tzliche Sicherheitsvorkehrung darauf bestand, dass sie das Foto eines siebenj�hrigen Jungen mitnahmen. Das abge�bildete Kind war zwar nicht Lasars Sohn, aber wie sollte er das wissen? Vielleicht war der vermeintliche Anblick seines Kindes ja �berzeugender als eine blo�e Vorstellung von ihm. F�r den Fall, dass das fehlschlug, hatte Timur immer noch eine Flasche Chloroform dabei.
Der Laster bremste und hielt an. Vor ihnen lag eine einfache Holzbr�cke, die sich �ber eine tiefe Erdfalte w�lbte, einen Riss in der Landschaft.
Der Fahrer wedelte ahnungsvoll mit der Hand. �Im Fr�hsom�mer, wenn der Schnee auf den Bergen schmilzt, dann ist das da unten ein rei�ender Fluss.�
M�hsam beugte sich Timur auf seinem Sitz vor und sp�hte hinaus auf die wackelige Br�cke, deren jenseitiges Ende im Ne�bel verschwand.
Der Fahrer runzelte die Stirn. �Die Br�cke da ist von Str�f�lingen gebaut worden. Verlassen kann man sich auf die nicht.�
In ihrer Begleitung befand sich noch ein weiterer W�rter, der allerdings bis jetzt geschlafen hatte. Nach dem Gestank seiner Kleider zu urteilen hatte er sich letzte Nacht betrunken, so wie vermutlich jede Nacht. Der Fahrer r�ttelte ihn wach.
�Aufwachen, du nutzloser, fauler ... aufwachen!�
Der W�rter machte die Augen auf und sah blinzelnd auf die Br�cke. Er rieb sich die Augen, kletterte aus dem F�hrerhaus und sprang zu Boden. Dort r�lpste er laut und begann achtlos, den Laster einzuweisen.
Timur sch�ttelte den Kopf. �Warten Sie.�
Er stieg ebenfalls aus und streckte die Beine. Dann schloss er die T�r und ging zur Br�cke. Der Fahrer hatte mit seiner Besorgnis nicht �bertrieben. Der Steg war kaum breiter als der Laster, vielleicht drei�ig Zentimeter Platz blieben auf jeder Seite. Das reichte nicht, um die Reifen am Abrutschen zu hin�dern, wenn man nicht ganz gerade auf die Br�cke fuhr. Timur blickte nach unten und sah in etwa zehn Metern Tiefe den Fluss entlangrauschen. Von beiden Uferseiten her ragten tropfende, weiche Eiszungen nach innen. Sie hatten begonnen zu schmel�zen und n�hrten das schmale, rei�ende Wasser. In ein paar Wo�chen, wenn der Schnee schmolz, w�rde das hier ein Sturzbach sein.
Vorsichtig kroch der Laster voran. Froh, dass er sich vor der Verantwortung dr�cken konnte, z�ndete der verkaterte W�rter sich eine Zigarette an. Timur wies den Fahrer an, nach rechts zu lenken, denn der Laster kam vom Kurs ab. Es herrschte zwar schlechte Sicht, aber den Fahrer konnte er sehen, also musste der Fahrer auch ihn sehen k�nnen.
�Nach rechts!�, schrie Timur.
Obwohl der Lastwagen die Richtung nicht korrigiert hatte, beschleunigte er jetzt. Gleichzeitig gingen die Scheinwerfer an, und ein schwefelgelbes Licht blendete Timur. Das Fahrzeug kam direkt auf ihn zu.
Timur warf sich zur Seite, aber es war schon zu sp�t. Mitten in der Luft erwischte ihn die eiserne Sto�stange und zerquetsch�te ihn, dann warf sie ihn in die Schlucht. Kurz hing sein K�rper noch in der Luft und drehte sich zum schimmernden Himmel, dann fiel er hinab und drehte sich direkt �ber einer der Eiszun�gen nach unten. Mit dem Gesicht voraus schlug Timur auf. Das Eis und seine Knochen brachen gleichzeitig.
Wie ein Panzerknacker lag er da, ein Ohr am Eis. Er konnte sich nicht r�hren, weder seine Beine noch seine Finger. Auch den Kopf nicht. Schmerz sp�rte er nicht.
Von oben rief jemand: �Du Verr�ter! Wolltest wohl deine eigenen Leute ausspionieren! Aber wir halten zusammen. Wir gegen die!�
Timur konnte den Kopf nicht wenden, um hinaufzublicken. Aber er erkannte, dass es die Stimme des Fahrers war.
�Es wird keine Berichte geben, keine Beschuldigungen und damit auch keine Schuld. Nicht hier in Kolyma. Von mir aus in Moskau, aber hier nicht! Wir haben getan, was zu tun war. Wir haben getan, was man uns befohlen hat. Schei� der Hund auf Chruschtschows Rede! Schei� der Hund auf deinen Bericht. Wollen mal sehen, wie du ihn von da unten schreiben willst.�
Der verkaterte W�rter kicherte. Der Fahrer befahl ihm: �Klet�ter da runter!�
�Warum?�
�Sonst entdeckt irgendwer seine Leiche.�
�Wer denn? Ist doch niemand da.�
�Keine Ahnung. Einer von seiner Sorte, falls sie noch einen schicken.�
�Deswegen muss ich doch nicht da runter. Das Eis schmilzt bald.�
�Erst in drei Wochen, und wer wei�, wer bis dahin noch hier vorbeif�hrt. Jetzt kletter endlich da runter, und sto� ihn in den Fluss. Mach endlich mal was gr�ndlich.�
�Ich kann nicht schwimmen.�
�Er liegt auf dem Eis.�
�Und wenn es bricht?�
�Dann kriegst du nasse F��e. Runter da! Und bau keinen Mist.�
Timur starrte auf den Fluss, sein Atem ging unregelm��ig und rasselnd. Er h�rte, wie sein widerwilliger Scharfrichter jam�mernd wie ein Schulm�dchen das steile Ufer hinunterkraxelte. Wie unbeholfen der Tod doch daherkam.
Solange er sich erinnern konnte, war seine gr��te Angst immer gewesen, dass eines seiner Familienmitglieder einmal in einem Gulag sterben k�nnte. Um sich selbst hatte er sich nie Sorgen gemacht. Er war sich immer sicher gewesen, dass er da�mit schon zurechtkommen und irgendwie, egal wie, wieder nach Hause zur�ckfinden w�rde. Es fiel ihm schwer zu akzeptieren, dass dies die letzten Minuten seines Lebens waren. Timur dachte an seine Frau. Und an seine S�hne.
* * *
Der W�rter war w�tend, dass man ihn so herumkommandierte, und zwang sich, die Abbruchw�nde hinabzuklettern. Er rutschte dabei st�ndig aus. Wom�glich w�rde er sich noch den Kn�chel verstauchen, und au�erdem hatte er einen h�llischen Kater-Kopfschmerz. Endlich war er am Ufer angekommen. Vorsichtig trat er mit seinen schweren Stiefeln auf das Eis und probierte aus, ob es ihn trug. Dann kroch er, um sich leichter zu machen, wie ein K�fer auf allen vieren zum K�rper dieses Typen aus Moskau. Er stie� den Verr�ter mit seinem Gewehrlauf an. Der r�hrte sich nicht.
�Er ist tot�, rief er.
�Durchsuch seine Taschen!�
Der W�rter schob seine Hand in die Taschen des Mannes und fand einen Brief, etwas Geld und ein Messer - nichts Besonderes. �Da ist nichts.�
�Was ist mit seiner Uhr?�
Der W�rter zog sie dem anderen vom Handgelenk. �Die ist kaputt.�
�Schmei� ihn ins Wasser.�
Der W�rter setzte sich auf das Eis und dr�ckte den K�rper mit den Stiefeln in Richtung Fluss. Obwohl der Mann schwer war, glitt er ohne gr��ere Probleme �ber das glatte Eis. Als er am Rand lag, sah der W�rter, dass seine Augen offen waren. Sie blinzelten. Dieser Moskauer Verr�ter war also noch am Leben.
�Er lebt noch!�
�Aber nicht mehr lange. Schieb ihn rein. Mir wird kalt.� Der W�rter sah den Mann noch einmal blinzeln, dann stie� er ihn �ber den Rand des Eises in den Fluss. Es klatschte. Der K�rper schaukelte auf und ab, dann wurde er flussabw�rts weg�getragen, bis er nicht mehr zu sehen war. Hinein in die Wildnis, wo ihn kein Mensch mehr finden w�rde.
Der W�rter blieb auf dem Eis sitzen und untersuchte die Uhr. Sie war billig und au�erdem kaputt, also wertlos. Trotzdem brachte er es nicht �ber sich, sie ins Wasser zu werfen. Auch wenn das Glas zersprungen war, eigentlich war es doch eine Schande, sie wegzuschmei�en.
Moskau
Am selben Tag
�Wann kommt Soja nach Hause?�, fragte Elena. �Bald�, antwortete Raisa. �Wenn ich vom Einkaufen wieder da bin?�
�Nein, so bald noch nicht.�
�Wie bald denn?�
�Wenn Leo wieder nach Hause kommt, bringt er Soja mit. Wann genau das ist, kann ich auch nicht sagen, aber bald.�
�Versprichst du es?�
�Leo tut alles, was er kann. Wir m�ssen noch ein bisschen Geduld haben. Kannst du das f�r mich schaffen?�
�Wenn du mir versprichst, dass es Soja gut geht.�
Unm�glich h�tte Raisa dieses Versprechen nicht geben k�n�nen. �Das verspreche ich dir.�
Jeden Tag fragte Elena dasselbe. Und jedes Mal so, als h�tte sie diese Fragen noch nie gestellt. Eigentlich ging es ihr nicht um neue Informationen, sondern um den Ton, in dem die Antwort gegeben wurde. Jede Ver�nderung fiel ihr auf, und jeder kleinste Hinweis auf Ungeduld, Ver�rgerung oder gar Zweifel lie� sie in die verzweifelte Erstarrung zur�ckfallen, die sie unmittelbar nach Sojas Gefangennahme befallen hatte. Sie hatte ihr Zimmer nicht mehr verlassen wollen und so lange geweint, bis sie vor Ersch�pfung nicht einmal mehr weinen konnte. Leo hatte den �rztlichen Rat zur�ckgewiesen, ihr Beruhigungsmittel zu ver�abreichen, und stattdessen jeden Abend an ihrem Bett gesessen, Stunde um Stunde. Erst nach Raisas R�ckkehr aus dem Kran�kenhaus besserte sich Elenas Zustand allm�hlich. Am auff�l�ligsten hatte zu ihrer Genesung beigetragen, dass Leo Moskau verlassen hatte. Nicht etwa, weil sie ihn weghaben wollte, aber es war der erste konkrete Hinweis, dass etwas unternommen wurde, um Soja zur�ckzuholen. Elena fiel die Vorstellung leicht, dass Leo bei seiner R�ckkehr selbstverst�ndlich Soja dabeihaben w�rde. Sie musste gar nicht wissen, wo genau ihre Schwester war oder was sie da machte. Hauptsache, sie kam nach Hause, und zwar bald.
Leos Eltern warteten schon an der Wohnungst�r. Raisa, die von ihren Verletzungen immer noch geschw�cht war, war auf ihre Hilfe angewiesen. Die beiden waren in den abgeschirmten Ministeriumskomplex umgezogen, kochten und machten sau�ber und sorgten so f�r eine Atmosph�re h�uslicher Normalit�t. Kurz vor dem Aufbruch blieb Elena noch einmal stehen.
�Kannst du nicht mitkommen? Wir gehen auch ganz lang�sam.�
Raisa musste l�cheln.
�Ich f�hle mich noch nicht kr�ftig genug. Gib mir noch ein oder zwei Tage, dann gehen wir zusammen raus.�
�Zusammen mit Soja? K�nnen wir dann in den Zoo gehen? Das hat Soja Spa� gemacht. Sie hat zwar so getan, als ob nicht, aber eigentlich hat es ihr Spa� gemacht, das wei� ich genau. Es war aber ihr Geheimnis. Leo soll auch mit. Und Anna und Stepan.�
�Wir gehen alle zusammen.�
Gl�cklich l�chelnd schloss Elena die T�r. Es war das erste L�cheln, das Raisa seit Langem an ihr gesehen hatte.
Als sie allein war, legte Raisa sich in Sojas Bett. Sie war in das Zimmer der M�dchen gezogen, weil Elena nur einschlafen konnte, wenn sie dabei war. Die Sicherheitsvorkehrungen waren nicht nur in ihrem staatlichen Wohnkomplex verst�rkt worden, sondern �ber die ganze Stadt. Aktive und ehemalige Agenten hatten an den T�ren zus�tzliche Schl�sser und vor den Fenstern Gitter angebracht. Der Staat hatte zwar versucht, keine Infor�mationen nach drau�en dringen zu lassen, aber die Ger�chte�k�che kochte, daf�r waren es einfach zu viele Morde gewesen. Jeder, der einmal einen Freund oder Kollegen denunziert hatte, sah sich neuerdings ganz besonders vor. Genau wie von Frajera angek�ndigt, hatten die Profiteure der Angst jetzt selber Angst.
* * *
Raisa schlug die Augen auf. Sie wusste nicht, wie lange sie ge�schlafen hatte. Obwohl sie mit dem Gesicht zur Wand lag und nicht sehen konnte, was hinter ihr vorging, sp�rte sie doch ge�nau, dass da noch jemand im Zimmer war. Als sie sich auf den R�cken drehte und ihren Kopf hob, gewahrte sie im T�rrahmen die Silhouette eines Beamten - allerdings seltsam androgyn. Es kam ihr fast vor wie in einem Traum. Sie war weder �ngstlich noch �berrascht. Zum ersten Mal trafen sie aufeinander, und doch war da diese seltsame, unmittelbare Vertrautheit zwischen ihnen, so als w�rden sie sich schon lange kennen.
Frajera nahm die M�tze ab und entbl��te ihren kurz ge�schnittenen Haarschopf. Sie trat ins Zimmer.
�Du kannst gern schreien, wenn du willst�, sagte sie, �oder wir reden.�
Raisa setzte sich auf. �Ich werde nicht schreien.�
�Habe ich auch nicht erwartet.�
Diesen herablassenden Ton kannte Raisa zur Gen�ge. So redete normalerweise ein Mann mit seiner Frau, aber aus dem Munde einer Frau, die nur f�nf Jahre �lter war als sie selbst, h�rte es sich ungew�hnlich an.
Frajera bemerkte Raisas Ver�rgerung. �Sei nicht beleidigt. Ich musste doch sichergehen. Es war gar nicht so einfach, hier reinzukommen, um dich zu treffen, ich habe es oft versucht. Es w�re jammerschade, wenn mein Besuch so schnell wieder vorbei w�re.�
Frajera setzte sich auf das gegen�berliegende Bett, Elenas Bett, lehnte sich an die Wand und �berkreuzte die Beine. Dann kn�pfte sie sich die Uniformjacke auf.
�Geht es Soja gut?�, fragte Raisa.
�Es geht ihr gut.�
�Sie ist nicht verletzt?�
�Nein.�
Raisa hatte keinen Grund, der Frau zu glauben. Aber sie tat es.
Frajera nahm Elenas Kopfkissen und dr�ckte es langsam zu�sammen. �Das ist ein nettes Zimmer, voller netter Sachen, die ein nettes Elternpaar seinen netten T�chtern geschenkt hat. Wie viele nette Sachen braucht man als Ausgleich f�r einen ermor�deten Vater und eine ermordete Mutter? Wie weich m�ssen die Bettlaken sein, damit ein Kind so ein Verbrechen vergisst?�
�Wir haben nie versucht, uns ihre Liebe zu erkaufen.�
�Das ist schwer zu glauben, wenn man sich hier so umsieht.�
Nur mit M�he konnte Raisa ihre Wut im Zaum halten. �W�ren wir eine bessere Familie, wenn wir ihnen nichts gekauft h�tten?�
�Aber ihr seid doch gar keine Familie. Zugegeben, wenn je�mand die Wahrheit nicht kennt, k�nnte er euch f�r eine Familie halten. Ich frage mich, ob es das war, was Leo im Sinn hatte. Die Illusion der Normalit�t. Es w�rde zwar nicht echt sein, das wusste er schon, aber trotzdem konnte er sich an dem erfreuen, was andere Leute in ihm sahen. Leo glaubt gern an L�gen. Die M�dchen sind eigentlich nur Staffage, nett zurechtgemacht in h�bschen Kleidern, damit er Papa spielen kann.�
�Die M�dchen waren in einem Waisenhaus. Wir haben ihnen die Wahl gelassen.�
�Die Wahl zwischen Krankheit, Armut und Mangelern�h�rung oder einem Leben mit dem Mann, der ihre Eltern ermordet hat. Was f�r eine Wahl...�
Raisa z�gerte, sie konnte nicht widersprechen. �Weder er noch ich haben uns Illusionen dar�ber gemacht, dass die Adop�tion einfach werden w�rde.�
�Du hast mir nicht widersprochen, als ich sagte: der Mann, der ihre Eltern ermordet hat. Eigentlich hatte ich erwartet, dass du sagst: Leo hat sie nicht erschossen. Er hat versucht, sie zu retten. Er war ein guter Mensch unter lauter schlechten. Aber das glaubst du selbst nicht, stimmt's?�
�Er war MGB-Offizier. Er hat schreckliche Dinge getan.�
�Und trotzdem liebst du ihn?�
�Ich habe ihn nicht immer geliebt.�
�Aber jetzt schon?�
�Er hat sich ge�ndert.�
Frajera lehnte sich vor. �Warum kannst du mir nicht antwor�ten. Liebst du ihn? Ja oder nein?�
�Ja.�
Frajera lehnte sich wieder zur�ck und schien nachzudenken.
�Er ist nicht mehr der Mann, der Sie verhaftet hat�, f�gte Raisa hinzu. �Er ist nicht mehr derselbe.�
�Da hast du recht. Es gibt einen Unterschied. Fr�her wurde er von niemandem geliebt. Heute wird er geliebt. Von dir.�
Frajera kn�pfte ihren Hemdkragen auf und entbl��te den oberen Teil ihrer T�towierungen, die sich �ber ihren K�rper erstreckten wie die Symbole einer alten Hexenkunst. �Wie viel wei�t du �ber ihn, Raisa? Wie viel wei�t du �ber seine Vergan�genheit?�
�Er hat mir alles erz�hlt.�
�Es f�llt mir schwer, das zu glauben.�
�Er hat die Kirche Ihres Mannes infiltriert. Er hat Sie ver�raten, er hat Ihre Gemeinde verraten und auch Lasar.�
�Und schon allein f�r all diese Taten verdient er den Tod.
Aber hast du auch gewusst, dass er mir, bevor er seinen Verrat offenbarte, einen Heiratsantrag gemacht hat? Wie ein Liebender im Mondschein?�
Raisa senkte nickend den Kopf. �Er hat Sie gebeten, Lasar zu verlassen. Ich bin sicher, er dachte damals, Sie w�rden seine Frau werden. Er hat sich get�uscht. Er hat sich in vielen Dingen get�uscht, auch in der Liebe. Besonders in der Liebe.�
Frajera schien entt�uscht zu sein, dass sie Raisa nichts Neues verraten konnte. Mit merklich geringerem Enthusiasmus fuhr sie fort: �Er dachte, er w�rde mich retten. Aber in Wahrheit wollte er nur sich selbst retten. H�tte ich sein Angebot angenommen, dann h�tte er sich eingeredet, dass er im Grunde seines Herzens doch ein anst�ndiger Mensch war. So einfach wollte ich ihn nicht von seinen Verbrechen lossprechen. Damals habe ich ihm etwas geschworen. Ich habe ihm geschworen, dass niemand ihn je lie�ben w�rde. Und dessen war ich mir ganz sicher. Denn wie konnte jemand so ein Scheusal lieben? Wer konnte diesen Mann lieben?�
Frajeras starrer Blick verunsicherte Raisa. �Ich will das, was er getan hat, nicht verteidigen.�
�Das musst du aber. Ich habe euch beide zusammen gesehen. Ich habe euch beobachtet, euch bespitzelt, so wie Leo fr�her mich bespitzelt hat. Du machst ihn gl�cklich. Und was noch schlimmer ist, er macht dich gl�cklich. Deine Liebe zu ihm ist grenzenlos. Deshalb stelle ich sie auf die Probe. Deshalb bin ich hier. Ich will wissen, wie es m�glich ist, dass du mit ihm leben kannst. Mit ihm schl�fst. Zuerst dachte ich, du bist vielleicht dumm. Ein Offiziersliebchen, sch�n und ohne Anspr�che. Ich dachte, die Verbrechen, die Leo begangen hat, seien dir einfach egal.�
Frajera stand auf, kam her�ber und setzte sich auf Raisas Bett, als seien sie beste Freundinnen, die sich des Nachts ihre Geheimnisse erz�hlen. �Ich habe aber festgestellt, dass du dem Staat gegen�ber gar keine stumpfsinnige Ergebenheit an den Tag legst. Es gab sogar Ger�chte, du seist eine Dissidentin. Dadurch wurde mir deine Liebe zu Leo ein noch gr��eres R�tsel, eines, das ich unbedingt l�sen musste. Also war ich gezwungen, in deiner Vergangenheit zu w�hlen. Soll ich dir erz�hlen, was ich entdeckt habe?�
�Sie haben meine Tochter. Sie k�nnen alles tun, was Sie wol�len.�
�Deine Familie ist im Krieg umgekommen. Du selbst hast als Fl�chtling �berlebt.�
Raisa war wie gel�hmt, w�hrend Frajera ihre Informationen einsetzte wie ein Messer. �In diesen Jahren bist du vergewaltigt worden.�
Raisa �ffnete kurz den Mund, das war Best�tigung genug. Sie versuchte nicht, es abzuleugnen, denn sie sp�rte, dass da noch mehr kommen w�rde. �Wie haben Sie es herausgefunden?�
�Weil ich in dem Waisenhaus war, wo du dein Kind abgege�ben hast.�
Was Raisa f�hlte, war viel gewaltiger als blo�e �berraschung. Die intimsten Geheimnisse ihrer Vergangenheit, Geschehnisse, die sie sorgsam weggepackt und begraben hatte, wurden her�vorgeholt und ihr unter die Nase gehalten.
Frajera studierte Raisas Reaktion, dann griff sie nach ihrer Hand. �Wei� Leo das etwa nicht?�
Raisa hielt Frajeras hoffendem Blick stand. �Er wei� es.�
Wieder machte Frajera ein entt�uschtes Gesicht. �Das glaube ich dir nicht.�
�Es hat viele Jahre gedauert, bis ich es ihm erz�hlt habe, aber dann habe ich es doch getan. Er wei� es, Frajera. Er wei� alles. Er wei�, dass ich keine Kinder bekommen kann, und auch, wa�rum. Er wei�, dass ich das einzige Kind, dem ich je das Leben schenken konnte, weggegeben habe. Er kennt meine Schande. Und er kennt auch seine.�
Frajera ber�hrte Raisas Gesicht. �Hast du Leo deshalb ge�heiratet? Weil du sp�rtest, wie sehr er sich nach Liebe sehnte? Mit Freuden w�re er der Vater deines Kindes geworden. Du hast in ihm eine Chance gesehen. Du wolltest dein Kind aus dem Waisenhaus holen.�
�Nein. Ich wusste schon, dass mein Kind gestorben war, be�vor ich Leo traf. Sobald ich wieder gen�gend bei Kr�ften war, eine Bleibe gefunden hatte und wieder eine Mutter sein konnte, bin ich ins Waisenhaus gegangen. Sie sagten mir, das Kind sei an Typhus gestorben.�
�Und warum hast du Leo dann geheiratet? Was war der Grund, dass du Ja gesagt hast?�
�Da ich schon meinen Sohn weggegeben hatte, um selbst zu �berleben, war es im Vergleich dazu gar kein so gro�er Kompromiss mehr, einen Mann zu heiraten, den ich eher f�rchtete als liebte.�
Frajera beugte sich vor und k�sste Raisa. Dann lehnte sie sich zur�ck und sagte: �Ich kann deine Liebe f�r ihn schmecken. Und deinen Hass auf mich.�
�Sie haben mir mein Kind weggenommen.�
Frajera stand auf, ging zur T�r und kn�pfte dabei ihr Hemd zu.
�Es ist nicht dein Kind. Solange du Leo liebst, l�sst du mir keine Wahl. Deine Liebe ist der Grund daf�r, dass er mit sich leben kann. Er hat unsagbare Verbrechen begangen, und trotz�dem, trotz allem, wird er noch geliebt. Er hat gemordet und wird geliebt. Und zwar von einer Frau, die alle M�nner bewundern, die sogar ich bewundere. Deine Liebe spricht ihn los. Sie ist seine Erl�sung.�
Frajera machte ihre Jacke zu, setzte ihre M�tze auf und ver�barg sich wieder hinter ihrer Verkleidung. �Ich habe mit Soja gesprochen, bevor ich zu dir gekommen bin. Ich wollte wissen, wie das Leben in dieser Scheinfamilie so ist. Sie ist intelligent, kaputt und vollkommen durcheinander. Sie gef�llt mir sehr. Sie hat mir erz�hlt, dass sie dir ein Angebot gemacht hat. Wenn du Leo verl�sst, wird sie wieder gl�cklich.�
Raisa war verwirrt. Soja war doch eine Geisel. Und dennoch hatte sie sich Frajera anvertraut, hatte mit ihr �ber Raisa gespro�chen, hatte ihre Feindin mit genau den Familiengeheimnissen versorgt, die diese brauchte.
Frajera fuhr fort: �Es �berrascht mich, dass du so grausam sein konntest, ihre Bitte ausgerechnet mit einer Liebeserkl�rung f�r Leo abzuschlagen. Das M�dchen ist so gest�rt, dass sie, w�hrend Leo schl�ft, ein Messer aus eurer K�che holt und damit �ber seinem Bett steht und sich vorstellt, ihm die Kehle durchzuschneiden.�
Raisa lie� alle Deckung fallen. Nach mehreren Anl�ufen hatte ihre Feindin endlich einen Schwachpunkt gefunden - eine L�ge, ein Geheimnis.
Frajera l�chelte. �Wie es scheint, gibt es doch etwas, was Leo dir nicht erz�hlt hat. Es ist wahr. Soja hat des �fteren mit einem Messer in der Hand neben seinem Bett gestanden. Leo hat sie erwischt. Er wusste, wie psychisch angeschlagen sie war. Und das hat er dir etwa nicht gesagt?�
Von einem Moment auf den anderen verstand Raisa die selt�samen Vorg�nge von damals. Als sie Leo gr�belnd am K�chen�tisch vorgefunden hatte, da hatte er sich gar nicht um Nikolai Gedanken gemacht, sondern um Soja. Sie hatte ihn gefragt, was los sei, aber er hatte ihr nichts gesagt. Er hatte sie angelogen.
Jetzt hatte Frajera Oberwasser. �Merk dir diese Geschichte, und denk gut dar�ber nach, was ich dir jetzt sage. Ich werde Sojas Angebot wiederholen. Ich werde Soja wohlbehalten in deine Obhut zur�ckgeben. Im Gegenzug d�rfen du und die M�dchen Leo nie mehr wiedersehen. Entweder kannst du die M�dchen lieben oder Leo, so wie es eigentlich ja auch schon die ganzen letzten drei Jahre war. Und jetzt, Raisa, musst du dich entscheiden.�
Kolyma
Gulag 57
Am selben Tag
Leo konnte kaum stehen, geschweige denn hacken. Er arbei�tete in einem primitiven Grabensystem drei Meter unter der Bodenkrume, und seine Spitzhacke schlug vergebens auf den Permafrost ein. Hier und da gab es gro�e, schwelende Feuer, wie Scheiterhaufen f�r gefallene Helden, die langsam abbrannten und den gefrorenen Boden auftauen sollten. Aber in Leos N�he war keines, der Anf�hrer seiner Arbeitsbrigade hatte ihn bewusst in die entlegenste und k�lteste Ecke der Goldminen ein�geteilt, wo die noch am wenigsten ausgehobenen Gr�ben lagen. Selbst wenn er im Vollbesitz seiner Kr�fte gewesen w�re, h�tte er unm�glich seine Norm erf�llen k�nnen, das Minimum an Gestein, das er losschlagen musste, damit er die �bliche Essens�ration bekam.
Vor Ersch�pfung zitterten seine Beine, sie konnten sein Ge�wicht nicht mehr tragen. Seine Knie waren geschwollen und blutunterlaufen, �ber den Kniescheiben hatten sich w�ssrige Blasen gebildet. In der vergangenen Nacht hatte man Leo auf die Knie gezwungen, ihm die H�nde auf den R�cken gebunden und dann die Hand- und Fu�gelenke aneinandergefesselt, sodass sein ganzes Gewicht auf den Kniescheiben ruhte. Damit er nicht umfiel, hatte man ihn an der Leiter eines Stockbettes festge�bunden. Stunde um Stunde hatte er da gekauert, ohne auch nur einmal das Gewicht verlagern zu k�nnen. Die Haut hatte sich angespannt, die Knochen rieben auf dem Holzboden und scheu�erten seine Haut wund. Sobald er sich bewegte, schrie er auf. Also knebelte man ihn, damit die anderen Gefangenen schlafen konnten. Leo hockte derweil weiter auf Knien und biss auf einen dreckigen Lumpen, mit dem die H�ftlinge absichtlich zuvor noch ihre offenen Geschw�re abgewischt hatten. Von �berall h�rte man Schnarchen, nur einer war noch wach - Lasar. Er passte die ganze Nacht auf Leo auf, nahm ihm mit v�terlicher F�rsorge den Knebel ab, wenn er sich �bergeben musste, und band ihn danach wieder fest, wie ein Vater, der einen kranken Sohn pflegte - einen Sohn, dem man eine Lektion erteilen musste.
Im Morgengrauen kam Leo prustend wieder zu Bewusstsein, als man ihm eiskaltes Wasser �ber den Kopf goss. Als man ihm die Fesseln und den Knebel abnahm, sackte er in sich zusammen. Er sp�rte seine F��e nicht mehr, so als h�tte man ihm die Beine unterhalb der Knie amputiert. Erst nach mehreren qu�lenden Minuten konnte er sich humpelnd hochhieven - es kam ihm vor, als sei er um hundert Jahre gealtert. Das Fr�hst�ck lie�en ihm seine Mitgefangenen, er durfte sich an den Tisch setzen und mit zitternden H�nden seine Ration zu sich nehmen. Sie wollten, dass er am Leben blieb. Sie wollten, dass er litt. Wie einer, der in der W�ste von einer Oase fantasiert, konzentrierte sich Leo nur noch auf das flirrende Bild von Timur. Da es unm�glich war, in der Nacht von Magadan herzufahren, konnte sein Freund und Retter eigentlich nur innerhalb einer gewissen Zeitspanne am fr�hen Abend eintreffen.
Als Leo mit vor Ersch�pfung zitternden Armen seine Hacke hob, knickten ihm die Beine weg. Er fiel nach vorne, direkt auf seine geschwollenen Knie. Die w�ssrigen Beulen platzten auf wie reife J�nglingspickel. Leo riss den Mund auf, ein lautloser Schrei. Um die Knie zu entlasten, lie� er sich unten im Graben zur Seite fallen, dabei schossen ihm Tr�nen in die Augen. Die Ersch�pfung hatte jeden Selbsterhaltungstrieb erstickt. Einen Moment lang w�re er zufrieden gewesen, wenn er einfach nur die Augen h�tte schlie�en und einschlafen k�nnen. Bei diesen Temperaturen w�re er nicht mehr aufgewacht.
Dann dachte er an Soja, an Raisa und Elena - seine Familie. Er setzte sich auf und presste die H�nde auf den Boden. Lang�sam dr�ckte er sich hoch. Kaum war er wieder auf den Beinen, packte ihn jemand und zischte ihm ins Ohr: �Keine Ruhepau�sen, Tschekist!�
Keine Ruhepausen und keine Gnade. Das war Lasars Urteil, und es wurde mit aller Konsequenz umgesetzt. Die Stimme, die in sein Ohr gefl�stert hatte, geh�rte keinem Wachmann, son�dern einem H�ftling, dem Anf�hrer der Brigade. Er wurde von heftigem pers�nlichem Hass angetrieben und gestattete Leo keine Minute, in der er nicht von Schmerz oder Hunger oder Er�sch�pfung geplagt wurde oder von allem zusammen. Verhaftet hatte Leo weder diesen Mann noch jemanden aus seiner Familie, er kannte nicht einmal seinen Namen. Aber das spielte keine Rolle. Er war f�r jeden Gefangenen zu einer Art Maskottchen geworden, zu einem Botschafter des Unrechts. Tschekist war sein neuer Name, seine neue Identit�t. Und von dieser Warte aus hatte durchaus jeder seinen ganz pers�nlichen Grund, ihn zu hassen.
Eine Glocke wurde geschlagen. Die Werkzeuge wurde fallen gelassen. Leo hatte seinen ersten Tag in der Mine �berstanden, eine beinahe harmlose Tortur verglichen mit dem, was ihn heute Nacht erwarten w�rde - seine zweite, noch nicht n�her beschrie�bene Folter. Leo zog sich die Rampe hoch und aus dem Graben, dann folgte er den anderen zur�ck. Das Einzige, was ihn noch auf den Beinen hielt, war die Aussicht, dass Timur ankommen w�rde.
Als er sich dem Lager n�herte, war das fahle, von einer tief liegenden Wolkendecke abgeschw�chte Tageslicht beinahe voll�st�ndig verschwunden. In der einbrechenden Dunkelheit sah er auf dem Hochplateau die Scheinwerfer eines Lastwagens n�her kommen. Zwei F�uste gelblichen Lichts, die aus der Ferne aussahen wie Gl�hw�rmchen. Wenn seine Knie nicht gewesen w�ren, h�tte Leo sich wom�glich vor einem gn�digen Gott in den Staub geworfen und vor Erleichterung geweint. Doch die Wachen, die ihn nur noch beschimpften, wenn ihr reformier�ter, gel�uterter Kommandant au�er H�rweite war, stie�en und knufften ihn vorw�rts und trieben ihn zur�ck in die Zone. Im�mer wieder warf Leo einen Blick �ber die Schulter zu dem n�her kommenden Laster. Mit zitternden Lippen und au�erstande, seine Gef�hle unter Kontrolle zu halten, kehrte er in die Baracke zur�ck. Egal, welche Folter sie sich f�r ihn �berlegt hatten, er w�rde gerettet werden. Er stellte sich ans Fenster und dr�ckte wie ein Bettlerkind vor einem S��igkeitenladen Augen und Nase an die Scheibe. So sah er zu, wie der Lastwagen ins Lager ein�fuhr. Erst stieg ein W�rter aus dem F�hrerhaus, dann der Fahrer. Wartend krallte Leo seine Fingern�gel in den Fensterrahmen. Bestimmt war Timur dabei, vielleicht sa� er nur hinten. Minuten verstrichen, aber niemand stieg mehr aus. Leo starrte weiter hin�aus, und allm�hlich siegte die Verzweiflung �ber die Vernunft, bis er sich schlie�lich eingestehen musste, dass er den Laster anstieren konnte, solange er wollte. Niemand war an Bord.
Timur war nicht gekommen.
Leo konnte nichts essen, sein Hunger hatte einer so gro�en Ent�t�uschung Platz gemacht, dass sie sogar seinen Bauch f�llte. Lange nachdem die anderen H�ftlinge die Essensbaracke ver�lassen hatten, sa� er immer noch am Tisch, bis die Wachen ihm w�tend befahlen zu verschwinden. Von denen bestraft zu werden, war immer noch besser als von seinen Mitgefangenen. Lieber die Nacht in einer eiskalten Isolationszelle verbringen, dachte er, als eine erneute Folter �ber sich ergehen zu lassen. Die Wachleute wurden immerhin von dem bekehrten Kommandan�ten Schores befehligt. Hatte der nicht etwas von Gerechtigkeit erz�hlt und von M�glichkeiten? Als die W�rter Leo nun zur T�r stie�en, holte er in einem bewussten Akt der Aggression aus und schlug zu. Der Schlag war langsam und schwach, und sie hielten seine Faust fest. Dann knallte ihm einer den Gewehrkolben ins Gesicht.
An den Armen wurde er in den Schnee gezerrt, an den Beinen schleiften sie ihn durch den Schnee. In die Isolationszelle warf man ihn jedoch nicht, sondern bef�rderte ihn in die Baracke. In der Mitte des Raumes lie�en sie ihn liegen. Er h�rte, wie die W�rter gingen. Das Erste, was seine Augen wahrnahmen, waren die Holzbalken. Seine Nase und Lippen waren blutig. Lasar blickte auf ihn herab.
Sie zogen ihn nackt aus, legten ihm nasse Handt�cher um Brust und Arme und verknoteten sie am R�cken, sodass er sich nicht mehr r�hren konnte. Leo war verdutzt. Das tat ja gar nicht weh. Obwohl er offiziell nie als Verh�rspezialist gearbeitet hatte, waren ihm doch all deren Techniken aus erster Hand vertraut. Manchmal war er gezwungen gewesen zuzusehen. Diese Me�thode war ihm allerdings neu. Er wurde auf den R�cken gedreht und liegen gelassen. Dann setzten die H�ftlinge einfach ihre Abendbesch�ftigung fort. Sein Bauch war von den Handt�chern kalt und nass, aber Leo war zu ersch�pft, um sich darum zu k�mmern. Er nutzte die Gelegenheit und schloss die Augen.
Einerseits erwachte er vom L�rm der zu Bett gehenden Ge�fangenen, vor allem aber wegen der Schmerzen in seiner Brust. Langsam fing er an, diese Folter zu begreifen. Je trockener die Handt�cher wurden, desto mehr zogen sie sich zusammen, schn�rten ihm die Luft ab und pressten ihm die Rippen zusam�men. Das Subtile an dieser Bestrafung lag in der Gewissheit, dass die Schmerzen immer schlimmer werden w�rden. W�hrend die anderen M�nner schlafen gingen, nahm Lasar wieder den Platz auf einem Stuhl neben Leo ein.
Der Rothaarige, der Lasars Stimme war, kam herbei. �Brauchst du mich?�
Lasar sch�ttelte den Kopf und schickte ihn zu Bett. Wie ein eingeschnappter Liebhaber funkelte der Mann Leo an, dann zog er sich wie befohlen zur�ck.
Als alle Gefangen schliefen, war der Schmerz schon so heftig, dass Leo um Gnade gefleht h�tte, wenn er nicht wieder gekne�belt gewesen w�re. Als er sah, wie Leos Gesicht sich langsam verzerrte, so als w�rden ihm Schrauben in den Kopf gedreht, kniete Lasar sich neben ihn hin wie zum Gebet und beugte sich so nahe an Leos Ohr, dass seine gespitzten Lippen beim Sprechen Leos Ohrl�ppchen ber�hrten. Seine Stimme war so leise wie herbstliches Bl�ttergeraschel. �Es ist schwer ... einen anderen leiden zu sehen ... egal, was er getan hat. Es ver�ndert einen ... egal, welches Recht man auf Rache hat.�
Lasar hielt inne, weil er sich von der Anstrengung dieser Wor�te erst erholen musste. Seine Schmerzen hatten sich nie gebessert. Er lebte mit ihnen wie mit einem Gef�hrten und wusste, nie w�r�den sie geringer werden, keinen Moment w�rde er ohne sie sein. �Ich habe die anderen gefragt ... ob es irgendeinen Tschekisten gab ... der ihnen geholfen hat ... Irgendeinen guten Menschen unter ihnen. Alle ... sagten ... Nein.
Er unterbrach sich erneut und wischte sich den Schwei� von den Brauen, dann legte er die Lippen wieder an Leos Ohr. �Ma�xim, der Staat hat ... dich ausgesucht, um mich zu verraten ... weil du ein Herz hast ... einen ohne Herz h�tte ich sofort er�kannt ... Das ist deine Trag�die ... Ich kann dich nicht verscho�nen ... Es gibt so wenig Gerechtigkeit ... Man muss nehmen, was man kriegt.�
Aus Schmerz wurde Delirium, so intensiv, dass es beinahe in Euphorie umschlug. Leo nahm die Baracke nicht mehr wahr, die Bretterw�nde verschwammen und lie�en ihn auf einer ver�eisten, wei�en Hochebene zur�ck. Es war nicht die da drau�en, sondern eine wei�ere, weichere, weder Furcht einfl��end, noch kalt. Dann fiel Wasser aus dem Himmel, ein eiskalter Regen di�rekt �ber ihm. Leo blinzelte und sch�ttelte den Kopf. Er lag auf dem Barackenboden. Sie hatten ihn mit Wasser �bergossen. Der Knebel war weg, die Handt�cher aufgeknotet. Trotzdem konnte Leo nur ganz vorsichtig Luft holen. Seine Lungen hatten sich schon an die Beengung gew�hnt. Er setzte sich auf und atmete sto�weise. Es war Morgen. Er hatte wieder eine Nacht �ber�lebt.
Die Gefangenen, die auf dem Weg zum Fr�hst�ck an ihm vorbeitrotteten, schnaubten ihn ver�chtlich an. Leos Hecheln wurde langsamer, seine Atmung normalisierte sich allm�hlich wieder. Er blieb allein in der Baracke zur�ck und �berlegte, ob er sich schon jemals in seinem Leben so verlassen gef�hlt hatte. Um aufstehen zu k�nnen, musste er sich an einem Bettrahmen abst�tzen. Ein w�tender W�rter schrie ihn an, weil er tr�delte. Mit gesenktem Haupt schlurfte Leo los, er konnte die F��e nicht heben, sondern schob nur einen vor den anderen wie ein unge��bter Eisl�ufer.
Als er in die Verwaltungszone kam, blieb Leo stehen. Einen zweiten Arbeitstag w�rde er nicht mehr �berstehen, und erst recht keine dritte Nacht. In seinem Kopf schwirrten die Bilder von all den Foltermethoden umher, die er miterlebt hatte. Was w�rde als N�chstes kommen? Die Illusion, dass Timur kom�men w�rde, reichte nicht, um ihn noch aufrecht zu halten. Ihr Plan war schiefgegangen. Ein W�rter in der N�he rief: �Los, weiter!�
Leo musste sich etwas einfallen lassen. Er war auf sich allein gestellt. Er richtete den Blick auf das B�ro des Lagerkomman�danten und schrie: �Kommandant!�
Das war ein Regelversto�. Die Wachen kamen auf ihn zu�gerannt. Von der Essensbaracke sah Lasar zu. Leo musste so schnell wie m�glich die Aufmerksamkeit des Kommandan�ten auf sich ziehen. �Kommandant! Ich kenne die Rede von Chruschtschow!�
Bevor er weiterschreien konnte, hatten ihn die Wachen er�reicht, und einer schlug ihm auf den R�cken. Ein zweiter Schlag traf ihn in den Bauch. Er kr�mmte sich zusammen und duckte sich, w�hrend sie weiter auf ihn einpr�gelten. �Aufh�ren!�
Die Wachen erstarrten. Leo rappelte sich auf und warf einen hastigen Blick auf die Verwaltungsbaracke. Oben auf der Treppe stand Kommandant Sinjawski. �Bringt ihn zu mir.�
Am selben Tag
Die W�rter zerrten Leo die Treppe hoch und ins B�ro. Der Kom�mandant hatte sich in eine Ecke zur�ckgezogen, wo ein klo�biger, dickb�uchiger Ofen stand. Der mit Holzbalken verschalte Raum war mit Karten der Region und gerahmten Fotos aus�staffiert, die den Kommandanten mit Str�flingen bei der Arbeit zeigten. Der l�chelnde Sinjawski mit teilnahmslos blickenden Gefangenen, so als sei er in der Gesellschaft von Freunden. Um die Fotorahmen herum sah man Schatten, die verrieten, dass man erst vor Kurzem und offenbar in aller Eile andere Fotos, die sich von diesen hier in Form und Gr��e unterschieden, ab�genommen und durch neue ersetzt hatte.
In abgerissenen Kleidern und mit zerschundenem K�rper stand Leo gebeugt da und zitterte wie ein besprisornik, ein zer�lumptes Stra�enkind.
Sinjawski schickte die Wachen weg. �Ich will allein mit dem Gefangenen sprechen.�
Die W�rter warfen einander einen Blick zu. Einer bemerkte: �Dieser Mann hat uns letzte Nacht angegriffen. Wir sollten lie�ber bei Ihnen bleiben.�
Sinjawski sch�ttelte den Kopf. �Unsinn.�
�Genosse, er ist zu gef�hrlich.�
Angesichts des Rangunterschiedes war der drohende Unter�ton der Wachleute eigentlich ungeh�rig. Offensichtlich wurde hier die Autorit�t des Kommandanten infrage gestellt.
Sinjawski wandte sich an Leo: �Du wirst mich doch nicht angreifen, oder?�
Leo sch�ttelte den Kopf. �Nein, Genosse.�
�Nein, Genosse! Er ist sogar h�flich. Und jetzt raus mit euch. Ich bestehe darauf.�
Z�gernd zogen sich die Wachen zur�ck, machten aber keine Anstalten, ihre Verachtung f�r seine Milde zu verbergen.
Als sie weg waren, ging Sinjawski zur T�r und sah nach, ob die Wachen nicht drau�en warteten. Er h�rte auf das Knirschen ihrer Schritte, w�hrend sie die Treppe hinabstiegen. Als er sicher war, dass sie allein waren, schloss er die T�r ab und wandte sich zu Leo um.
�Setzen Sie sich bitte.�
Leo setzte sich in einen vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl. Hier drinnen war es warm, es roch nach Holzscheiten. Leo woll�te einfach nur schlafen.
Der Kommandant l�chelte ihn an. �Ihnen ist bestimmt kalt.�
Ohne die Antwort abzuwarten, ging Sinjawski hin�ber zum Ofen, auf dem eine kleine gusseiserne Pfanne stand. Er nahm sie am Stil und goss etwas von einer bernsteinfarbenen Fl�ssigkeit in eine kleine Blechtasse, die genauso aussah wie die mit dem Pinienextrakt. Er umfasste die Tasse und reichte sie Leo.
�Vorsichtig.�
Leo warf einen pr�fenden Blick auf den dampfenden In�halt. Dann f�hrte er die Tasse an seine Lippen. Das Getr�nk schmeckte nach fl�ssigem Honig und Wildblumen. Noch bevor er es herunterschlucken konnte, hatte sein Gaumen den war�men Zucker und den Alkohol aufgesogen wie ein vollkommen ausgetrocknetes Flussbett den ersten Regen. Blut schoss ihm in den Kopf, seine Wangen gl�hten. F�r einen Moment begann sich das Zimmer zu drehen, doch schon bald verwandelte sich das Gef�hl wie ein Schlaflied in eine mild berauschende Sanftheit, als habe Leo einen Gl�cksnektar getrunken.
Sinjawski setzte sich ihm gegen�ber hin, schloss eine Schub�lade auf und holte eine Pappschachtel heraus. Er legte sie zwi�schen ihnen beiden auf den Schreibtisch. Auf den Deckel war etwas aufgestempelt.
nicht f�r pressezwecke
Der Kommandant tippte auf den Deckel. �Sie wissen, was da drin ist?�
Leo nickte. �Ja.�
�Sie sind ein Spion, stimmt's?�
Leo verfluchte sich, dass er das Getr�nk zu sich genommen hat�te. Halb verhungerte Verd�chtige betrunken zu machen, um ih�nen die Zunge zu l�sen, war eine �bliche Masche. Er brauchte seinen Verstand. Auf das Wohlwollen dieses Mannes zu vertrau�en war das D�mmste, was er machen konnte. Als er hereinge�kommen war, hatte er eigentlich seine wahre Identit�t preis�geben und dies mit seiner genauen Kenntnis der Karriere des Kommandanten und der Nennung seiner Vorgesetzten belegen wollen. Die Anschuldigung hatte ihn kalt erwischt.
In sein Schweigen hinein redete der Kommandant weiter. �Bitte versuchen Sie nicht zu l�gen. Ich kenne die Wahrheit. Sie sind hier, um �ber den Fortgang der Reformen nach Hause zu berichten. Genau wie Ihr Freund.�
Leos Herz machte einen Satz. �Mein Freund?�
�Ich selbst unterst�tze die Ver�nderungen zwar voll und ganz, viele hier in der Gegend aber nicht.
�Sie wissen etwas �ber meinen Freund?�
�Die suchen nach Ihnen. Die zwei Beamten, die gestern Abend angekommen sind. Sie sind �berzeugt, dass mehr als nur ein Mann gekommen ist, um sie auszuspionieren.�
�Was ist aus ihm geworden?�
�Aus Ihrem Freund? Sie haben ihn umgebracht.�
Leos Griff um die Blechtasse erschlaffte, fast h�tte er sie fallen lassen. Er sackte zusammen, seine Wirbels�ule war wie Gummi. Er lie� den Kopf sinken und starrte zu Boden.
Der Kommandant fuhr fort. �Uns werden sie auch t�ten, f�rchte ich. Ihr Geschrei von der Geheimen Rede hat Ihre wahre Identit�t verraten. Sie werden nicht zulassen, dass Sie wieder ge�hen. Wie Sie selbst erlebt haben, war es schon schwierig genug, �berhaupt einen Augenblick mit Ihnen allein zu sein.�
Leo sch�ttelte ungl�ubig den Kopf. Timur und er hatten schon die haarstr�ubendsten Situationen �berlebt. Er konnte einfach nicht tot sein. Da musste ein Irrtum vorliegen. Ruckartig setzte er sich auf. �Er ist nicht tot. Sie meinen einen anderen.�
�Der Mann, von dem ich rede, ist an Bord der Stary Bol�schewik angekommen. Er sollte hier den Posten als stellvertre�tender Kommandant antreten. Das war nat�rlich nur Tarnung. Eigentlich wurde er geschickt, um einen Bericht zu schreiben. Er hat es selbst zugegeben. Er behauptete, uns beurteilen zu sollen. Deshalb haben sie ihn umgebracht. Die lassen sich nicht be�urteilen. Niemals.�
Offensichtlich hatte Timur diese Geschichte erfunden, um zum Lager zu gelangen. Um ihm, Leo, beizuspringen. Er h�tte Timur nie um Hilfe bitten d�rfen. Aber er war so damit besch�f�tigt gewesen, Soja zu retten, dass er an das Risiko, das Timur einging, kaum einen Gedanken verschwendet hatte. Leo war so �berzeugt von ihrem Plan und ihren F�higkeiten gewesen, dass er die Gefahr nicht gesehen hatte. Jetzt hatte er eine gl�ckliche Familie zerst�rt, nur um eine ungl�ckliche wieder zusammen�zubringen, hatte etwas Wunderbares kaputtgemacht, nur um Sojas Liebe zu erringen. Sein Freund Timur, sein einziger Freund, dieser anst�ndige und loyale Mann, den seine Frau geliebt und seine S�hne verg�ttert hatten, und den Leo so sehr in sein Herz geschlossen hatte, war tot. Als ihm das endg�ltig klar wurde, fing Leo an zu weinen.
Als er schlie�lich wieder aufsah, stellte er fest, dass auch Schores Sinjawski weinte. Ungl�ubig starrte er den alten Mann mit seinen roten Augen und den tr�nen�berstr�mten Lederwangen an. Wie konnte ein Mensch, der unschuldige Menschenleben f�r eine nutzlose Eisenbahnstrecke geopfert hatte, beim Tod eines einzelnen Menschen weinen, den er noch nicht einmal gekannt hatte und f�r dessen Tod er auch nicht verantwortlich war? Viel�leicht weinte er jetzt um alle Toten, die er fr�her nie beweint hat�te, um jedes Opfer, das im Schnee, in der gl�henden Sonne oder im Schlamm sein Leben ausgehaucht hatte, w�hrend er zufrieden eine Zigarette rauchte, weil er das Soll erf�llt hatte. Dann fiel ihm wieder Lasars Verachtung daf�r ein, und er wischte sich die Augen. Lasar hatte recht. Tr�nen waren wertlos. Leo schuldete Timur mehr. Wenn Leo nicht �berlebte, w�rden Timurs Frau und seine S�hne noch nicht einmal erfahren, wie er gestorben war. Und Leo w�rde ihnen nie sagen k�nnen, wie leid es ihm tat.
Die Wachen wollten unbedingt verhindern, dass er nach Mos�kau zur�ckkam. Sie verteidigten ihr Lehen. Leo war ein Spion und auf beiden Seiten verhasst - bei den Gefangenen ebenso wie bei den Wachen. Und er war allein, wenn man vom Komman�danten absah, dessen Sinne jedoch von seiner Schuld getr�bt zu sein schienen. Der Mann war als Verb�ndeter bestenfalls ein unsicherer Kandidat und hatte das Lager nicht mehr unter Kontrolle. Wie W�lfe strichen die Wachen um die Verwaltungs�baracke und warteten, dass Leo herauskam.
Verzweifelt nach einem Ausweg suchend, blickte Leo sich im Raum um. Auf dem Schreibtisch fiel ihm eine Mikrofonanlage ins Auge, die mit Lautsprechern �berall in der Zone verbunden war. �K�nnen Sie damit das ganze Lager erreichen?�
�Ja.�
Leo stand auf, nahm die Blechtasse und goss sie randvoll mit dem warmen, bernsteinfarbenen Alkohol. Er reichte sie dem Kommandanten. �Trinken Sie mit mir.�
�Aber ...�
�Trinken wir im Ged�chtnis an meinen Freund.�
Der Kommandant trank in einem Zug aus. Leo f�llte die Tas�se erneut. �Trinken wir auf alle, die hier gestorben sind.�
Der Kommandant nickte und kippte die Tasse hinunter. Leo goss nach.
�Und auf all die unschuldigen Toten im ganzen Land.� Der Kommandant kippte sich den letzten Schnaps hinter die Binde und wischte sich die Lippen ab.
Leo deutete auf das Mikrofon. �Schalten Sie es ein.�
Am selben Tag
In der Essensbaracke dachte Lasar dar�ber nach, warum Leo wohl beschlossen hatte, sich der Gnade des Kommandanten zu unterwerfen. Nachdem Schores Sinjawski seit Neuestem sein Mitleid entdeckt hatte, w�rde er Leo eventuell sogar besch�t�zen. Die anderen H�ftlinge sch�umten vor Wut, dass man sie nun vielleicht der Gelegenheit berauben w�rde, Gerechtigkeit walten zu lassen. Sie hatten bereits eine dritte, vierte, f�nfte Fol�ter geplant, alle warteten begierig auf den Abend, wo Leo das erdulden w�rde, was sie erduldet hatten, wo sie in seinem Ge�sicht den Schmerz sehen w�rden, den sie selbst erlitten hatten, wo er um Gnade winseln und sie ihm antworten w�rden, wo�von sie schon so lange tr�umten:
Nein!
Was Leo ihm �ber seine Frau Anisja erz�hlt hatte, nagte an La�sar. Aber wie ihm die wory in seiner Baracke versichert hatten, war es ausgeschlossen, dass eine Frau, die fr�her Kirchenlieder gesungen, geputzt und gekocht hatte, zur Anf�hrerin einer eige�nen Bande h�tte werden k�nnen. Leo war ein L�gner. Diesmal w�rde Lasar sich nicht an der Nase herumf�hren lassen.
Aus den Lautsprechern kam pl�tzlich Rauschen. Es war zwar nur ein Hintergrundger�usch, aber die t�gliche Routine im Lager war sonst so starr, dass Lasar angesichts dieses au�er�gew�hnlichen Vorfalls unwillk�rlich zusammenzuckte. Er stand auf, durchquerte die Reihen der fr�hst�ckenden H�ftlinge und �ffnete die T�r.
Die Lautsprecher waren auf hohen Holzpf�hlen befestigt, jeweils einer vor jeder H�ftlingsbaracke und ein weiterer in der Verwaltungszone vor der K�chen- und Essensbaracke. Sie wur�den nur selten benutzt. Eine Handvoll neugieriger Gefangener versammelte sich hinter Lasar, unter ihnen auch Georgi, der Lasars Stimme war und kaum von seiner Seite wich. Ihre Augen fixierten den schlappen, windschiefen Lautsprecher. Ein Kabel wand sich um den Pfahl bis hinunter auf die gefrorene Erde, von dort f�hrte es zum B�ro des Kommandanten. Wieder ert�nte Rauschen, aus dem heraus sich ged�mpft die blecherne Stimme des Kommandanten meldete. Er wirkte unsicher.
�Sonderbericht ...� Der Kommandant unterbrach, dann setzte er mit lauterer Stimme erneut an. �Sonderbericht des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Ge�schlossene Sitzung. 25. Februar 1956. Von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Erster Sekret�r.
Lasar lief die Treppe hinunter und weiter bis zum Lautspre�cher. Die Wachen hatten ihre T�tigkeiten unterbrochen. Nach einer Schrecksekunde fingen sie an, miteinander zu tuscheln, offenbar waren sie �ber das Vorhaben des Kommandanten nicht informiert. Ein Gr�ppchen trennte sich von den anderen und marschierte auf die Verwaltungsbaracke zu. Derweil las der Kommandant weiter vor, und je mehr er las, desto unruhiger wurden die Wachen.
�Stalin ist zu seinen Lebzeiten nicht nur mit brutaler Gewalt gegen jede Opposition vorgegangen, sondern auch gegen alles, was den Vorstellungen seines launischen und despotischen We�sens zuwiderlief.�
Hastig erklommen die Wachen die Treppe, h�mmerten gegen die T�r und riefen besorgt nach dem Kommandanten, um her�auszubekommen, ob er unter Zwang handele. �Hat man Sie als Geisel genommen?�
Die T�r blieb verschlossen. Lasar kam es nicht so vor, als handele er unter Zwang.
Die Stimme wurde immer theatralischer, so als wolle sie sich diese bemerkenswerten Worte selbst zu eigen machen.
�Von Stalin stammt der Begriff des Staatsfeindes. Dieser Begriff lie� es zu, dass - gegen jegliche revolution�re Rechts�auffassung - grausamste Repressionen gegen jeden angewandt wurden, der nicht mit Stalin konform ging.�
Lasar blickte mit vor Entgeisterung offen stehendem Mund in Richtung Lautsprecher, als zeige sich am Himmel gerade ein g�ttliches Wunder.
S�mtliche Insassen des Lagers lie�en ihr Fr�hst�ck stehen oder nahmen ihren Napf mit, w�hrend sie sich um den einsamen Lautsprecher versammelten. Wie hypnotisiert von den knistern�den Worten starrte die dicht gedr�ngte Menge nach oben. Das war ja Kritik am Staat! Kritik an Stalin! Das hatte Lasar noch nie erlebt, jedenfalls nicht in so einem Rahmen. Hier raunten sich ja nicht etwa zwei Liebende oder zwei Str�flinge auf be�nachbarten Kojen etwas zu. Es waren die Worte ihres Staats�oberhaupts, die �ffentlich auf dem Parteitag verlesen worden, sogar aufgeschrieben und gedruckt und bis in die entlegensten Ecken des Landes verbreitet worden waren.
�Wie kann es geschehen, dass ein Mensch Verbrechen gesteht, die er gar nicht begangen hat? Nur auf eine Weise: durch die Anwendung von Folter, die ihn seines Bewusstseins und seiner Urteilskraft ebenso beraubt wie seiner menschlichen W�rde.�
Der Mann neben Lasar legte ihm einen Arm auf die Schulter, der n�chste tat es ihm nach, und bald standen s�mtliche Gefan�genen Arm in Arm nebeneinander.
Lasar versuchte, nicht auf die Wachen zu achten und sich nur auf die Rede zu konzentrieren, aber ihre Nervosit�t lenkte ihn ab. Sie konnten sich nicht entscheiden, ob sie den Kommandan�ten vom Vorlesen oder die Gefangenen vom Zuh�ren abhalten sollten. Schlie�lich beschlossen sie, dass es einfacher war, nur gegen einen Mann statt gegen tausend vorzugehen. Sie schlugen mit den F�usten gegen die T�r und befahlen dem Kommandan�ten, sofort mit dem Lesen aufzuh�ren. Die T�r war jedoch aus dicken Baumst�mmen gezimmert, um Schutz gegen die arkti�schen Bedingungen zu bieten. Die kleinen Fenster waren mit L�den verschlossen. Nicht einfach, da hereinzukommen. Ver�zweifelt feuerte einer der Wachm�nner sein Maschinengewehr ab, doch die Garbe riss nur Splitter aus dem Holz und blieb ansonsten wirkungslos. Die T�r ging davon zwar nicht auf, aber trotzdem bekam der Mann, was er gewollt hatte. Die Lesung brach ab.
Lasar empfand die Stille wie einen j�hen Verlust, und damit war er nicht allein. W�tend, dass die Rede unterbrochen worden war, begannen die M�nner zu seiner Rechten und Linken zu stampfen. Sofort machten andere mit und wenig sp�ter alle. Tau�send F��e stampften rhythmisch auf dem gefrorenen Boden auf.
�Weiter! Weiter! Weiter!�
Die gleichgeschaltete Energie des Protests wirkte ansteckend, und schon bald stampfte auch Lasar mit.
Leo und der Kommandant horchten auf den Tumult vor der T�r. Aus Angst, dass die Wachen sie erschie�en w�rden, konnten sie die Fensterl�den nicht aufmachen und deshalb nicht sehen, was los war. Aber die Vibrationen der stampfenden F��e �bertru�gen sich durch die Bodendielen, und der Sprechchor war sogar durch die dicken W�nde zu h�ren. �Weiter! Weiter! Weiter!�
L�chelnd legte Sinjawski eine Hand an die Brust, er schien diese Reaktion als Best�tigung f�r seinen gel�uterten Charakter zu empfinden.
Die Stimmung im Lager war brisant. Genauso hatte Leo es gewollt. Er deutete auf die Seiten der Rede, die er in aller Eile zusammengestrichen hatte, um sie zu einer Serie schockierender Gest�ndnisse zu kondensieren. Jetzt reichte er dem Komman�danten die n�chste Seite.
Sinjawski sch�ttelte den Kopf. �Nein.�
Leo war wie vor den Kopf gesto�en. �Warum wollen Sie denn jetzt aufh�ren?�
�Ich will in meinen eigenen Worten sprechen. Ich bin irgend�wie ... inspiriert worden.�
�Was wollen Sie sagen?�
Sinjawski hielt sich das Mikrofon vor den Mund und wandte sich an den Gulag 57. �Mein Name ist Schores Sinjawski. Ihr kennt mich als Kommandanten dieses Gulags, in dem ich seit vielen Jahren Dienst tue. Diejenigen, die erst vor Kurzem ange�kommen sind, werden mich f�r einen guten Menschen halten, f�r anst�ndig, gerecht und gro�z�gig.�
Das bezweifelte Leo. Dennoch versuchte er den Anschein zu erwecken, als sei er von diesen Bekundungen ebenso gefesselt wie �berzeugt. Der Kommandant ging seine Rede mit heiligem Ernst an.
�Diejenigen, die schon l�nger da sind, werden allerdings nicht so freundlich �ber mich denken. Gerade habt ihr geh�rt, wie Chruschtschow Fehler des Staates und die Grausamkeiten unter Stalin einger�umt hat. Ich m�chte dem Beispiel unseres F�hrers folgen und meine eigenen Fehler bekennen.�
Als Leo das Wort �folgen� h�rte, fragte er sich, ob Schuld�gef�hle den Kommandanten antrieben oder eher sein lebens�langer blinder Gehorsam. Ging es hier wirklich um Reue oder nur ums Nach�ffen? Wenn der Staat sich wieder auf Angst und Schrecken besann, w�rde Sinjawski dann ebenso pl�tzlich zu seiner fr�heren Brutalit�t zur�ckkehren, wie er jetzt seine wei�che Seite entdeckt hatte?
�Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Es ist an der Zeit, dass ich euch daf�r um Vergebung bitte.�
Leo wurde klar, dass die Wirksamkeit dieses Gest�ndnisses vielleicht sogar noch gr��er war als das, was Chruschtschow einger�umt hatte. Diesen Mann kannten die Gefangenen. Und sie kannten auch die Str�flinge, die er umgebracht hatte. Die Sprechch�re und das Gestampfe h�rten auf. Die M�nner war�teten auf das Gest�ndnis.
* * *
Lasar fiel auf, dass selbst die Wachleute nicht weiter versuchten, die T�r einzuschlagen, sondern auf die n�chsten Worte des Kommandanten horchten. Nach einer Pause erklang im ganzen Lager Sinjawskis blecherne Stimme.
�Auf meinem ersten Posten in Archangelsk wurde ich be�auftragt, Gefangene in einem Waldgebiet zu �berwachen. Sie sollten Holz schlagen und die St�mme f�r den Abtransport fertig machen. Ich war neu. Und ich war nerv�s. Mein Befehl lautete, jeden Monat eine bestimmte Menge Holz zu liefern, alles andere spielte keine Rolle. Genau wie ihr alle hatte auch ich ein �Plan�soll� zu erf�llen. Nach der ersten Woche bemerkte ich, dass ei�ner der Gefangenen betrogen hatte, um seine Norm zu erf�llen. H�tte ich ihn nicht erwischt, w�ren wir unter dem Soll geblieben und der Sabotage bezichtigt worden. Ihr seht also ... es ging ums nackte �berleben. Ich hatte keine Wahl. Also habe ich ein Exempel an ihm statuiert. Er wurde ausgezogen und an einen Baum gebunden. Es war Sommer. Am Abend war sein K�rper schon schwarz vor M�cken. Am Morgen war er bewusstlos. Am dritten Tag war er tot. Ich befahl, dass man seine Leiche als Warnung im Wald lassen sollte. Zwanzig Jahre lang habe ich nicht mehr an diesen Mann gedacht. Aber seit einiger Zeit denke ich t�glich an ihn. An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, ich wei� noch nicht einmal, ob ich ihn je gewusst habe. Allerdings erinnere ich mich, dass er damals in meinem Alter war. Ich war einundzwanzig.�
Lasar registrierte, dass der Kommandant seine Version der Wahrheit mit mildernden Umst�nden abschw�chte.
Ich hatte keine Wahl.
Wegen solcher Worte waren Tausende umgekommen, und nicht etwa durch Kugeln, sondern durch eine perverse Logik und wohldurchdachtes Kalk�l.
Als Lasar sich wieder auf die Rede konzentrierte, sprach der Kommandant schon nicht mehr �ber seine berufliche Station in den W�ldern von Archangelsk. Gerade referierte er �ber seine Bef�rderung zu den Salzminen von Solikams.
�In den Salzminen befahl ich den M�nnern zur Steigerung der Effizienz, unter Tage zu schlafen. Dadurch, dass ich die M�nner nicht mehr nach jeder Schicht hoch- und wieder runterschaffen lie�, sparte ich Tausende wertvoller Arbeitsstunden zum Wohle unseres Staates.�
Die Gefangenen sch�ttelten bei der Vorstellung an diese un�terirdische H�lle nur noch den Kopf.
�Mein Auftrag war, nach neuen M�glichkeiten zu suchen, wie man das Wohl unseres Staates mehren k�nnte. Was h�tte ich da tun sollen? Wenn ich nicht auf diese Idee gekommen w�re, h�tte mein untergebener Offizier sie vielleicht vorgeschlagen, und dann h�tte man mich bestraft. Brauchten diese M�nner das Tageslicht dringender als der Staat Salz? Und wenn ja, wer h�tte die Autorit�t besessen, diese Meinung zu vertreten? Wer h�tte es gewagt, sich f�r sie einzusetzen?�
Einer der W�rter - ein Mann, den Lasar noch nie zuvor ge�sehen hatte - stapfte auf sie zu und fuchtelte dabei mit seinem Messer. Sie wollten also die Dr�hte durchschneiden und so den Kommandanten abw�rgen.
Der Wachmann grinste, diese L�sung war nach seinem Ge�schmack. �Aus dem Weg!�
Der ihm am n�chsten stehende Str�fling stellte sich auf den Draht und versperrte dem Wachmann den Weg. Ein zweiter trat hinzu, dann ein dritter und vierter, sie lie�en ihn nicht an die Leitung heran. Der Wachmann verzog das Gesicht zu einem dro�henden Grinsen, so als wolle er sagen, dass er sich das merken werde, und marschierte zu einer anderen Stelle, wo der Draht freilag. Sofort reagierten die Gefangenen, schoben sich nach vorne und schlossen die Reihen, um den Draht zu sch�tzen. Im�mer wieder gruppierte die Schar der H�ftlinge sich um, bis sie schlie�lich eine dichte Phalanx bildeten, die von dem Holzpfahl mit dem Lautsprecher bis zum Sockel der Verwaltungsbaracke reichte. Wenn der Wachmann jetzt noch an die Leitung kommen wollte, musste er schon unter die Baracke kriechen, doch das verbot ihm sein Stolz.
�Aus dem Weg!�
Die H�ftlinge wichen nicht zur�ck. Der W�rter wandte sich zu den beiden wachta um, den befestigten T�rmen, von denen man das Lager im Blick hatte. Er gab den Sch�tzen Zeichen und deutete auf die Gefangenen, dann machte er sich schnell davon.
Sch�sse peitschten. S�mtliche Gefangenen warfen sich auf die Knie. Lasar blickte sich um, er rechnete damit, Tote und Verletzte zu sehen, doch alle schienen unversehrt zu sein. Offen�bar hatte man �ber ihre K�pfe gezielt. Die Salven waren in die Barackenwand eingeschlagen, Warnsch�sse.
Langsam standen alle wieder auf. Auf der anderen Seite erhob sich Geschrei.
�Wir brauchen Hilfe!�
�Holt die feldschery!�
Lasar konnte nicht sehen, was da vorging. Immer noch wurde nach den Sanit�tern geschrien, aber niemand kam. Bald verebb�ten die Rufe, niemand rief mehr um Hilfe. Dann wanderte von einem H�ftling zum n�chsten die Nachricht durch die Menge: Ein Gefangener war tot.
Als der Wachposten merkte, wie die Stimmung umschlug, steckte er das Messer weg und zog die Waffe. Er feuerte auf den Lautsprecher, verfehlte ihn aber mehrere Male, bis er endlich traf. Die Blechh�lle des Lautsprechers spr�hte Funken, dann gab er knisternd den Geist auf. Die anderen vier Lautsprecher in der Zone funktionierten noch, aber sie standen in einiger Entfer�nung. Die Stimme des Kommandanten war jetzt nur noch ein Hintergrundger�usch und kaum zu verstehen.
Mit gez�ckter Pistole befahl der W�rter: �Zur�ck in eure Baracke, dann stirbt auch keiner mehr!�
Er hatte die Wirkung seiner Drohung falsch eingesch�tzt.
Einer der Gefangenen hob die Leitung hoch und st�rzte vor. Er wickelte sie dem Wachmann um den Hals und erdrosselte ihn damit. W�hrend die H�ftlinge einen Kreis um die K�mpfenden bildeten, kamen die anderen W�rter herbeigerannt, um einzu�schreiten. Ein Str�fling griff sich die Pistole und feuerte. Verwun�det ging ein W�rter zu Boden. Die anderen zogen daraufhin ihre Waffen und schossen wild in die Menge.
Die Gefangenen stoben auseinander. Sofort hatten sie die Lage erkannt. Egal, was f�r Reden in Moskau geschwungen wurden - wenn die Wachen hier wieder die Oberhand gewan�nen, standen ihnen grausame Sanktionen bevor. In diesem Mo�ment er�ffneten beide Wacht�rme das Feuer.
* * *
Der Kommandant sprach derweil immer weiter, gestand eine blutige Tat nach der anderen und schien das Gewehrfeuer gar nicht zu h�ren. Sein Verstand hatte ausgesetzt. Unter Stalin hat�te man sein Naturell gewaltsam verbogen, und nun wurde er in genau die entgegengesetzte Richtung zur�ckgebogen. Dem hatte er nichts mehr entgegenzusetzen, er wusste nicht mehr, wer er war, war weder gut noch schlecht, sondern einfach nur schwach.
Leo lie� den Kommandanten weitersprechen und �ffnete einen Fensterladen. Vorsichtig sp�hte er hinaus. Aufr�hrerische Str�flinge rannten hin und her, im Schnee lagen Leichen. Leo �berlegte, wie stark die beiden Seiten waren. Er sch�tzte, dass auf etwa vierzig Gefangene ein W�rter kam. Das war nicht we�nig und erkl�rte auch teilweise, warum der Unterhalt der Lager so teuer war. Die Zwangsarbeit brachte nicht gen�gend ein, um die Kosten f�r die Verpflegung und Unterbringung der Str�f�linge sowie den Transport und ihre Knechtung zu decken. Ein besonderer Kostenfaktor waren die W�rter, die f�r ihre Arbeit in dieser Ein�de Zuschl�ge erhielten. Deshalb t�teten sie auch jetzt so bereitwillig und klammerten sich r�cksichtslos an ihre Machtstellung. Denn sie hatten kein Leben, in das sie h�tten zur�ckkehren k�nnen, keine Familien oder Nachbarn, die etwas mit ihnen zu tun haben wollten. Keine Fabrikbelegschaft h�tte sie bei sich aufgenommen. Ihr Wohlergehen hing ganz und gar von den Gefangenen ab. Beide Seiten w�rden also mit dem glei�chen Mut der Verzweiflung k�mpfen.
Aus den Wacht�rmen blitzte M�ndungsfeuer auf. Die Fens�terscheibe zerbarst. Leo duckte sich weg, w�hrend um ihn he�rum Glasscherben niederprasselten und Kugeln in die Dielen einschlugen. Hinter den dicken Baumst�mmen war Leo in Si�cherheit, also richtete er sich vorsichtig auf und versuchte den Fensterladen zu schlie�en. Doch in einem Hagel von Splittern barst dessen Holz. Jetzt war der Raum ungesch�tzt. Die Sprech�anlage auf dem Schreibtisch wurde von den Kugeln hin und her geschleudert, schlie�lich flog sie in hohem Bogen zu Boden. Sinjawski schrak zur�ck und kauerte sich hin.
Gegen den Radau br�llte Leo ihm zu: �Haben Sie ein Ge�wehr?�
Sinjawski schaute gehetzt zur Seite. Leo folgte seinem Blick und entdeckte in einer Ecke eine Holztruhe. Er stand auf und rannte darauf zu, musste aber feststellen, dass der Kommandant sich ihm in den Weg stellte und mit abwehrenden H�nden rief: �Nein!�
Leo stie� den Mann zur Seite, griff nach der st�hlernen Schreibtischlampe und schlug mit dem schweren Fu� auf das Vorh�ngeschloss ein. Beim zweiten Schlag gab es nach, und er zog es heraus. Wieder sprang der Kommandant vor und warf sich �ber die Kiste. �Ich flehe Sie an ...�
Leo riss ihn weg und �ffnete den Deckel.
In der Kiste schien sich nur Krimskrams zu befinden. Leo ent�deckte gerahmte Fotografien, die einen stolzen Kommandanten neben einem Kanal zeigten, im Hintergrund ausgemergelte H�ft�linge. Leo vermutete, dass dies die Fotos waren, die urspr�nglich an der Wand des B�ros gehangen hatten. Er warf sie beiseite, dann grub er sich durch Akten, Urkunden, Auszeichnungen und Gl�ckwunschbriefe zur Erf�llung der Norm - die �berbleib�sel seiner gro�en Karriere. Ganz unten lag ein Jagdgewehr, mit zahlreichen Kerben im Kolben. Dreiundzwanzig Absch�sse. Leo ahnte, dass das keine W�lfe oder B�ren gewesen waren. Er lud die Flinte mit dicken, fingerlangen Patronen und rannte zur�ck ans Fenster.
Die beiden Hauptt�rme, die auf hohen Holzstelzen errichte�ten wachta, waren strategisch von entscheidender Bedeutung. Die Wachen hatten schon die Leitern eingezogen, um zu ver�hindern, dass man zu ihnen hochklettern konnte. Verschanzt hinter dicken Baumst�mmen, beherbergte jeder Turm auf La�fetten montierte Maschinengewehre, die pro Minute Hunderte von Kugeln abfeuern konnten - eine geballte Kraft, die alles am Boden �bertraf. Leo musste das Feuer von den Gefangenen weg auf sich ziehen. Er zielte auf den Wachturm unmittelbar vor ihm. Die Chance, dass er genau in die L�cke zwischen den Baumst�mmen traf, war minimal. Leo dr�ckte zweimal ab, der m�chtige R�cksto� des Gewehrs schleuderte ihn fast zur�ck. Sofort schossen die Wachen nicht mehr auf die Gefangenen, son�dern konzentrierten ihr Feuer auf ihn. Ein Kugelhagel schlug in die Wand ein.
Leo duckte sich und warf einen fl�chtigen Blick auf Sin�jawski. Der hockte, w�hrend sein B�ro in Tr�mmer geschossen wurde, in einer Ecke und las die restlichen Seiten der Geheimen Rede, als sei alles bestens. Jetzt sah er zu Leo auf und las ihm eine Passage vor.
�Ich hoffe, dass mein Entsetzensschrei Ihre Ohren erreicht. Stellen Sie sich nicht taub, nehmen Sie mich unter Ihren Schutz. Helfen Sie mir, den Alptraum der Verh�re zu beseitigen und zu zeigen, dass das alles ein schrecklicher Fehler war.�
Sinjawski stand auf: �Das war alles ein schrecklicher Fehler. Das h�tte nie passieren d�rfen.�
�Gehen Sie in Deckung!�, br�llte Leo.
Eine Kugel traf den Kommandanten in die Schulter. Da Leo nicht wollte, dass er starb, schlug er ihn nieder. Als er selbst auf seine verletzten Knie niederfiel, raubte ihm der Schmerz fast das Bewusstsein.
�Diese Rede hat mir das Leben gerettet�, murmelte Sinjawski. Es roch nach Qualm. Um das Gewicht von den Knien zu neh�men, rollte Leo sich auf den R�cken, dann k�mpfte er sich hoch und stolperte geduckt zum Fenster. Das Trommelfeuer hatte aufgeh�rt. Durch das zerborstene Fenster sp�hte Leo vorsichtig hinaus auf die Zone und sah, woher der Qualm kam. Direkt un�ter dem Sockel des Wachturms brannte ein Feuer, hohe Flammen schlugen die Stelzen hinauf. F�sserweise hatte man Brennstoff daruntergerollt und angez�ndet. Die Insassen des Hochsitzes wurden ger�stet wie Fleischst�cke am Ende eines Bratspie�es, f�r die M�nner dort oben gab es kein Entkommen. Weil sie nicht die Leiter hinabklettern konnten, versuchten die Wachen, sich durch die L�cken zwischen den Baumst�mmen zu quetschen, aber sie war zu eng. Ein Mann blieb stecken und kam weder vor noch zur�ck, w�hrend das Feuer sich weiter hinauffra�. Seine Schreie waren entsetzlich.
Die Soldaten auf dem zweiten Turm begannen sich gegen ein �hnliches Schicksal zu wappnen und schossen auf die Str�flinge, die das Brennmaterial herantrugen. Doch es waren einfach zu viele, und sie kamen aus allen Richtungen. Wenn sie erst einmal unter dem Turm waren, konnten die Wachen nichts mehr aus�richten, nur noch warten. Ein zweites Feuer wurde gelegt. Jetzt, wo beide T�rme zerst�rt waren, hatte sich das Kr�fteverh�ltnis verschoben. Die Gefangenen hatten die Kontrolle �ber das La�ger �bernommen.
Eine Axt schlug in die T�r des Kommandantenb�ros. Ein zweiter Schlag folgte. Doch noch bevor man von drau�en eindringen konnte, legte Leo das Gewehr auf den Boden und schloss die T�r auf. Dann trat er zur�ck und hob zum Zeichen, dass er sich ergab, die H�nde. Eine kleine Gruppe von Str�flin�gen st�rmte den Raum und fuchtelte mit Messern, Pistolen und Eisenstangen herum.
Die Anf�hrer musterten ihre Gefangenen. �Bringt sie raus.�
Die H�ftlinge griffen Leo bei den Armen und stie�en ihn die Treppe hinunter, dann trieben sie ihn zu den ebenfalls gefangen genommenen Wachm�nnern. Blutig geschlagen hockten diese im Schnee und starrten auf die beiden brennenden wachta. Die Rauchs�ulen, die von ihnen aufstiegen, bedeckten den halben Himmel und k�ndeten der ganzen Gegend von der Revolte.
Am selben Tag
Die Stirn in konzentrierte Furchen gelegt, studierte Malysch die handgeschriebene Liste. Man hatte ihm gesagt, darauf st�nden die Namen der M�nner und Frauen, die Frajera um�bringen wollte. Da er aber nicht lesen konnte, nahm sein Au�ge nur eine Ansammlung unverst�ndlicher Zeichen wahr. Bis vor Kurzem hatte es ihm nie etwas ausgemacht, dass er nicht lesen und schreiben konnte und nur die Buchstaben seines klikucha erkannte, auch wenn er damit kaum gebildeter war als ein Hund, der h�rte, wenn man seinen Namen rief. Genau aus diesem Grund hatte Malysch bei seinem Eintritt in die Bande auch klugerweise darauf bestanden, dass keine seiner T�towie�rungen irgendwelche W�rter enthielt, aus Angst, die anderen wory k�nnten seine Unwissenheit ausn�tzen und ihm irgend�eine Beleidigung einstanzen. Zwar war es unter Todesstrafe verboten, jemandem etwas Falsches, eine offensichtliche L�ge einzut�towieren, aber dieses Gesetz h�tte sie vielleicht trotzdem nicht davon abgehalten, sich auf seine Kosten einen Spa� zu er�lauben und ihn statt Kleiner einfach kleiner Schei�er zu nennen.
Er war nicht auf den Kopf gefallen, und um das zu beweisen, brauchte er kein Zeugnis oder Diplom. Er musste gar nicht lesen und schreiben k�nnen. Was sollte ihm das schon bringen? Leh�rer konnten ja auch kein Schloss knacken oder Messer werfen. Warum zum Teufel sollte ein Dieb lesen k�nnen? Das glaubte er immer noch, aber trotzdem war etwas anders geworden. Tief in seinem Innern sch�mte er sich neuerdings immer mehr, und angefangen hatte es genau in dem Moment, wo Soja seine Hand genommen hatte.
Sie konnte nicht wissen, dass er Analphabet war. Wenn sie vom Allerschlimmsten ausging, hielt sie ihn vielleicht f�r einen vom tscbifir abh�ngigen Strolch. Das juckte ihn nicht. Anstatt sich ein Urteil �ber ihn zu erlauben, sollte sie sich lieber Ge�danken dar�ber machen, ob er ihr nicht doch die Kehle durch�schneiden w�rde. Malysch wurde w�tend. Er holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf die Namen vor sich - diese ehemaligen Tschekisten. Anhand dessen, was er von Frajera ge�h�rt hatte, wusste er, dass auf der Liste die Namen und Adressen standen, au�erdem eine Beschreibung der Verbrechen, die jeder Einzelne begangen hatte, und ob er Ermittler, Verh�rspezialist oder Informant gewesen war. Als er mit einem dreckigen Finger�nagel �ber die Zeilen fuhr, konnte er erkennen, in welcher Spalte die Namen standen: Es war die mit den wenigsten W�rtern. Die mit den Zahlen, das waren die Adressen. Und daraus ergab sich, dass in der letzten Spalte, der mit den meisten W�rtern, ihre Verbrechen beschrieben wurden. Aber es half nichts, sich etwas vorzumachen. Das hatte ja noch nichts mit Lesen zu tun, nicht mal ann�hernd. Malysch schleuderte die Liste zu Boden und marschierte in dem Abwassertunnel auf und ab. Alles nur ihre Schuld. Das M�dchen war der Grund, dass er sich jetzt so f�hlte. W�re er ihr doch nie begegnet!
Unschl�ssig, was er jetzt machen sollte, lief er den Tunnel hinauf bis in das stinkende Lager der Bande. Frajera behaup�tete allerdings, dass sie in den Ruinen einer ehemaligen Biblio�thek wohnten, der verschollenen Bibliothek von Iwan dem Schrecklichen, in der sich einst eine unsch�tzbare Sammlung byzantinischer und hebr�ischer Schriftrollen befunden hatte. Als Analphabet in einer Bibliothek - das Absurde daran war ihm bislang noch nie aufgefallen, nicht bis zu dem Zeitpunkt, als Soja aufgetaucht war. Aber ob nun Bibliothek oder nicht, f�r Malysch war ihr Basislager trotzdem nicht viel mehr als ein Haufen dreckiger, feuchter Steinkammern. Er dr�ckte sich um die anderen herum, die wie �blich tranken, und schlich sich leise zu Sojas Zelle.
Dort holte er sich einen Schemel, stellte sich darauf und linste durch die Gitter. Soja lag zusammengerollt auf einer Matratze in der Ecke und schlief. F�r sie unerreichbar hing eine Laterne von der Decke, die Tag und Nacht brannte, sodass Soja unter st�ndiger Beobachtung stand.
Sofort verrauchte Malyschs Zorn. Seine Augen wanderten �ber ihren K�rper und verfolgten ihren Schlaf, das sanfte Heben und Senken ihrer Brust. Malysch geh�rte zwar zu den wory, war aber trotzdem noch Jungfrau. Er hatte zwar schon gemordet, aber noch nie mit einer Frau geschlafen, was f�r die anderen eine Quelle gro�en Vergn�gens war. Sie h�nselten ihn, dass sich sein Schwanz, wenn er ihn nicht bald einmal benutzte, entz�n�den und abfallen w�rde, und dann w�re er nur noch ein M�d�chen.
Nach seiner Aufnahme in die Bande hatten sie ihn zu einer Prostituierten geschleppt, ihn in ihr Zimmer gesto�en und die T�r hinter ihm verschlossen, damit er endlich erwachsen wur�de. Gelangweilt und mit G�nsehaut auf den Armen hatte die nackte Frau auf dem Bett gesessen und eine Zigarette geraucht. Angesichts des langen Aschestummels hatte Malysch nur daran denken k�nnen, ob die Asche ihr wohl auf die Brust fallen w�r�de. Schlie�lich hatte sie sie auf den Boden geschnippt und ihn mit einem Nicken in Richtung seiner Lenden gefragt, worauf er denn noch warte. Er hatte an seinem G�rtel herumgefingert, ihn erst abgelegt, dann wieder angelegt und ihr schlie�lich gesagt, er wolle nicht. Das Geld k�nne sie behalten, wenn sie nur den anderen nichts sagte. Achselzuckend hatte sie ihn angewiesen, sich hinzusetzen und f�nf Minuten zu warten, danach konnte er gehen. Dass er l�nger durchhielt, w�rden die anderen sowieso nicht glauben. Also hatte Malysch sich aufs Bett gesetzt und war nach f�nf Minuten gegangen. Als er schon im Flur gewesen war, mit einer gut zurechtgelegten L�ge, hatte die Frau den anderen zugerufen, sie h�tten recht gehabt: Er habe gekniffen. Die wory hatten gekichert wie Hexen, und sogar Frajera schien von ihm entt�uscht zu sein.
Als er jemanden hinter sich h�rte, wirbelte Malysch herum und zog sein Messer, doch dieser Jemand packte seine Hand und entwand es ihm.
Frajera klappte die Klinge zu und gab ihm das Messer zur�ck. Dann beugte sie sich �ber seine Schulter und linste in die Zelle. �Wundersch�n, nicht wahr?�
Malysch gab keine Antwort.
Von oben herab musterte Frajera ihn. �Es kommt nicht oft vor, dass jemand sich an dich heranschleichen kann, Malysch.�
�Ich habe die Gefangene kontrolliert.�
�Kontrolliert?�
Er wurde rot. Frajera legte ihm den Arm auf die Schulter und f�gte hinzu: �Ich will, dass sie dich bei deinem n�chsten Auftrag begleitet.�
Fragend sah Malysch zu Frajera hoch. �Die Gefangene?�
�Nenn sie bei ihrem Namen.�
�Soja.�
�Sie hat mehr Grund als so mancher andere, die Tschekisten zu hassen. Sie haben ihre Eltern umgebracht.�
�Sie kann nicht k�mpfen. �berhaupt nicht zu gebrauchen. Sie ist doch nur ein M�dchen.�
�Ich war auch mal ein M�dchen.�
�Du bist anders.�
�Sie auch.�
�Vielleicht versucht sie abzuhauen. Oder sie ruft um Hilfe.�
�Warum fragst du sie nicht? Sie h�rt uns zu.�
Einen Moment lang schwiegen sie. Dann rief Frajera in die Zelle hinein: �Ich wei�, dass du wach bist.�
Soja setzte sich auf und blickte die beiden an. Dann sprach sie. �Ich habe nie etwas anderes behauptet.�
�Ich h�tte einen Vorschlag f�r ein tapferes junges M�dchen. Willst du Malysch bei seinem n�chsten Einsatz begleiten?�
Soja starrte den Jungen an. �Um was geht es dabei?�
�Darum, einen Tschekisten zu t�ten�, antwortete Frajera.
Kolyma
Gulag 57
Am selben Tag
Die beiden wachta waren nur noch schwelende Tr�mmerhau�fen. Das Holz war verkohlt, nur gelegentlich z�ngelten noch Flammen aus der gl�henden Asche. Rauchschwaden erhoben sich in den n�chtlichen Himmel und trugen die Asche von min�destens acht Wachm�nnern davon, deren letzte Tat auf Erden es nun war, ein paar Sterne zu verdunkeln, bevor sie �ber die Hochebene verstreut wurden. Andere Gulag-W�rter, die nicht in der Feuerh�lle der wachta umgekommen waren, lagen �ber das ganze Lager verstreut, wo immer sie gestorben waren. Ein Toter hing aus einem Fenster heraus. Die Wut, mit der man ihn umgebracht hatte, lie� darauf schlie�en, dass er fr�her in seiner Pflichterf�llung besonders heimt�ckisch gewesen war. Die Str�f�linge hatten ihn verfolgt, bis sie ihn gestellt hatten. W�hrend er noch verzweifelt versucht hatte aus dem Fenster zu klettern, waren sie mit F�usten und Messern auf ihn losgegangen. Seine Leiche hatten sie liegen lassen, sie hing �ber dem Fensterbrett wie eine Fahne ihres neuen Reiches.
Die �berlebenden Wachleute und die anderen Besch�ftigten des Gulags, insgesamt etwa f�nfzig Personen, hatte man in die Mitte der Verwaltungszone gepfercht. Die meisten waren ver�letzt. Ohne Decken oder medizinische Versorgung hockten sie im Schnee. Ihre Schmerzen, ihr Hunger und ihr Elend stie�en auf dieselbe Gleichg�ltigkeit, die die Str�flinge fr�her am eigenen Leib erfahren hatten.
Leos Rolle war anfangs unklar gewesen, doch schlie�lich hatte man ihn nicht den H�ftlingen, sondern den W�rtern zugerechnet. Also sa� auch er jetzt vor K�lte zitternd da und wurde Zeuge, wie alte Machtstrukturen zerfielen und neue sich bildeten.
So weit er sehen konnte, gab es drei nicht gew�hlte Anf�h�rer - M�nner, die sich ihre Autorit�t im Mikrokosmos ihrer je�weiligen Baracken aufgebaut hatten. Jeder von ihnen besa� seine eigene, eindeutig von den anderen abgegrenzte Anh�ngerschar.
Einer der Anf�hrer war Lasar. Zu seinen Leuten z�hlten die �lteren Gefangenen, die Intellektuellen und Facharbeiter - kurz, die Schachspieler. Der zweite Anf�hrer war ein athletischer und gut aussehender j�ngerer Mann, m�glicherweise ein ehemaliger Fabrikarbeiter. Der perfekte Sowjet also, und dennoch war er eingesperrt worden. Ihm folgten die J�ngeren und St�rkeren nach - die M�nner der Tat. Der dritte war ein etwa vierzig�j�hriger Ganove mit schmalen Augen, Zahnl�cken und einem Haifischgrinsen. Er hatte den Mantel des Kommandanten f�r sich reklamiert, der ihm allerdings zu lang war und im Schnee schleifte wie ein kaiserliches Gewand. Seine Anh�ngerschaft bestand aus den anderen wory - Dieben und M�rdern. Drei Gruppen also, jede mit ihrem eigenen Anf�hrer und jede mit ihren eigenen Vorstellungen. Und die Meinungsunterschiede traten unmittelbar zutage.
Lasar, dem der rothaarige Georgi seine Stimme lieh, mahnte zu Vorsicht und Ordnung. �Wir m�ssen Beobachtungsposten einrichten. Die Grenzen des Lagers m�ssen bewaffnet wer�den.�
Nach Jahren der �bung konnte Georgi gleichzeitig sprechen und Lasar zuh�ren. �Au�erdem m�ssen wir unsere Lebensmit�telvorr�te bewachen und rationieren. Wir d�rfen nicht Amok laufen. Wir brauchen Ordnung.�
Der Arbeiter, der mit seinem kantigen Gesicht aussah wie einem Propagandafilm entsprungen, widersprach. �Uns steht so viel Essen zu, wie wir wollen, und der ganze Alkohol, den wir auftreiben k�nnen. Schlie�lich haben wir keinen Lohn erhalten und uns daf�r, dass wir die Freiheit errungen haben, auch etwas verdient.�
Der Chef der wory in seinem Rentiermantel hatte nur einen Wunsch. �Nach diesen ewigen Vorschriften wollen wir einfach machen, was uns passt.�
Es gab noch eine vierte Gruppe von H�ftlingen. Eigentlich keine richtige Gruppe, eher ein Haufen Einzelg�nger, die keinem Anf�hrer folgten, sondern sich nur an ihrer Freiheit berauschten. Einige rannten wie Wildpferde von einer Baracke zur n�chsten, durchw�hlten alles und jauchzten auf, wenn sie etwas gefunden hatten. Entweder hatte die ausbrechende Gewalt sie verr�ckt werden lassen, oder sie waren immer schon verr�ckt gewesen und konnten es nun endlich ausleben. Andere lagen schlafend in den bequemen Betten des Wachpersonals, f�r sie bedeutete Freiheit einfach nur, die Augen zumachen zu k�nnen, wenn man m�de war. Wieder andere lagen im Morphiumrausch da oder hatten sich mit dem Wodka ihrer ehemaligen Peiniger betrunken. Lachend schnitten sie L�cher in die Z�une, bogen den verhassten Stacheldraht zu irgendwelchem Zierrat zurecht und staffierten damit die W�rter aus, von denen sie fr�her herumkommandiert worden waren. Sie dr�ckten ihnen Stacheldrahtkronen auf den Kopf und verh�hnten sie l�rmend als S�hne Gottes. �Kreuzigt die verdammten Schweine!�
Als Lasar sah, welche Anarchie rings um sie herrschte, mahnte er erneut. Er fl�sterte Georgi ins Ohr, der die Worte wiederholte. �Wir m�ssen unbedingt die Vorr�te kontrollieren. Ein Hungernder kann sich leicht zu Tode essen. Au�erdem muss die Zerst�rung des Zauns aufh�ren. Der Zaun sch�tzt uns vor den Soldaten, die unweigerlich hier eintreffen werden. Vollkom�mene Freiheit k�nnen wir nicht zulassen, sonst �berleben wir die Sache nicht.�
Nach dem Schweigen des wory-Anf�hrers zu urteilen, war das meiste ohnehin schon gepl�ndert worden. Die wertvollsten Dinge befanden sich bereits in den H�nden seiner Bande.
Der Arbeiter mit dem kantigen Gesicht, dessen Namen Leo nicht kannte, erkl�rte sich damit einverstanden, dass man ei�nige der von Lasar vorgeschlagenen Schritte einleitete. Gegen praktische Ma�nahmen war nichts zu sagen, solange man nur umgehend damit anfing, die gefangen genommenen Wachleute abzuurteilen.
�Meine M�nner verlangen Gerechtigkeit! Und zwar sofort! Jahrelang haben sie darauf gewartet! Sie haben eine Menge durchgemacht! Sie k�nnen nicht mehr l�nger warten!�
Er sprach in Parolen, und jeder seiner S�tze endete mit einem Ausrufezeichen. Lasar gefiel es zwar nicht, dass man die prakti�schen Ma�nahmen hinausz�gerte, dennoch gab er in der Hoff�nung auf Unterst�tzung nach. Man w�rde also �ber die Wachen Gericht halten. Auch �ber Leo.
* * *
Einer von Lasars Anh�ngern war in seinem, wie er es nannte, fr�heren Leben Anwalt gewesen. Nun machte er es sich zur Auf�gabe, ein Tribunal einzuberufen, von dem Leo und die anderen gerichtet werden sollten. Gen�sslich dachte er sich daf�r ein eigenes Rechtssystem aus. Nach Jahren unterw�rfigen Katzbu�ckelns war er jetzt �beraus erfreut, endlich wieder in dem auto�ritativen und gelehrten Ton sprechen zu k�nnen, der ihm doch eigentlich am besten lag.
�Wir sind uns hoffentlich einig, dass nur die Wachleute abge�urteilt werden. Das Sanit�tspersonal und die ehemaligen Gefan�genen, die angefangen haben, f�r die Verwaltung des Gulags zu arbeiten, sind tabu.�
Der Vorschlag wurde angenommen, und der Anwalt fuhr fort: �Wir halten Gericht auf der Treppe zum B�ro des Kom�mandanten. Jeder W�rter wird einzeln zur untersten Stufe ge�f�hrt. Wir als freie M�nner werden Beispiele f�r die Brutalit�t dieser Leute zu Protokoll geben. Wenn ein Vorfall als zutreffend erachtet wird, erklimmt der W�rter eine Stufe. Wenn er bis ganz nach oben gestiegen ist, wird er exekutiert. Sollten ihm aber, auch wenn er schon auf der vorletzten Stufe steht, keine weite�ren Verbrechen mehr angelastet werden k�nnen, darf er wieder hinabsteigen und sich setzen.�
Leo z�hlte die Treppenstufen. Alles in allem waren es drei�zehn. Da man auf der untersten Stufe anfing, waren es also bis ganz nach oben zw�lf Vergehen. Bei zw�lf starb man, bei elf oder weniger blieb man am Leben.
Mit tieferer Stimme, die einen gravit�tischen Ton vermitteln sollte, rief der Anwalt: �Kommandant Schores Sinjawski.�
Sinjawski wurde auf die unterste Treppenstufe gef�hrt und richtete den Blick auf seine Richter. Seine Schulter war notd�rftig verbunden worden, damit die Blutung zum Still�stand kam und er lange genug am Leben blieb, um der Ge�rechtigkeit ins Auge zu sehen. Sein Arm hing schlaff herunter. Dennoch l�chelte er wie ein Kind in einem Schultheater und suchte in den Reihen der versammelten Gefangenen nach einem wohlwollenden Gesicht. Verteidigung und Anklage hatten hier keine eigenen Vertreter, f�r beide Seiten waren die H�ftlinge insgesamt zust�ndig. Das Urteil wurde kollektiv ge�f�llt.
Beinahe unverz�glich erhob sich ein Stimmengewirr. Durch�einander und unverst�ndlich wurden Beleidigungen und Bei�spiele f�r die Verbrechen des Kommandanten herausgeschrien.
Der Anwalt hob den Arm und bat um Ruhe. �Einer nach dem anderen. Ich nehme alle dran, und dann d�rfen sie sprechen. Jeder kann sich zu Wort melden.�
Er deutete auf einen der H�ftlinge, einen �lteren Mann. Der Gefangene r�hrte sich nicht.
�Du kannst die Hand jetzt herunternehmen�, sagte der An�walt. �Sprich.�
�Meine Hand ist der Beweis f�r sein Vergehen.�
Zwei Finger fehlten, sie waren bis auf zwei schwarze St�mpfe am Kn�chel abgetrennt.
�Sie sind erfroren. Keine Handschuhe bei Minus f�nfzig Grad. Wenn man bei so einer Temperatur ausspuckt, ist die Spucke schon gefroren, noch bevor sie am Boden aufkommt. Trotzdem hat er uns noch rausgeschickt, bei einem Wetter, das nicht mal zum Spucken taugte! Aber er hat uns rausgeschickt! Tag f�r Tag! Zwei Finger, das macht zwei Stufen.�
Alle johlten zustimmend. Der Anwalt strich sich die graue, baumwollene Str�flingsjacke glatt, als sei sie eine Richterrobe. �Es geht hier nicht darum, wie viele Finger du verloren hast. Du f�hrst unmenschliche Arbeitsbedingungen an. Das Verbrechen wird anerkannt. Aber es ist nur das Beispiel eines Verbrechens, daher gibt es auch nur eine Stufe.�
Einer aus der Menge rief: �Ich habe einen Zeh verloren. Ist der vielleicht keine Stufe wert?�
Es gab mehr als gen�gend verst�mmelte und schwarze Finger und Zehen, um den Kommandanten gleich ganz nach oben zu schicken. Dem Juristen entglitt die Sache, er schaffte es nicht, die Regeln ausreichend durchzusetzen und die aufgebrachte Menge zu beruhigen.
Schlie�lich beendete der Kommandant selbst die Debatte, indem er rief: �Ihr habt recht. Jede einzelne Verletzung, die ihr erlitten habt, ist ein Verbrechen.�
Er nahm eine weitere Stufe. Die Zwischenrufe und Streiterei�en verebbten, alle h�rten wieder zu.
�Tats�chlich habe ich mehr Verbrechen begangen, als es Stufen gibt. Selbst wenn sie bis zum Gipfel des Berges reichen w�rden, m�sste ich sie alle hinaufsteigen.�
Gekr�nkt, dass sein ausgekl�geltes System der Rechtspre�chung durch dieses Gest�ndnis �ber den Haufen geworfen wor�den war, fragte ihn der Anwalt: �Sie geben also zu, dass Sie den Tod verdienen?�
Der Kommandant fragte ohne Umschweife zur�ck: �Nur eines m�chte ich wissen: Wenn man einen Schritt nach oben machen kann, warum kann man dann nicht auch wieder einen hinunter machen? Wenn man Schlimmes tut, kann man dann nicht auch Gutes tun? Kann ich nicht versuchen, das wiedergut�zumachen, was ich verbrochen habe?�
Er zeigte auf den Gefangenen, der seine Zehe verloren hatte.
�Daf�r, dass dir der Zeh erfroren ist, habe ich eine Stufe ge�nommen. Aber letztes Jahr wolltest du deiner Familie deinen Lohn schicken. Als ich dir sagte, dass das System dich ungerecht behandelt und du deshalb nicht so viel verdient hattest, wie sie brauchten, habe ich da nicht die Differenz aus eigener Tasche ausgeglichen? Habe ich mich nicht pers�nlich darum gek�m�mert, dass deine Frau das Geld auch rechtzeitig erhielt?�
Der Str�fling blickte sich um und schwieg.
�Stimmt das?�, fragte der Anwalt.
Z�gernd nickte der Str�fling. �Es stimmt.�
Der Kommandant ging wieder eine Stufe nach unten. �Kann ich nicht f�r diese Tat wieder einen Schritt nach unten machen? Ich erkenne ja an, dass ich noch nicht gen�gend Gutes getan habe, um meine b�sen Taten auszugleichen. Warum lasst ihr mich also nicht am Leben? Gestattet mir, dass ich den Rest mei�nes Lebens damit verbringe, Bu�e zu tun. W�re das nicht besser, als mich sterben zu lassen?�
�Und was ist mit den Menschen, die Sie umgebracht ha�ben?�
�Was ist mit denen, die ich gerettet habe? Seit Stalins Tod ist die Sterblichkeitsrate in diesem Lager die niedrigste in ganz Ko�lyma. Es ist das Ergebnis der von mir angeordneten Erleichterun�gen. Ich habe eure Ruhepausen verl�ngert und die Arbeitstage gek�rzt. Ich habe die medizinische Versorgung verbessert. Jetzt stirbt man nicht mehr, wenn man krank ist. Man wird wieder gesund. Ihr wisst, dass das stimmt. Ihr konntet die Wachen doch nur besiegen, weil ihr besser ern�hrt, ausgeruhter und st�rker wart als je zuvor. Ich bin der Grund daf�r, dass dieser Aufstand �berhaupt gelingen konnte.
Der Anwalt war v�llig verdattert, dass sein ganzes System aus den Fugen war. Jetzt begab er sich zum Kommandanten. �Davon, dass man wieder eine Stufe hinuntergehen kann, war keine Rede.�
Dann wandte er sich der F�hrungstroika zu. �Oder sollen wir etwa das System �ndern?�
Der Anf�hrer mit dem kantigen Gesicht wandte sich an sei�ne Kameraden: �Der Kommandant bittet uns um eine zweite Chance. Gew�hren wir sie ihm?�
Zun�chst erhob sich ein Murren, das anschwoll, bis immer mehr Leute skandierten: �Keine zweite Chance! Keine zweite Chance! Keine zweite Chance!�
Der Kommandant senkte den Kopf. Er hatte ernsthaft geglaubt, genug Gutes getan zu haben, um verschont zu werden. Der An�walt wandte sich dem Verurteilten wieder zu. Es war ganz offen�sichtlich, dass sie den Prozess nicht ausreichend geplant hatten. Es war �berhaupt niemand zum Henker bestimmt worden. Der Kommandant nahm eine der getrockneten purpurnen Blumen aus seiner Tasche und schloss seine Faust darum. Er stieg bis zur obersten Treppenstufe hinauf und starrte in den n�chtlichen Himmel.
Mit vor Anspannung zitternder Stimme verk�ndete der An�walt: �Wir haben ein gemeinsames Urteil gef�llt. Nun m�ssen wir es auch gemeinsam vollstrecken.�
Waffen wurden gez�ckt, und der Anwalt trat aus der Schuss�linie. �Nur noch eines...�, rief der Kommandant.
Aus Pistolen und Gewehren peitschten Sch�sse auf, sogar ein Maschinengewehr ratterte los. Der Kommandant wurde zur�ck�geschleudert, als h�tte ein riesiger Finger ihn weggeschnippt. Er, der sein Leben lang ein Schurke gewesen war, hatte im Angesicht des Todes tats�chlich eine gewisse W�rde zur�ckgewonnen, und daf�r hassten ihn die Gefangenen. Sie wollten kein Wort mehr von ihm h�ren.
Die Stimmung unter den Leuten schlug um. Die anf�ngliche Begeisterung wich allgemeiner Beklommenheit. Der Anwalt r�usperte sich und fragte: �Was machen wir mit der Leiche?�
Einer schlug vor: �Wir lassen sie da liegen, damit der N�chste sie auch sehen kann.�
Alle stimmten zu. Man w�rde den Toten also liegen lassen.
�Wer ist der N�chste?�
Leo verkrampfte sich innerlich.
Georgi verk�ndete: �Leo Stepanowitsch Demidow.�
Der Anwalt lie� seinen Blick �ber die Wachmannschaft glei�ten. �Wer ist das? Wer hei�t Leo?�
Leo r�hrte sich nicht.
Der Anwalt rief: �Stehen Sie auf, sonst verlieren Sie das Recht auf einen ordentlichen Prozess und werden sofort exeku�tiert!�
Langsam und selbst daran zweifelnd, ob seine Beine ihn tra�gen w�rden, erhob Leo sich. Der Anwalt f�hrte ihn zur untersten Stufe, dort wandte Leo sich um und blickte seine Richter an.
�Geh�ren Sie zum Wachpersonal?�, fragte der Anwalt.
�Nein.�
�Was sind Sie dann?�
�Ich bin bei der Moskauer Miliz. Ich wurde inkognito her�geschickt. �
�Er ist ein Tschekist!�, rief Georgi.
In der Menge, die Geschworene und Richter in einem war, erhob sich emp�rtes Geschrei. Leo warf einen verstohlenen Blick auf seinen Ankl�ger. Georgi handelte auf eigene Faust. Lasar war in ein Schreiben vertieft, vielleicht eine Liste von Leos Ver�brechen.
�Trifft das zu?�, fragte der Anwalt. �Sind Sie ein Tschekist?�
�Fr�her war ich einer. Ich geh�rte zum MGB.�
�Nennt mir seine Verbrechen!�, rief der Anwalt.
Georgi machte den Anfang. �Er hat Lasar denunziert!�
Die Menge johlte. Leo nahm die erste Stufe.
Georgi fuhr fort: �Er hat Lasar gepr�gelt und seinen Kiefer zerschmettert!�
Leo wurde eine weitere Stufe hochgef�hrt.
�Er hat Lasars Frau verhaftet!�
Nun stand Leo schon auf der vierten Stufe.
�Er hat Mitglieder aus Lasars Gemeinde verhaftet!�
Jetzt, wo Leo auf der f�nften Stufe stand, fiel Georgi nichts mehr ein. Kein anderer im Lager kannte Leo. Keiner konnte ihn weiterer Verbrechen bezichtigen.
�Wir brauchen weitere Beispiele�, erkl�rte der Anwalt. �Noch sieben.�
Frustriert rief Georgi: �Er ist ein Tschekist!�
Der Anwalt sch�ttelte den Kopf. �Das z�hlt nicht.�
Nach den Regeln ihres eigenen Schuldsystems wusste nie�mand genug �ber Leo, um ihn zu verurteilen. Besser gesagt, niemand au�er Leo selbst. Die Gefangenen waren frustriert. Sie vermuteten ganz richtig, dass es bei einem Tschekisten doch noch weitaus mehr Beispiele f�r seine Verbrechen geben musste, die sie nur nicht kannten. Leo sp�rte, dass die Regeln ihn nicht sch�tzen w�rden. H�tte er nicht selbst mitangesehen, wie der Kommandant erschossen worden war, w�re er vielleicht die gan�ze Treppe hinaufgestiegen und h�tte seine Verfehlungen bekannt. Aber eloquenter als der Kommandant war er auch nicht. Sein Leben hing jetzt davon ab, dass die Regeln eingehalten wurden. Sie brauchten noch sieben Beispiele. Und die hatten sie nicht.
Georgi gab sich noch nicht geschlagen. �Wie viele Jahre warst du Tschekist?�, rief er.
Unmittelbar nach seinem Dienst in der Armee war Leo zur Geheimpolizei �berstellt worden. Er war f�nf Jahre lang ein Tschekist gewesen.
�F�nf Jahre.�
An die versammelten Str�flinge gewandt, fragte Georgi: �Kann man sich nicht vorstellen, dass er mindestens zwei Men�schen pro Jahr auf dem Gewissen hat? Ist es so schwer, das bei einem Tschekisten anzunehmen?�
Die Menge war ganz derselben Meinung: zwei Stufen f�r je�des Jahr. In der Hoffnung, dass er diese neue Regel f�r ung�ltig erkl�ren w�rde, wandte Leo sich an den Anwalt. Doch der zuck�te nur die Achseln, und damit war aus dem Vorschlag g�ltiges Recht geworden. Der Mann befahl Leo, die Treppe vollst�ndig hinaufzusteigen, und verurteilte ihn damit zum Tode.
Leo konnte nicht fassen, dass dies das Ende sein sollte. Er r�hrte sich nicht.
Jemand schrie: �Hoch mit dir, sonst erschie�en wir dich da, wo du stehst!�
Wie bet�ubt stieg Leo gehorsam die restlichen Stufen hin�auf und stellte sich �ber die von Kugeln durchsiebte Leiche des Kommandanten. Alle m�glichen Waffen waren auf ihn gerichtet.
Eine Stimme meldete sich zu Wort. Sie geh�rte dem Mann, der ihn hasste, es war die Stimme von Georgi. �Wartet!�
Leo sah, wie Lasar in Georgis Ohr fl�sterte. Ganz gegen seine Gewohnheit sprach Georgi die Worte diesmal nicht simultan aus. Als Lasar geendet hatte, sah Georgi ihn fragend an. Lasar bedeutete ihm, seine Worte weiterzugeben.
Georgi wandte sich Leo zu und fragte: �Lebt meine Frau wirklich?�
Georgi nahm ein Blatt Papier aus Lasars H�nden, ging damit zu Leo und hielt es ihm hin. Leo beugte sich hinab und erkannte Frajeras Brief. Da er Informationen enthielt, die nur sie wissen konnte, war es der Beweis, dass sie lebte. Timur hatte ihn bei sich gehabt. Offenbar hatten ihm die Wachm�nner, bevor sie ihn umgebracht hatten, seine Habseligkeiten abgenommen.
�Der Brief wurde in der Tasche eines Wachmanns gefunden. Du hast also doch nicht gelogen.�
�Nein.�
�Lebt sie noch?�
�Ja.�
Lasar winkte Georgi wieder zu sich und fl�sterte ihm ins Ohr. Mit z�gerndem Gehorsam verk�ndete Georgi: �Ich bitte darum, dass man ihn verschont.�
Moskau
Am selben Tag
Wie zwei Stra�enkatzen sa�en Soja und Malysch nebeneinander auf dem Dach von Wohnblock 424. Soja war die ganze Zeit dicht bei Malysch geblieben, um ihn zu beruhigen, dass sie nicht weglaufen w�rde. Mehrere anstrengende Kilometer weit waren sie durch die Kanalisation marschiert, hatten Leitern erklom�men und sich an mit einer dicken Schleimschicht �berzogenen W�nden vorbeigedr�ckt. Jetzt waren sie beide verschwitzt und genossen es, hier oben auf dem Dach zu sitzen, wo ein k�hler Abendhauch wehte. Soja sp�rte frische Energie in sich. Zum Teil lag das an der k�rperlichen Bet�tigung nach den vielen ein�t�nigen Tagen und N�chten, vor allem aber daran, dass sie mit Malysch zusammen war. Sie f�hlte sich wieder in die Kindheit zur�ckversetzt, die man ihr gestohlen hatte, an die Abenteuer und Streiche mit Freunden.
Soja warf einen verstohlenen Blick auf das Foto, das Malysch in H�nden hielt. �Wie hei�t sie?�
�Marina Njurina.�
Soja nahm sich das Foto. Marina Njurina war eine streng und pedantisch aussehende Frau Mitte drei�ig. Sie trug eine Uniform. Soja reichte Malysch das Bild zur�ck. �Wirst du sie t�ten?�
Malysch antwortete mit einem sp�rlichen Nicken, so als h�tte ihn jemand um eine Zigarette gebeten. Soja wusste nicht recht, ob sie ihm glauben sollte. Doch sie hatte gesehen, wie er den Gangster angegriffen hatte, der sie hatte vergewaltigen wollen. Mit dem Messer konnte er umgehen. Au�erdem wirkte er mit seiner verschlossenen, mundfaulen Art beileibe nicht wie einer, der leere Drohungen machte. �Warum?�
�Sie ist eine Tschekistin.�
�Was hat sie angestellt?�
Malysch sah sie verst�ndnislos an, er verstand die Frage nicht. Soja wollte es genauer wissen. �Hat sie Leute verhaftet? Hat sie sie verh�rt?�
�Keine Ahnung.�
�Du willst sie umbringen und wei�t noch nicht mal, was sie gemacht hat?�
�Habe ich dir doch gesagt. Sie ist eine Tschekistin.�
Soja beschlichen Zweifel, ob er �berhaupt �ber die Geheim�polizei Bescheid wusste. Behutsam fragte sie ihn: �Du wei�t gar nicht so viel �ber diese Leute, oder? �ber die Geheimpolizei, meine ich.�
�Ich wei�, was sie gemacht haben.�
�Und was?�
Malysch dachte einen Moment lang nach, dann antwortete er: �Die haben Leute verhaftet.�
�Solltest du nicht ein bisschen mehr �ber jemanden wissen, bevor du ihn umbringst?�
�Frajera hat es mir befohlen. Das reicht mir als Grund.�
�Das ist genau das, was die Tschekisten auch �ber die Dinge sagen w�rden, die sie getan haben. Dass sie nur Befehle befolgt haben.�
Malysch wurde langsam w�tend. �Frajera hat gesagt, du darfst mir helfen. Also darfst du mir helfen. Sie hat nichts davon gesagt, dass du einen Haufen bl�der Fragen stellen sollst. Ich kann dich auch wieder zur�ck in deine Zelle bringen, wenn dir das lieber ist.�
�Werd doch nicht gleich w�tend. Ich sage doch blo�, dass ich nachgefragt h�tte. Warum bringen wir die Frau um?�
Malysch faltete das Foto zusammen und steckte es zur�ck in seine Tasche. Soja hatte es zu weit getrieben. Vor lauter Auf�regung und ohne ihr loses Maul im Zaum zu halten, hatte sie den Bogen �berspannt. Also schwieg sie und hoffte nur, dass sie nicht alles vermasselt hatte. Eigentlich hatte sie mit einer gereizten Antwort gerechnet und war deshalb umso erstaunter, als Malysch sich jetzt ganz leise und beinahe sch�chtern an sie wandte.
�Was sie getan hat, stand auf einer Liste. Ich wollte aber kei�nen fragen, ob er sie mir vorliest.�
�Du kannst nicht lesen?�
Er sch�ttelte den Kopf und beobachtete dabei genau, wie sie reagierte.
Weil sie sp�rte, wie unsicher er war, versuchte sie, ein m�g�lichst unbeteiligtes Gesicht zu machen. �Bist du nie zur Schule gegangen?�
�Nein.�
�Was war mit deinen Eltern?�
�Die sind gestorben. Ich bin mehr oder weniger auf Bahnh��fen gro� geworden. Bis dann Frajera auftauchte.�
Irgendwann fragte Malysch: �Findest du es schlimm, dass ich nicht lesen kann?�
�Du hattest eben nie die Gelegenheit, es zu lernen.�
�Stolz bin ich nicht gerade drauf.�
�Wei� ich.�
�Ich w�rde auch gerne lesen und schreiben k�nnen. Eines Tages werde ich es lernen.�
�Ich wette, das lernst du im Handumdrehen.�
Noch etwa eine Stunde sa�en sie so da und sahen zu, wie die Fenster in den umliegenden H�usern nach und nach dun�kel wurden, weil die Bewohner ins Bett gingen. Endlich stand Malysch auf und reckte sich, wie ein nachtaktives Tier, das erst wach wurde, wenn alle anderen schliefen. Aus der Tasche sei�ner ausgebeulten Hose bef�rderte er eine Rolle festen Drahtes zutage und rollte ihn auf. Am Ende des Drahtes befestigte er eine stumpfe Spiegelscherbe, die er so lange mit dem Draht um�wickelte, bis sie hielt. Vorsichtig bog er den Spiegel, bis er sich in einem F�nfundvierzig-Grad-Winkel neigte. Dann lief er zur Dachkante des Geb�udes, legte sich auf den Bauch und lie� den Draht hinab, bis der Spiegel sich vor Marina Njurinas Schlaf�zimmerfenster befand. Soja legte sich neben ihn und sp�hte ebenfalls hinunter.
Die Vorh�nge waren zwar zugezogen, aber es gab einen klei�nen Spalt. In dem dunklen Zimmer konnte Malysch eine Gestalt im Bett erkennen. Er zog den Draht hoch, nahm den Spiegel ab, rollte den Draht auf und verstaute alles wieder in seiner Hosen�tasche. �Wir gehen von hinten rein.�
Soja nickte.
Malysch z�gerte einen Moment, dann murmelte er: �Du kannst auch hierbleiben.�
�Ganz allein?�
�Ich verlasse mich darauf, dass du nicht abhaust.�
�Malysch, ich hasse Tschekisten mindestens so sehr wie Fra�jera. Ich bleibe bei dir.�
Sie zogen sich die Schuhe aus und stellten sie ordentlich ne�beneinander an die Dachkante. Dann kraxelten sie, mit dem Re�genrohr als Kletterstange, die Ziegelwand hinunter. Es war ein kurzer Abstieg, kaum ein Meter. Malysch erreichte den Fenster�sims so leichtf��ig, als h�tte er eine Leiter benutzt. Soja folgte ihm z�gernd und versuchte, nicht hinabzuschauen. Sie waren im sechsten Stock, jeder Absturz w�re t�dlich gewesen. Malysch lie� ein Messer aufschnappen und hob den Riegel hoch, dann �ffnete er das Fenster und hievte sich in die Wohnung. Da er bef�rchtete, Soja k�nnte L�rm machen, wandte er sich um und streckte ihr eine Hand hin. Sie wehrte ab und lie� sich vorsichtig auf den Dielenboden gleiten.
Sie waren ins Wohnzimmer eingedrungen, einen gro�en Raum. �Lebt sie allein?�, fl�sterte Soja Malysch ins Ohr.
Er nickte knapp, weil er jetzt keine Fragen gebrauchen konn�te, egal welche. Er wollte absolute Stille.
Die Gr��e der Wohnung war beeindruckend. Soja brauchte nur die Quadratmeter an leer stehender Bodenfl�che zusammen�zurechnen, um sich ausmalen zu k�nnen, wie viele Verbrechen diese Frau auf dem Kerbholz haben musste.
Die T�r zum Schlafzimmer war zu. Malysch streckte den Arm aus und griff nach der Klinke. Bevor er die T�r aufmachte, gab er Soja Zeichen, au�er Sichtweite im Wohnzimmer zur�ckzu�bleiben.
Lieber w�re sie ihm gefolgt, aber sie merkte, dass Malysch sie nicht weiter mitkommen lassen w�rde. Also nickte sie und zog sich zur�ck, w�hrend Malysch die T�r �ffnete.
* * *
Malysch betrat das dunkle Zimmer. Marina Njurina lag auf der Seite im Bett. Malysch zog sein Messer und schlich sich an. Dann hielt er inne, so als balanciere er am Rand einer Klip�pe. Die Frau da im Bett war viel �lter als die auf dem Bild. Sie hatte graue Haare und ein faltiges Gesicht und war mindestens sechzig Jahre alt. Er z�gerte. War er hier vielleicht falsch? Nein, die Adresse stimmte. Vielleicht war das Foto schon vor vielen Jahren aufgenommen worden. Er beugte sich weiter vor und holte zum Vergleich das zusammengefaltete Foto hervor. Das Gesicht der Alten lag im Schatten - hundertprozentig sicher war er sich nicht. Im Schlaf sah ja jeder aus wie ein Unschulds�lamm.
Pl�tzlich machte die Njurina die Augen auf, ihr Arm schnellte unter der Decke hervor. Sie hatte eine Waffe in der Hand, mit der sie Malysch genau zwischen die Augen zielte. Als sie sich aus dem Bett schwang, kam ein gebl�mtes Nachthemd zum Vorschein. �Zur�ck!�
Malysch gehorchte und hob die Arme. In einer Hand hatte er sein Messer, in der anderen das Foto. Er sch�tzte ab, ob er schnell genug sein w�rde, sie zu entwaffnen, doch sie erriet seine Gedanken, hob die Pistole und feuerte auf das Messer in seiner Hand, dabei schoss sie ihm eine Fingerkuppe weg. Er schrie auf, das Messer fiel klackernd zu Boden. Malysch umklammerte seinen blutenden Finger.
�Der Schuss wird die Wachen alarmieren�, erkl�rte die Njurina. �T�ten werde ich dich nicht. Stattdessen werde ich sie dich foltern lassen. Vielleicht mache ich ja sogar mit. Ich werde herausfinden, wo deine Spie�gesellen stecken, und dann erledigen wir die ebenfalls. Habt ihr wirklich geglaubt, wir w�r�den einfach nur auf der faulen Haut liegen und darauf warten, dass ihr Drecksbande uns einen nach dem anderen um die Ecke bringt?�
Malysch machte einen Schritt zur�ck. Die Njurina erhob sich.
�Wenn du glaubst, dass du wegrennen kannst und dein Tod mit einer Kugel im R�cken leichter wird, dann lass dich eines Besseren belehren. Ich werde dir den Fu� wegschie�en. Vielleicht sollte ich das sogar jetzt sofort machen, nur um sicherzugehen.�
* * *
Sojas Herz raste so sehr, dass sie kaum Luft bekam. Jetzt hie� es schnell handeln. Vor allem musste sie schleunigst aus der Zim�mermitte weg und nicht stocksteif dastehen wie eine dumme G�re. Die Alte konnte sie unm�glich gesehen haben. Soja sah sich um, aber der einzige Platz, wo sie sich verstecken konnte, befand sich unter dem Schreibtisch. R�ckw�rts kam der ver�wundete Malysch aus dem Schlafzimmer auf sie zu, von seiner Hand tropfte Blut. Er vermied es, sich zu ihr umzudrehen, damit er sie nicht verriet. Sie war seine einzige Chance. Die Frau war schon fast an der T�r. Soja flitzte unter den Schreibtisch.
Aus ihrem Versteck heraus erhaschte sie zum ersten Mal einen Blick auf die Frau. Sie war viel �lter als auf dem Foto. Trotzdem war sie es - dasselbe strenge Gesicht, dieselbe steife Haltung. Sie grinste h�misch, offenbar genoss sie die Macht, die die Waffe ihr verlieh. Sie folgte Malysch auf dem Fu�e. Wenn Soja nichts un�ternahm, w�rden die Wachen kommen und Malysch verhaften. Sie selbst w�re dann gerettet und w�rde mit Elena und Raisa wiedervereint sein - und mit Leo. Wenn sie nichts unternahm, w�re ihr Leben genau wie zuvor.
Soja sprang mit einem Schrei in Richtung der Waffe. Marina Njurina, die damit nicht gerechnet hatte, schwenkte die Pistole in ihre Richtung. Soja umklammerte die Hand der Frau und biss ihr, so fest sie konnte, ins Handgelenk. Direkt neben ihrem Ohr ging ein ohrenbet�ubender Schuss los. Eine Kugel schlug in die Wand ein, Soja konnte die Ersch�tterung des R�cksto�es in ihrem Gebiss sp�ren. Mit der freien Hand schlug die Frau auf sie ein, immer wieder, bis Soja zu Boden ging.
Hilflos schaute Soja hinauf, wie die Alte ihre Waffe auf sie richtete. Doch noch bevor sie abdr�cken konnte, machte Ma�lysch einen Satz auf ihren R�cken und dr�ckte ihr die Finger in die Augen. Sie schrie auf, lie� die Waffe fallen und verkrallte sich in seine H�nde, worauf er nur umso fester dr�ckte. Dabei warf er Soja einen hastigen Blick zu.
�Die T�r!�
W�hrend die kreischende Frau sich um die eigene Achse drehte, rannte Soja zur Eingangst�r und verriegelte sie. Die Wachen kamen die Treppe hinaufgetrampelt. Als Soja sich um�blickte, sah sie, dass die Njurina mittlerweile in die Knie gegan�gen war, Malysch hockte immer noch auf ihrem R�cken. Als er seine Finger wegnahm, hinterlie� er zwei blutige H�hlen, wo zuvor ihre Augen gewesen waren. Dann hob er die Waffe auf und winkte Soja, ihm zu folgen. Sie rannten zum Fenster.
Hinter ihnen traten die Wachen gegen die T�r. Malysch feuerte durch das Holz, um sie aufzuhalten. Als die Patronen�kammer leer war, lie� er die Waffe fallen und folgte Soja hinaus auf den Fenstersims. Die Antwort der Wachen erfolgte in Form breit gestreuter Maschinengewehrsalven, �berall im Wohnzim�mer schlugen Kugeln ein. Doch die beiden fingen schon an, die Au�enwand hochzuklettern. Soja erreichte das Dach als Erste und zog sich hoch. Sie h�rte, wie die T�r zum Wohnzimmer eingeschlagen wurde und die Wachen aufschrien angesichts des blutigen Anblicks, der sich ihnen bot.
Sie beugte sich nach unten und half Malysch hoch. Als sie beide auf dem Dach waren, schnappten sie sich ihre Schuhe und wollten loslaufen. Doch da hielt Malysch sie am Handgelenk fest.
�Warte!�
Als er am Fenster unter ihnen die Wachen h�rte, zog er eine Schieferplatte aus dem Dach und wartete. Einer der M�nner umklammerte den Dachsims. Als er sich gerade hochzog, schlug Malysch ihm die Platte ins Gesicht. Der Wachmann lie� los und st�rzte in die Seitenstra�e unter ihnen.
�Lauf!�, rief Malysch.
Sie hetzten �ber das Dach und sprangen �ber die L�cke bis zum Nachbargeb�ude. Als sie hinuntersp�hten, sahen sie, wie in der Stra�e unter ihnen die Beamten ausschw�rmten.
�Es war eine Falle�, erkl�rte Malysch. �Sie haben die Woh�nung �berwacht.�
Sie hatten damit gerechnet, dass die Njurina ein Ziel sein w�rde.
Da ihre eigentlich vorgesehene Fluchtroute versperrt war, mussten sie nun in das Wohnhaus unter ihnen eindringen und in ein Schlafzimmer klettern.
�Feuer!�, schrie Malysch. In den �berf�llten Geb�uden mit ihrem uralten Fachwerk und der fehlerhaften Elektrik war die Angst vor Feuer allgegenw�rtig. Malysch nahm Sojas Hand und rannte hinaus auf den Flur. Beide schrien sie: �Feuer!�
Selbst ohne Rauch war der Flur in Sekunden voller Men�schen. Rasch breitete sich die Panik von ganz allein �ber das �brige Geb�ude aus. Auf der Treppe lie�en Soja und Malysch sich auf die H�nde und Knie fallen und krochen zwischen den Beinen der Leute hindurch.
Drau�en auf der Stra�e str�mten die Einwohner aus dem Geb�ude und vermischten sich mit den KGBlern und der Miliz. Soja umklammerte den Arm eines Mannes und tat so, als sei sie vollkommen ver�ngstigt. Malysch machte es ihr nach, und der mitf�hlende Mann f�hrte sie an den Beamten vorbei, die die drei f�r eine Familie hielten. Sobald sie frei waren, lie�en Soja und Malysch die Arme des Mannes los und nahmen Rei�aus.
Sie liefen bis zum n�chsten Gulli, zogen den Stahldeckel hoch und kletterten hinab ins Abwassersystem. Unten angekommen, riss Soja ein St�ck Stoff von ihrem Hemd und bandagierte damit Malyschs blutenden Finger, bis er so dick war wie eine Wurst. Immer noch au�er Atem, fingen sie an zu lachen.
Kolyma
Gulag 57
12. April
Das Morgenlicht war so strahlend klar, wie Leo es noch nie gesehen hatte. Ein perfekter blauer Himmel und eine bl�tenwei��e Hochebene. Er stand auf dem Dach der Verwaltungsbaracke und hielt sich die �berreste des Fernglases an die Augen, das er aus dem Feuer gerettet hatte. Nur noch eine der gesprungenen Linsen war zu gebrauchen. Wie ein Pirat am Bug eines Schiffes suchte Leo den Horizont ab und entdeckte am �u�ersten Rand der Ebene eine Bewegung. Dann erkannte er Lastwagen, Panzer und Zelte - ein Milit�rlager. Am Tag zuvor war die Regionalver�waltung von den brennenden Wacht�rmen, diesen Leuchtfeuern des Widerstands, alarmiert worden und hatte �ber Nacht f�r ihre Gegenoffensive ein Feldlager f�r mindestens f�nfhundert Soldaten errichtet. Denen waren die Str�flinge zwar nicht zah�lenm��ig, wohl aber an Waffen weit unterlegen, denn alles, was sie gefunden hatten, waren zwei oder drei schwere Maschinen�gewehre, ein paar Patronengurte und eine Handvoll Gewehre und Handfeuerwaffen gewesen. Gesch�tzen aller Art aber war das Lager schutzlos ausgeliefert, und der Stacheldrahtzaun bot gegen anrollende Panzerfahrzeuge ohnehin keine Abwehr. Leo beendete seine tr�be Analyse der Lage und reichte Lasar das Fernglas.
Eine ganze Anzahl von Gefangenen hatte sich auf dem Dach versammelt. Seit der Zerst�rung der wachta war dies der h�chs�te Aussichtspunkt im ganzen Lager. Neben Lasar und Georgi waren auch noch die anderen beiden Anf�hrer und ihre engsten Anh�nger zugegen, alles in allem zehn Mann.
Der wory-Chef fragte Leo: �Du geh�rst doch auch zu denen. Was machen die jetzt? Kann man mit denen verhandeln?�
�Ja, aber man kann sich auf nichts verlassen, was sie sagen.�
Der junge H�ftlingsanf�hrer trat vor. �Und was ist mit der Rede? Wie sind doch nicht mehr unter Stalins Knute. Unser Land hat sich ge�ndert. Jetzt k�nnen wir auf unsere Lage aufmerksam machen. Man hat uns ungerecht behandelt. Viele Urteile m�ssen revidiert werden. Man sollte uns freilassen!�
�Vielleicht zwingt die Rede sie sogar dazu, ernsthaft zu ver�handeln. Aber von Moskau sind wir weit weg. M�glicherweise haben die Beh�rden in Kolyma beschlossen, diesen Aufruhr unter den Teppich zu kehren, weil sie verhindern wollen, dass liberalere Einfl�sse aus Moskau hier Fu� fassen.�
�Soll das hei�en, die wollen uns umbringen?�
�Der Aufstand bedroht ihre gesamte Existenz.�
Von unten rief ein Gefangener: �Sie funken uns an.�
Die auf dem Dach dr�ngten sich um die Leiter und hatten es eilig, nach unten zu kommen.
Leo stieg als Letzter langsam hinab. Schneller konnte er nicht. Sobald er die Knie beugte, verursachte es ihm heftige Schmerzen, weil die verletzte Haut angespannt wurde. Unten angekommen, war er schwei�gebadet und au�er Atem. Die anderen standen bereits vor dem Funkger�t.
Ein Funkger�t war das einzige Kommunikationsmittel zwi�schen den einzelnen Lagern und der Basis in Magadan. Einer der H�ftlinge, der sich ein wenig damit auskannte, hatte �ber�nommen. Er trug einen Kopfh�rer und wiederholte alles, was er verstand.
�Regionaldirektor Abel Present... er will mit dem sprechen, der hier das Sagen hat.�
Ohne weitere Diskussion nahm sich der junge Anf�hrer das Mikrofon und fing an zu deklamieren: �Gulag 57 ist in der Hand der Gefangenen! Wir haben uns gegen die Wachmann�schaft erhoben. Sie haben uns geschlagen und aus schierem Mutwillen get�tet. Damit ist jetzt Schluss ...�
Leo unterbrach ihn: �Erw�hnen Sie, dass die Wachen am Leben sind.�
Der Mann wedelte Leo beiseite und berauschte sich an der eigenen Wichtigkeit. �Wir stimmen vollkommen mit Chruscht�schows Rede �berein. In seinem Namen verlangen wir, dass der Fall jedes H�ftlings neu aufgerollt wird. Wir verlangen, dass allen, denen Freiheit zusteht, auch Freiheit gew�hrt wird. Wir verlangen, dass die, die sich wirklich etwas haben zuschulden kommen lassen, menschlich behandelt werden. Wir verlangen dies im Namen unserer revolution�ren Ahnen. Durch eure Ver�brechen ist unsere glorreiche Sache korrumpiert worden. Wir sind die Erben der Revolution! Wir verlangen, dass ihr um Ver�gebung bittet! Und schickt uns Lebensmittel, und zwar anst�n�dige, keinen Gef�ngnisfra�.�
Leo war fassungslos. Kopfsch�ttelnd bemerkte er: �Wenn Sie uns unbedingt alle ins Grab bringen wollen, dann verlangen Sie Kaviar und Prostituierte. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, sagen Sie denen lieber, dass die Wachen noch leben.�
Verdrossen f�gte der Mann hinzu: �Ich sollte erw�hnen, dass die Wachen am Leben sind. Wir halten sie unter menschlichen Bedingungen fest und behandeln sie besser, als sie uns behandelt haben. Solange ihr uns nicht angreift, passiert ihnen nichts. F�r den Fall, dass wir doch angegriffen werden, haben wir Vorsorge getroffen, dass sie bis auf den letzten Mann sterben.�
Die Stimme aus dem Funkger�t antwortete knisternd, und der Funker wiederholte die Worte. �Er will einen Beweis, dass sie noch leben. Wenn wir ihm den liefern, h�rt er sich unsere Forderungen an.�
Leo trat nahe an Lasar heran, der hier die einzige Stimme der Vernunft war. �Wir sollten unbedingt die verwundeten W�rter hin�berschicken. Ohne medizinische Versorgung werden sie sterben.�
Der wory-Anf�hrer, dem es nicht passte, dass er �bergangen wurde, widersprach. �Wir sollten ihnen gar nichts geben. Das w�re ein Zeichen von Schw�che.�
Leo hielt dagegen: �Wenn die W�rter an ihren Verletzun�gen sterben, sind sie f�r euch wertlos. Auf diese Weise holt ihr wenigstens noch einen gewissen Nutzen aus ihnen heraus.�
Der Anf�hrer grinste h�misch: �Und ganz bestimmt willst auch du in dem Lastwagen sitzen, der sie rausbringt, stimmt's?�
Er hatte richtig vermutet, denn Leo nickte. �Ja.�
Lasar fl�sterte in Georgis Ohr, und dieser wiederholte die Worte mit unverhohlenem Erstaunen. �Und ich m�chte ihn begleiten.�
Alle wandten sich zu Lasar um.
Der fl�sterte weiter in Georgis Ohr. �Bevor ich sterbe, will ich noch einmal meine Frau und meinen Sohn sehen. Leo hat sie mir weggenommen. Und er ist der Einzige, der uns wieder vereinen kann.�
* * *
Der Laster wurde mit den am schlimmsten verwundeten W�r�tern beladen. Insgesamt waren es sechs, von denen keiner die n�chsten vierundzwanzig Stunden ohne �rztliche Hilfe �berste�hen w�rde. Auf Holzbohlen, die als Krankentragen herhielten, schleppte man sie aus der Baracke, beim letzten fasste Leo mit an. Als der Mann im Wagen lag, waren sie startbereit.
Da erhaschte Leo einen Blick auf die Uhr des letzten W�rters. Sie war billig und vergoldet. Das einzig Bemerkenswerte an ihr war, dass sie Timur geh�rt hatte. Kein Zweifel: Leo hatte diese Uhr schon tausend Mal gesehen und sich Timurs Geschichte dar�ber angeh�rt, wie sein Vater sie als Familienerbst�ck ausge�geben hatte, obwohl sie eigentlich wertlos war. Leo hockte sich hin und fuhr mit der Fingerkuppe �ber das zersprungene Glas. Dann starrte er den verletzten Mann an. Die Augen des Mannes flackerten nerv�s. Offenbar begriff er, dass Leo wusste, was es mit der Uhr auf sich hatte.
�Hast du die meinem Freund weggenommen?�, fragte Leo.
Der Beamte schwieg.
�Die hat meinem Freund geh�rt.�
Leo sp�rte, wie Wut in ihm aufstieg.
�Es war seine Uhr.�
Der Beamte fing an zu zittern.
Leo tippte auf die Uhr. �Ich muss sie dir wieder abnehmen.�
Er versuchte, das Armband der wertlosen Uhr aufzumachen. Dabei hob er ein Bein an und dr�ckte dem Mann sein Knie gegen die verletzte, blutverkrustete Brust. Er legte sein ganzes Gewicht darauf. �Du musst wissen ... sie ist n�mlich ein Famili�enerbst�ck ... jetzt geh�rt sie Timurs Frau ... und seinen S�hnen ... seinen zwei Jungs ... diesen beiden wunderbaren S�hnen ... sie geh�rt jetzt ihnen, weil du ihren Vater umgebracht hast... du hast meinen Freund umgebracht.�
Der Beamte begann, aus Mund und Nase zu bluten. Seine Arme strichen schwach �ber Leos Bein, er versuchte es wegzu�dr�cken. Doch Leos Knie r�hrte sich nicht, noch verringerte er den Druck auf den verletzten K�rper. Vor Schmerzen im Knie schossen ihm Tr�nen in die Augen. Tr�nen um Timur waren es nicht. Es war Hass und Rache, und es war so m�chtig, dass Leo immer fester zudr�ckte. Der Stoff seiner Hose war schon vom Blut des Mannes getr�nkt. Von seinem erschlafften Arm zog er die Uhr ab. Die �brigen f�nf M�nner auf der Ladefl�che starrten Leo angsterf�llt an.
Er marschierte an ihnen vorbei und rief den H�ftlingen drau��en zu: �Einer von den Beamten ist tot. Wir haben also noch Platz f�r einen anderen.�
Keiner der H�ftlinge wunderte sich dar�ber. W�hrend sie den Toten abluden, starrte Leo auf die Uhr. Als die Wut endlich ab�flaute, f�hlte Leo sich pl�tzlich nur noch matt, und nicht etwa aus Bedauern oder Scham, sondern aus schierer Ersch�pfung. Denn die Rachlust, dieses m�chtige Stimulans, war versiegt. Eine solche tiefe Wut war es wohl, die Frajera ihm selbst gegen�ber hegte.
Leo warf einen verstohlenen Blick auf den W�rter, der f�r den Beamten nachr�ckte, den er gerade get�tet hatte. Der Arm des Mannes war in einen blutigen Verband gewickelt. Hier stimmte etwas nicht. Der Mann wirkte nerv�s, vielleicht hatte der auch etwas mit Timurs Tod zu tun gehabt. Leo streckte den Arm vor und hielt den Mann an. Er griff nach dem Verband und schob ihn beiseite. Ein langer, sauberer Schnitt verlief vom Ellbogen bis zur Hand, ganz offensichtlich hatte er ihn sich selbst zuge�f�gt. Dasselbe traf auf die Wunden am Kopf zu. �Bitte ...�, fl�sterte der Mann.
Wenn er erwischt wurde, w�rde man ihn erschie�en. Wenn die Gefangenen anfingen zu glauben, dass die W�rter ihre Men�schenfreundlichkeit ausnutzten, eine Menschenfreundlichkeit, die man ihnen selbst nie entgegengebracht hatte, dann geriet die gesamte Operation in Gefahr. Nachdem er den anderen W�rter umgebracht hatte, z�gerte Leo jetzt nur eine Sekunde, dann lie� er den Mann auf die Ladefl�che.
Indem er sich Georgis Stimme lieh, richtete Lasar sich an die anderen H�ftlinge und erkl�rte ihnen, warum er sie verlassen wollte. �Ich gehe nicht davon aus, dass ich noch lange lebe. Zum K�mpfen bin ich zu schwach. Ich danke euch daf�r, dass ihr mich nach Hause gehen lasst.�
Der junge Anf�hrer antwortete: �Du hast vielen M�nnern geholfen, Lasar. Auch mir. Diesen Wunsch hast du dir redlich verdient.�
Die anderen Gefangenen stimmten ihm lautstark zu. Leo sah sich Lasar genau an. �Wir m�ssen uns als W�rter verkleiden.�
Gemeinsam zogen Leo, Lasar und Georgi drei toten W�rtern ihre Uniformen aus. Hastig zogen sie sich um, weil sie bef�rchte�ten, dass die anderen Gefangenen es sich in letzter Sekunde noch anders �berlegen k�nnten. In einer schlecht sitzenden Uniform �bernahm Leo das Steuer. Georgi sa� in der Mitte und Lasar auf der anderen Seite. Die Gefangenen �ffneten das Tor.
Pl�tzlich schlug der junge Anf�hrer mit der Hand gegen die Fahrert�r. Wenn es n�tig war, w�rde Leo einfach Gas geben. Doch der Mann sagte: �Sie haben sich bereit erkl�rt, die Ver�wundeten als Zeichen unseres guten Willens anzuerkennen. Viel Gl�ck, Lasar. Ich hoffe, Sie finden Ihre Frau und Ihren Sohn.�
Damit trat er von dem Laster zur�ck. Leo legte den Gang ein und fuhr zwischen den �berresten der beiden Wacht�rme hinaus, durch die Umz�unung und auf die Landstra�e, die direkt zum Feldlager auf der anderen Seite der Hochebene f�hrte.
* * *
So schnell er konnte, rannte der Funker auf das Au�entor zu. Als er ankam, schauten die Gefangenen schon dem Laster hin�terher, der gerade auf die Landstra�e fuhr. Au�er Atem rief der Funker: �Sind sie schon weg? Aber wir haben es noch gar nicht dem Regionalkommandanten durchgegeben. Er wei� gar nicht, dass wir die Kranken und Verwundeten losschicken. Soll ich zur�cklaufen und ihn informieren?�
Der junge Anf�hrer packte den Funker am Arm und hielt ihn fest. �Wir informieren niemanden. Mit M�nnern, die weglaufen wollen, k�nnen wir keine Revolution entfachen. Wir m�ssen an Lasar ein Exempel statuieren. Die anderen m�ssen begreifen, dass es zum Kampf keine Alternative gibt. Wenn die Soldaten auf ihre eigenen verwundeten Wachleute das Feuer er�ffnen, dann ist es eben so.
Am selben Tag
Langsam fuhr Leo �ber die schmale Landstra�e auf das Feld�lager zu. Als sie die halbe Strecke zur�ckgelegt hatten und es nur noch zwei Kilometer bis zum gegnerischen Lager waren, ent�deckte er pl�tzlich am Horizont ein einzelnes Rauchw�lkchen.
Im n�chsten Moment war es nicht mehr zu sehen, verschlun�gen von einer Staubwolke. Nur wenige Meter vor dem Laster riss eine Explosion die Stra�e auf. Erde, Eis und Splitter prasselten gegen die Windschutzscheibe. Leo schlug das Lenkrad scharf ein und wich dem Krater aus. Das rechte Vorderrad rutschte von der Fahrbahn, und der ganze Laster erbebte. Beinahe w�re er umge�st�rzt, nur auf zwei R�dern schlitterte er durch die Staubwolke. Mit aller Kraft riss Leo das Lenkrad erneut herum, brachte den Wagen wieder in die Horizontale und lenkte ihn schleudernd zur�ck auf die Stra�enmitte. Dann warf er einen Blick in den R�ckspiegel und starrte auf den Krater in der Fahrbahn.
Ein weiteres Rauchw�lkchen erschien am Horizont, dann ein zweites und drittes. Die da dr�ben feuerten einen M�rser nach dem anderen ab. Leo trat das Gaspedal voll durch, um unter der Flugbahn hindurch zu beschleunigen und den Sekunden�bruchteil zwischen Abschuss und Einschlag auszunutzen. Der Laster machte einen Satz nach vorn. Der Motor heulte auf, doch sie wurden nur langsam schneller. Erst jetzt wandten sich Lasar und Georgi erstaunt zu Leo um. Bevor sie noch etwas fragen konnten, schlug die erste Granate direkt hinter ihnen ein - so nah, dass das Heck des Lasters emporgehoben wurde. Einen Augenblick lang befanden sich lediglich die Vorderr�der auf der Stra�e, und Leo starrte pl�tzlich unmittelbar auf die Fahrbahn, da das F�hrerhaus steil nach vorn geneigt war. Er rechnete fest damit, dass das Fahrzeug sich �berschlagen und auf dem R��cken landen w�rde, und war ebenso �berrascht wie erleichtert, als das Heck dann doch mit einem heftigen Sto� wieder aufsetz�te und dabei alle aus den Sitzen schleuderte. M�hsam versuchte Leo, das Lenkrad wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die zweite Granate schlug ein St�ck neben der Fahrbahn ein, lie� aber scharfe Felsbrocken auf den Laster herabregnen und zer�tr�mmerte das Seitenfenster.
Leo schlug das Lenkrad hart ein und verlie� gerade noch rechtzeitig die Stra�e, als auch schon die dritte Granate ein�schlug. Sie war perfekt gezielt und detonierte genau dort, wo der Wagen sich eben noch befunden hatte. Die Fahrbahn wurde aufgerissen, und Tr�mmer flogen durch die Luft.
W�hrend sie holpernd �ber die unebene, vereiste Tundra ras�ten, schrie Georgi: �Warum schie�en die auf uns?�
�Eure Kameraden haben euch belogen! Sie haben uns nicht angek�ndigt!�
Durch die R�ckspiegel sah Leo die verwundeten, blutenden W�rter, die v�llig verst�rt und in Panik aus der Plane lugten und zu verstehen versuchten, warum sie beschossen wurden. Mit dem Ellbogen zerschlug Leo das zerschossene Seitenfenster, streckte den Kopf heraus und schrie ihnen zu: �Eure Uniformen! Ihr m�sst damit winken!�
Zwei der W�rter zogen ihre Jacken aus und schwenkten sie wie Fahnen.
Vier weitere Rauchw�lkchen platzten am Horizont.
Auf der Tundra konnte Leo nicht beschleunigen. So blieb ihm nichts, als den Wagen in der Spur zu halten und zu hoffen. Er stellte sich die Flugbahn der Granaten vor, wie sie zun�chst auf�stiegen und ihnen dann heulend entgegenrasten. Die Zeit schien stehen zu bleiben, eine Sekunde kam ihm vor wie eine Minute. Dann krachten die Explosionen los.
Der Lastwagen holperte weiter. Durch den R�ckspiegel sah Leo vier Staubs�ulen aufsteigen. Er grinste. �Wir liegen unter�halb ihres Schusswinkels.� Erleichtert schlug er aufs Lenkrad. �Wir sind zu dicht dran, als dass sie uns treffen k�nnten!�
Doch die Erleichterung w�hrte nicht lange. Vor ihnen, am �u�ersten Rand des Feldlagers, schwenkten zwei Panzer ihre Gesch�tzt�rme in Richtung des Lasters.
Der ihnen n�here feuerte, und ein orangefarbenes M�ndungs�feuer blitzte auf. Unweigerlich hielt Leo den Atem an. Aber die Explosion blieb aus. Mit einem Blick durch den Seitenspiegel erkannte er, dass das Geschoss die Plane des Lastwagens durch�schlagen hatte und auf der anderen Seite wieder ausgetreten war. Den Fehler w�rde der Sch�tze kein zweites Mal machen. Mit der n�chsten Granate w�rde er genau auf das blecherne F�hrerhaus zielen und auch mit Sicherheit treffen.
Mit aller Kraft trat Leo auf die Bremse, warf die T�r auf und kletterte auf das Dach des F�hrerhauses. Dort riss er sich seine Jacke vom Leib, wedelte damit in der Luft und schrie: �Ich bin einer von euch!�
Die beiden Panzer krochen gleichzeitig weiter, ihre Ketten knirschten �ber den Tundraboden. Leo blieb auf dem Dach des F�hrerhauses stehen und wedelte weiter seine Uniform hin und her. Als sie nur noch hundert Meter entfernt waren, hielt einer der Panzer endlich an. Die Luke wurde hochgeklappt. Der Fah�rer sp�hte hinaus, das Maschinengewehr im Anschlag.
�Wer seid ihr?�, schrie er.
�Einer von den W�rtern! Ich habe da hinten drauf verwun�dete Kollegen.�
�Warum habt ihr uns nicht �ber Funk informiert?�
�Die H�ftlinge haben uns gesagt, das h�tten sie getan. Sie haben behauptet, sie h�tten mit euch gesprochen. Sie haben uns reingelegt! Und euch auch! Sie wollten, dass ihr eure eigenen M�nner erschie�t.�
Der zweite Panzer kreiste den Laster von hinten ein, der Gesch�tzturm war geradewegs auf die Insassen gerichtet. Die verwundeten W�rter zeigten auf ihre Uniformen. Da wurde die Luke des zweiten Panzers ge�ffnet, und der Fahrer rief: �Alles klar!�
* * *
Am Rande des Feldlagers hielt Leo den Laster an. Die Verletzten wurden abgeladen und in ein Sanit�tszelt gebracht. Sobald der Letzte herunter war, w�rde Leo den Motor wieder anlassen und �ber die Landstra�e direkt zum Hafen von Magadan fahren. Jetzt war die Ladefl�che leer. Sie konnten los. Da tippte Georgi Leo auf den Arm. Ein Soldat n�herte sich.
�Sind Sie hier der Rangh�chste?�
�Ja.�
�Der Direktor will mit Ihnen sprechen. Kommen Sie mit.�
Leo bedeutete Lasar und Georgi, im Wagen zu bleiben.
Der Befehlsstand befand sich unter einer schneewei�en Tarn�plane. Offiziere inspizierten durch Ferngl�ser die Hochebene. Detailkarten der Region waren ausgebreitet, ebenso Lagepl�ne des Gulags.
Ein hagerer, kr�nklich aussehender Mann begr��te Leo. �Sie haben den Laster gefahren?�
�Jawohl.�
�Ich hei�e Abel Present. Sind wir uns schon einmal begeg�net?�
Leo konnte sich zwar nicht sicher sein, dass nicht jeder Wach�beamte fr�her oder sp�ter einmal auf Present traf, aber es war unwahrscheinlich, dass er sie sich alle merken konnte. �Nur kurz.�
Sie gaben sich die Hand.
�Entschuldigen Sie, dass wir auf Sie gefeuert haben. Aber ohne jegliche Ank�ndigung mussten wir Sie als Bedrohung auf�fassen.�
Leo musste seine Emp�rung gar nicht spielen. �Die H�ftlinge haben gelogen. Sie haben behauptet, dass sie mit Ihnen gespro�chen h�tten.�
�Wir werden ihnen schon bald eine Lektion erteilen.�
�Wenn es f�r Sie von Nutzen ist, kann ich Ihnen genau be�richten, welche Verteidigungslinien die Str�flinge aufgebaut haben. Ich kann Ihnen die Stellungen zeigen ...�
Die Gefangenen hatten gar keine Verteidigungslinien einge�nommen, aber Leo hielt es f�r klug, sich hilfsbereit zu geben.
Doch der Regionaldirektor sch�ttelte den Kopf. �Das wird nicht n�tig sein.�
Er sah auf die Uhr. �Kommen Sie mit.�
Leo blieb nichts anderes �brig, als dem Mann zu folgen.
Abel Present trat unter der Plane hervor und schaute in den Himmel hinauf. Leo folgte seinem Blick. Nichts war zu sehen. Doch einen Moment sp�ter h�rte Leo ein summendes Ger�usch. Present erkl�rte: �An Verhandlungen war nie gedacht. Wenn wir auf deren Forderungen eingehen, w�rden wir ja riskieren, dass Anarchie ausbricht. Dann w�rden die in den anderen Lagern auch eine Revolte anzetteln. Egal, was die in Moskau sagen, wir k�nnen es uns nicht leisten, weich zu werden.�
Das Summen wurde immer lauter, bis schlie�lich ein Flugzeug �ber die Ebene r�hrte. Es flog so niedrig, dass man, als es direkt �ber sie hinwegzog und auf den Gulag 57 einschwenkte, die Kennziffern auf seinem Bauch lesen konnte. Es war eine in die Jahre gekommene Tupolew, eine TU-4, einer der von den flie�genden Festungen der Amerikaner abgekupferten Bomber mit vier Propellermotoren, vierzig Metern Spannweite und einem zylindrisch klobigen, silberfarbenen Geh�use. Als sie sich im Zielanflug befand, wurde die Bodenluke ge�ffnet. Sie wollten also das Lager bombardieren.
Bevor Leo noch irgendwelche Einw�nde gegen diese Entschei�dung vorbringen konnte, fiel ein gro�es, rechteckiges Ding aus der Luke, an dem sich sofort ein Fallschirm �ffnete. W�hrend die TU-4 nach oben schwenkte und steil aufstieg, um �ber den Berg zu kommen, sank die Bombe, perfekt in Stellung gebracht, an ihrem Fallschirm pendelnd aus dem Himmel direkt auf die Lagermitte zu. Im n�chsten Moment war sie schon gelandet und nicht mehr zu sehen, weil sich der Fallschirm �ber die Baracke legte. Doch es folgte keine Explosion, keine Feuersbrunst. Etwas musste schiefgegangen sein, die Bombe war nicht detoniert. Er�leichtert warf Leo dem Regionaldirektor einen Blick zu, in der Erwartung, dass der au�er sich sein w�rde.
Doch der Direktor l�chelte selbstgef�llig. �Die haben doch Lebensmittel verlangt. Also haben wir ihnen eine Kiste mit lau�ter Sachen geschickt, die sie schon seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Obstkonserven, Fleisch, S��igkeiten. Die werden fressen wie die Schweine. Allerdings haben wir ein bisschen was hineingemogelt...�
�Die Lebensmittel sind vergiftet? Aber sie werden zuerst die Wachen probieren lassen.�
�Das Essen ist mit einem Giftstoff versetzt. In sechs Stun�den werden alle bewusstlos sein, in zehn Stunden tot. Es spielt keine Rolle, ob sie die Wachen erst vorkosten lassen, denn un�mittelbare Symptome gibt es nicht. In acht Stunden st�rmen wir das Lager, injizieren unseren Kollegen ein Gegengift und lassen die Aufst�ndischen sterben. Vielleicht werden nicht alle Gefangenen zulangen, aber die meisten schon, was die Zahl der Str�flinge erheblich dezimieren sollte. Wir m�ssen diese Revolte niederschlagen, bevor Moskau mit seinen Spionen anf�ngt, sich einzumischen.�
Jetzt hatte Leo keine Zweifel mehr. Dies war der Mann, der Timurs Tod angeordnet hatte. M�hsam seine Wut unterdr��ckend, entgegnete er: �Ein ausgezeichneter Plan, Genosse!�
Present nickte und grinste �ber seine eigene m�rderische Ge�nialit�t. Er fand ebenfalls, dass es ein ausgezeichneter Plan war.
Leo wurde entlassen und kehrte durch den Befehlsstand zum Lastwagen zur�ck. Als er angekommen war und ins F�hrerhaus kletterte, brannte wieder dieselbe Wut in ihm wie vorhin schon, als er Timurs Uhr entdeckt hatte. Durch das zertr�mmerte Seitenfenster starrte er in Abel Presents Richtung. Sie mussten schleunigst los, jetzt, wo alle noch mit dem Flugzeug besch�f�tigt waren, war ihre einzige Chance. Aber Leo konnte nicht. Er konnte Abel Present nicht davonkommen lassen. Er �ffnete die Fahrert�r.
Georgi umklammerte seinen Arm.
�Wo willst du hin?�
�Ich habe noch was zu erledigen.�
Georgi sch�ttelte den Kopf �Wir m�ssen los, solange sie ab�gelenkt sind.�
�Es wird nicht lange dauern.�
�Was hast du noch zu erledigen?�
�Das geht nur mich etwas an.�
�Das geht uns alle an.�
�Dieser Mann da hat meinen Freund get�tet.� Leo riss sich los.
Aber da beugte sich Lasar vor, ber�hrte Leos Arm und machte ihm Zeichen, dass er etwas sagen wollte. Leo lehnte sein Ohr an Lasars Mund.
Lasar fl�sterte: �Nicht jeder kriegt... was er verdient.�
Diese matten Worte reichten aus, um Leos heiligen Zorn ab�zuk�hlen. Er lie� den Kopf sinken. Lasar hatte recht. Er war nicht hergekommen, um Rache zu �ben. Er war wegen Soja hier. Timur war f�r Soja gestorben. Sie mussten sofort los. Abel Presents m�rderische Tat w�rde unges�hnt bleiben.
Am selben Tag
Der Schatten, den der Berg warf, verh�llte nicht nur den Gu�lag 57, sondern ragte �ber die gesamte Hochebene bis hin zum Feldlager. Abel Present sah auf die Uhr. Die Wirkung des Gifts w�rde sehr bald eintreten und die Str�flinge ohnm�chtig ma�chen. Der Zeitfaktor spielte ihnen in die H�nde. Nachts w�rde es niemanden im Gulag wundern, wenn die Gefangenen m�de wurden, und noch bevor sie Verdacht sch�pfen konnten, w�r�den sich unbemerkt Bodentruppen n�hern, die Z�une aufschnei�den und die Kontrolle �bernehmen. Die Str�flinge w�rde man bis auf einige wenige t�ten, die man vorzeigen konnte, um der Anschuldigung eines Massakers zu entgehen. Die Nachricht die�ses Erfolgs w�rde sich in der ganzen Gegend verbreiten. Alle anderen Lager w�rden die klare Botschaft vernehmen, dass der Aufstand fehlgeschlagen war und die Gulags fortbestanden. Dass sie nicht etwa der Vergangenheit angeh�rten, sondern der Zukunft, und zwar f�r alle Zeit.
�Entschuldigen Sie, Genosse Direktor.�
Vor Present stand ein schmuddelig aussehender Wach�mann.
�Ich war auf dem Lastwagen, der aus dem Gulag 57 gekom�men ist. Ich bin einer der verletzten Beamten, die sie rausgelassen haben.�
Der Arm des Mannes war verbunden. Abel l�chelte ihn her�ablassend an. �Warum sind Sie nicht im Sanit�tszelt?�
�Ich habe meine Verletzungen vorget�uscht, um auf den Las�ter zu kommen. Mir fehlt nicht viel. Der Arzt sagt, dass ich mich zum Dienst melden kann.�
�Sie m�ssen sich um Ihre Kollegen keine Sorgen machen. Wir holen sie bald da raus.�
Er wollte sich schon abwenden, doch der Mann blieb stehen.
�Wegen denen bin ich nicht hier. Es geht um die drei M�nner, die vorne sa�en.�
Am selben Tag
Sie fuhren �ber die n�chtliche Landstra�e, die von den Schein�werfern nur unzureichend ausgeleuchtet wurde. M�hsam k�mpfte Leo sich vor, hielt das Lenkrad fest umklammert und sp�hte angestrengt hinaus in die Dunkelheit. Nur noch schieres Adrenalin hielt seine Ersch�pfung in Schach. Die Strecke nach Magadan hatte er nur bew�ltigt, weil es immer schnurgerade bergab gegangen war, mit Ausnahme einer schmalen, schwie�rig zu meisternden Holzbr�cke. Zum ersten Mal konnten sie jetzt die Lichter von Magadan sehen, das unten im Tal direkt am Meer lag, welches sich als weite, schwarze Fl�che dahinter erstreckte. Der Flughafen befand sich nicht weit davon entfernt, unmittelbar n�rdlich des Hafens.
Pl�tzlich h�rten sie ein pfeifendes Ger�usch. Im n�chsten Moment hing ein orangefarbenes Leuchtgeschoss vor ihnen im Nachthimmel und verbreitete zischend ein phosphorisierendes Licht. Vom Stadtrand aus wurde eine zweite Leuchtpatrone ab�geschossen, dann eine dritte und vierte - orangefarbene Sterne, die die Landstra�e beschienen. Leo trat hart auf die Bremse.
�Sie suchen nach uns.�
Er schaltete die Scheinwerfer ab. Dann lehnte er sich aus dem zertr�mmerten Fenster und schaute �ber die Schulter. Er sah, wie sich in einiger Entfernung zahlreiche Scheinwerferpaare den Berg hinabwanden.
�Sie kommen aus beiden Richtungen. Ich muss von der Stra��e runter.�
Georgi sch�ttelte den Kopf. �Nein.�
�Wenn wir auf der Stra�e bleiben, haben sie uns in ein paar Minuten erwischt.�
�Und wie viel l�nger w�rde es abseits der Stra�e dauern? Ihr m�sst Zeit gewinnen.�
Dann wandte Georgi sich Lasar zu. �Ich habe mich l�ngst an den Gedanken gew�hnt, dass ich Kolyma nie mehr verlassen werde. Schon vor langer Zeit.�
Lasar sch�ttelte abwehrend den Kopf.
Aber Georgi, der Mann, der ihm die Stimme lieh, lie� sich nicht umstimmen. �H�r auf mich, Lasar, nur ein einziges Mal. Es sollte eben nicht sein, dass ich mit dir nach Moskau gehe. Also lass mich jetzt machen.�
Lasar fl�sterte Georgi etwas ins Ohr, und zum ersten Mal musste dieser die Worte nicht laut wiederholen. Sie waren nur f�r ihn bestimmt.
Eine zweite Serie Leuchtkugeln wurde abgefeuert. Sie erleuch�teten den ganzen Himmel und kamen immer n�her. Leo stieg aus dem Lastwagen, Lasar folgte ihm. Georgi setzte sich ans Steuer. Er hielt noch einmal inne und sah durch das zerschmetterte Fenster hinaus auf Lasar, dann fuhr er unsicher los in Richtung Magadan. Lasar hatte einen Teil seiner selbst verloren - seine Stimme.
Zu Fu� stolperten Leo und Lasar in der Finsternis �ber das zerkl�ftete und vereiste Gel�nde. Georgi hatte recht gehabt. Der Boden war so holprig, dass der Lastwagen nicht weit gekommen w�re. Stechender Schmerz schoss durch Leos Beine, er fiel hin. Lasar half ihm auf und st�tzte ihn. Es war ein seltsames Paar, das sich da Arm in Arm vorw�rtsk�mpfte.
Ein weiteres Sperrfeuer aus Leuchtkugeln wurde in den Himmel geschossen. Ihre Zyklopenaugen suchten die Stra�e ab. Dann h�rte man Gewehrsch�sse. Leo und Lasar blieben stehen und drehten sich um. Der Lastwagen war entdeckt worden. Jetzt fuhr er mit voller Geschwindigkeit auf eine Stra�ensperre zu.
Unter heftigem Beschuss und au�er Kontrolle schien er hin und her zu schlingern, hielt sich noch f�r kurze Zeit auf der Stra�e, dann rutschte er weg und kippte um. Die Beamten w�rden nur einen Toten vorfinden und dann die Suche sofort ausweiten.
�Uns bleibt nicht viel Zeit�, mahnte Leo.
Als sie den Rand des Rollfeldes erreichten, blieb Leo kurz stehen und starrte pr�fend auf das primitive Flughafengel�nde. Drei Flugzeuge standen dort. Aber nur eines, eine hatte zwei Triebwerke, und war dazu geeignet, die gesamte Sowjet�union zu �berqueren.
�Wir laufen r�ber zu der Iljuschin, das ist die gr��te Maschi�ne. Langsam gehen, so als w�re alles in Ordnung. Wir m�ssen aussehen, als geh�rten wir hierhin.�
Die beiden traten aus ihrer Deckung. Es gab nur eine Hand�voll Soldaten und wenig Flugpersonal. Keine Patrouillen, nichts, was auf Unruhe hindeutete. Leo klopfte an die Luke des Flug�zeugs. Man hatte ihm versprochen, dass sie ohne Vorwarnung jederzeit w�rden abfliegen k�nnen. Da die M�glichkeit bestand, dass ihre Flucht verz�gert w�rde, hatte ihn Panin damit beru�higt, dass immer jemand an Bord sein w�rde, ganz egal, wann sie ankamen.
Leo klopfte noch einmal. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde er rastloser und verzweifelter. Endlich ging die Luke auf. Ein junger Mann, der kaum �lter als zwanzig Jahre schien, linste heraus. Offensichtlich hatte er gerade ein Nickerchen gemacht. Ein schwacher Alkoholgeruch entwich der Kabine.
�Sind Sie auf Befehl von Frol Panin hier?�, fragte Leo.
Der junge Mann rieb sich die Augen. �So ist es.�
�Wir m�ssen nach Moskau zur�ckfliegen.�
�Es sollten aber drei sein.�
�Die Dinge haben sich ge�ndert. Wir m�ssen sofort los.� Ohne die Antwort abzuwarten, bestieg Leo das Flugzeug und half Lasar hinein, dann schloss er die Luke.
Der junge Mann war verdutzt. �Aber wir k�nnen noch nicht losfliegen.�
�Warum nicht?�
�Der Pilot und der Kopilot sind nicht da.�
�Wo sind sie?�
�Sie essen in der Stadt zu Abend. Es dauert nur eine halbe Stunde, sie zu holen.�
Leo sch�tzte, dass ihnen h�chstens noch f�nf Minuten blie�ben. Er nahm sich den Jungen vor. �Wie hei�t du?�
�Konstantin.�
�Ist die Maschine flugbereit?�
�Wenn wir einen Piloten h�tten.�
�Wie oft bist du schon geflogen?�
�Dieses Flugzeug hier? Noch nie.�
�Aber du bist Pilot.�
�Ich bin noch in der Ausbildung. Kleinere Maschinen bin ich schon geflogen.�
�Aber die hier noch nie?�
�Ich habe den anderen zugesehen, wie sie es machen.� Das musste reichen.
�Konstantin, jetzt h�r mir mal gut zu. Die werden uns um�bringen, und dich auch, wenn wir nicht sofort losfliegen. Ent�weder sterben wir hier, oder du versuchst jetzt, dieses Flugzeug in die Luft zu kriegen. Ich will dir keine Angst machen. Aber etwas anderes bleibt uns nicht �brig.�
Der junge Mann starrte die Pilotenkanzel an. Leo packte ihn.
�Ich glaube an dich. Du schaffst das. Und jetzt mach die Ma�schine klar.�
Leo setzte sich in den Kopilotensitz, vor dem sich ein ver�wirrendes Armaturenbrett mit lauter Kn�pfen und Anzeigen befand. Mit Flugzeugen kannte er sich kaum aus. Konstantins H�nde zitterten. �Ich lasse jetzt die Motoren an.�
Die Propeller erwachten zum Leben und begannen sich zu drehen. Leo warf einen Blick aus dem Fenster. Sie hatten die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich gezogen. Einige kamen auf sie zu. �Beeilung.�
Das Flugzeug rollte zum Flugfeld. Kr�chzend meldete sich das Funkger�t. Bevor die Flugkontrolle sie ansprechen konnte, schaltete Leo es aus. Nicht n�tig, dass der junge Pilot sich auch noch deren Drohungen anh�rte. Lasar, der hinter ihnen sa�, tippte Leo auf die Schulter und deutete aus dem Fenster. Die Soldaten liefen jetzt hinter dem Flugzeug her. Sie hatten ihre Pistolen gez�ckt.
�Konstantin, wir m�ssen abheben.�
Als das Flugzeug beschleunigte, begannen die Soldaten zu feuern. Kugeln prallten von den Motoren ab. Gleich w�rden sie abheben. Sie w�rden es schaffen. Leo schaute auf. Direkt vor ihnen senkte sich der TU-4-Bomber.
Der junge Flieger sch�ttelte den Kopf und drosselte die Ge�schwindigkeit.
�Nicht langsamer werden�, befahl Leo. �Das ist unsere ein�zige Chance!�
�Das soll eine Chance sein?�
�Wir m�ssen unbedingt in die Luft.�
�Wir werden mit denen zusammensto�en. �ber den Bomber schaffen wir es nicht hinweg.�
�Flieg direkt auf die Tupolew zu. Die werden abdrehen. Nun mach schon!�
Sie erreichten das Ende der Rollbahn.
Die Iljuschin hob ab und flog direkt auf eine Kollision mit dem Bomber zu. Entweder brach die Tupolew ihren Lande�anflug ab, oder die beiden Maschinen w�rden zusammensto�en.
�Die machen nicht Platz!�, schrie Konstantin. �Wir m�ssen landen!�
Leo umklammerte Konstantins Hand und hielt die Maschine 324 auf Kurs. Wenn sie jetzt eine Bruchlandung machten, w�rden sie gefasst und erschossen werden. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Anders als die Besatzung des Bombers.
Die Tupolew zog steil nach oben, und im n�chsten Moment flog die Iljuschin unter ihr hindurch. Als die beiden Maschinen einander passierten, streifte ihre Heckflosse den Bauch des Bom�bers. Zum ersten Mal war jetzt der Himmel vor ihnen frei. Kon�stantin l�chelte. Es war das verwirrte L�cheln eines Menschen, der nicht fassen konnte, das er noch am Leben war.
Leo kletterte aus seinem Sitz und setzte sich nach hinten zu Lasar. Magadan war nur noch eine Ansammlung von Lichtern in der weiten Finsternis. In diese Welt hatte Leo Lasar verbannt - in eine Wildnis, die sieben Jahre lang sein Zuhause gewesen war.
Moskau
Am selben Tag
Raisa sa� auf Elenas Bett und sah zu, wie sie schlief. Seit Frajeras Besuch waren Elenas Fragen dr�ngender geworden, so als h�tte sie gesp�rt, dass sich etwas ver�ndert hatte. Irgendwelche Versprechungen, dass Soja schon ganz bald nach Hause kom�men w�rde, reichten jetzt nicht mehr. Gegen derlei Zusiche�rungen war Elena immun geworden, sie hielten nur noch eine Stunde vor, dann lie� ihre Wirkung nach, und die tiefe Verst�rt�heit kehrte zur�ck.
Das Telefon klingelte. Raisa eilte hinaus und hob ab. �Hal�lo?�
�Raisa, hier ist Frol Panin. Wir haben mit Leo gesprochen. Das Flugzeug ist auf dem Weg. In weniger als f�nf Stunden wird er in der Stadt sein. Lasar ist bei ihm.�
�Haben Sie schon Kontakt zu Frajera gehabt?�
�Ja. Wir warten auf Instruktionen f�r den Austausch. M�ch�ten Sie Leo am Flughafen abholen?�
�Nat�rlich.�
�Ich lasse Ihnen einen Wagen schicken, sobald das Flugzeug anfliegt. Wir haben es fast geschafft, Raisa. Bald haben wir sie.�
Raisa h�ngte ein. Sie blieb am Telefon und dachte �ber diese Worte nach. Panin sprach davon, Frajera zu schnappen. Es ging ihm nicht um ihre Tochter. Obwohl Panin so viel Charme hatte, folgte Raisa doch Leos Einsch�tzung seines Charakters: Er hatte etwas Kaltes an sich.
Elena stand im Flur. Raisa streckte ihr die Hand hin. Elena machte einen Schritt vor. Raisa schob sie in die K�che und setz�te sie an den Tisch. Auf dem Herd machte sie Milch hei� und sch�ttete sie in einen Becher, den sie vor Elena hinstellte.
�Kommt Soja heute Abend nach Hause?�
�Ja.�
Elena griff sich den Becher und nahm zufrieden einen gro�en Schluck.
Raisa blieb keine Zeit mehr, noch lange �ber Frajeras Ange�bot nachzudenken. An Leos Plan glaubte sie nicht mehr. Nach�dem sie Frajera nun selbst kennengelernt und ihre Wut erlebt hatte, war es Unsinn, damit zu rechnen, dass sie Soja je wieder freilassen und Leo damit auch noch zum Helden machen w�rde. Durch diesen Gefangenenaustausch w�rde er alles erreichen, was Frajera ihm unter allen Umst�nden verwehren wollte: eine Tochter, Gl�ck und eine wiedervereinte Familie. Frajeras Ver�sprechen war gelogen und dass Leo daran glaubte, naiv. Soja schwebte in Gefahr, und Leo war nicht derjenige, der sie retten konnte.
Raisa �ffnete eine Schublade und holte eine lange rote Kerze hervor. Sie stellte sie auf die Fensterbank, sodass man sie von der Stra�e aus gut sehen konnte. Dann entz�ndete sie ein Streich�holz und machte sie an.
�Was tust du da?�, fragte Elena.
�Ich z�nde eine Kerze an, damit Soja leichter nach Hause findet.� Raisa warf einen verstohlenen Blick auf die Stra�e. Das Signal war gegeben. Sie w�rde Frajeras Angebot annehmen. Sie w�rde Leo verlassen.
Am selben Tag
Malysch sa� auf einem Mauervorsprung und horchte auf die vorbeirauschenden Abw�sser. Vor zwei Monaten war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Jetzt war er vollkommen durchei�nander. Es gab jemanden, der ihn mochte. Und nicht etwa, weil er mit dem Messer umgehen konnte, nicht, weil er zu gebrau�chen war, sondern dieser Mensch mochte ihn, weil ... Malysch wusste selbst nicht, warum. Was fand Soja an ihm? Bisher hatte ihn doch auch niemand gemocht? Das war doch nicht logisch. Ohne Grund hatte sie ihm das Leben gerettet. Als sie die Ge�legenheit gehabt hatte zu fliehen, hatte sie diese nicht nur ver�streichen lassen, sondern sogar noch ihr Leben f�r ihn riskiert.
Frajera kam und setzte sich neben ihn. Gemeinsam lie�en sie die Beine baumeln wie Freunde an einem Flussufer, nur dass hier nicht Fische und Bl�tter unter ihren F��en vorbeischwam�men, sondern der Dreck der Stadt. �Warum versteckst du dich hier?�
Malysch wollte eigentlich bockig schweigen, aber nicht zu antworten war eine unverzeihliche Beleidigung. Deshalb mur�melte er: �Mir geht es nicht gut.�
Zu seiner �berraschung lachte Frajera. �Vor zwei Monaten h�ttest du dieses M�dchen noch einfach get�tet, ohne weiter dar�ber nachzudenken.�
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. �Ich muss wissen, ob du wirklich ohne Z�gern alles tun w�rdest, was ich dir befehle.�
�Ich habe dir immer gehorcht.�
�Du hast auch noch nie etwas tun sollen, was du nicht tun wolltest.�
Dagegen konnte Malysch nichts sagen. Es stimmte. Er hatte noch nie eine andere Meinung gehabt, bis heute. Sie hatte ihn mit Soja zusammengespannt, um ihm auf den Zahn zu f�hlen. Sie hatte ihm ein Verh�ltnis zu Soja aufgezwungen, um daran dann sein Verh�ltnis zu ihr selbst zu messen.
�Malysch, w�hrend meiner Zeit im Gulag habe ich einmal von einem tschetschenischen Gefangenen eine Geschichte ge�h�rt. Sie stammt aus dem Narten-Mythos und handelt von einem Helden namens Soslan. Bei den Narten ist es Brauch, dass sie nicht nur gegen sie selbst begangene Taten r�chen, sondern auch solche gegen ihre Familie oder ihre Vorfahren, ganz gleich, wie lange das Vergehen zur�ckliegt. Streitigkeiten k�nnen sich �ber Hunderte von Jahren hinziehen. Soslan hatte sein ganzes Leben lang Rache gesucht. Wenn du erst erwachsen bist, Ma�lysch, dann brauchst du einen neuen Namen. Ich hatte immer gehofft, du w�rdest dann Soslan hei�en.�
Ihre Stimme war zwar unver�ndert, dennoch sp�rte Malysch die Gefahr.
Frajera stand auf. �Komm mit.�
Malysch folgte Frajera durch verschiedene Tunnel und R�u�me bis zu Sojas Zelle. Frajera schloss die T�r auf. Soja, die sie hatte kommen h�ren, stand in einer Ecke. In Malyschs Augen suchte sie nach einer Best�tigung daf�r, dass hier etwas faul war. Frajera packte Soja am Handgelenk und zog sie zur T�r. Malysch wusste nicht, ob er gehorchen oder protestieren sollte. Noch bevor er sich entscheiden konnte, schlug Frajera die T�r zu und schloss ihn ein.
Am selben Tag
Nachdem sie von der Pazifikk�ste �ber die gesamte Sowjet�union hinweg bis in die Hauptstadt geflogen waren, schlug die Treibstoffanzeige der Iljuschin, auch wenn man dagegenklopfte, nicht mehr aus. Ihnen blieb nur ein Landeversuch. Au�erdem hatte sich �ber ihnen ein Sturm zusammengebraut, das Flug�zeug k�mpfte sich durch bedrohliche schwarze Wolken. Lasar sa� hinten und kaute in der gesunden H�lfte seines Mundes ir�gendein Geb�ck. Leo hatte sich auf dem Kopilotensitz festge�schnallt und war darum bem�ht, Konstantins Selbstvertrauen aufrechtzuerhalten. Die Maschine setzte zum Landeanflug an, ihr Ziel war der Milit�rflughafen Stupino am Rande Moskaus.
�Jetzt m�sste ich doch eigentlich schon die Signalfeuer se�hen?�, fragte Konstantin mit Panik in der Stimme.
Als sie unten aus der Wolke herausflogen, sahen sie die Feuer nicht etwa weit voraus, sondern direkt unter sich. Sie flogen zu hoch. Konstantin geriet in Panik und neigte die Nase in halsbre�cherischem Winkel weiter nach unten. Verzweifelt steuerte er ge�gen, zog die Maschine gerade noch rechtzeitig wieder hoch und landete mit durchh�ngendem Heck auf dem Rollfeld. Die R�der setzten krachend auf und brachen nach wenigen Drehungen ab. Die eisernen St�mpfe schrammten �ber die Fahrbahn und rissen die Maschine auf, als h�tte jemand einen Rei�verschluss gezogen. Eine Tragfl�chenspitze ber�hrte den Boden, worauf das ausgeweidete Flugzeug sich auf seinem zerrissenen Bauch um hundertachtzig Grad drehte und schlingernd �ber das Ende der Rollbahn hinausschoss, wo die Propeller sich in die Erde gruben.
Benommen und mit blutender Stirn schnallte Leo sich los und dr�ckte die T�r der Kanzel auf. Die ganze Kabine war mit�ten entzweigerissen. Lasar hatte �berlebt, er befand sich in der anderen H�lfte der zerst�rten Maschine, die noch intakte Au��enhaut umgab ihn wie einen Heiligenschein. Der junge Pilot, der immer noch in seinem Sitz sa�, fing pl�tzlich hysterisch an zu kichern und f�hrte sich vor Begeisterung auf wie verr�ckt. Durch das zerborstene Fenster klatschte ihm der Regen ins Ge�sicht.
Leo glaubte nicht, dass das Flugzeug in Brand geraten w�rde. Sie hatten ja keinen Treibstoff mehr, und die rauchenden Trieb�werke w�rde der heftige Regen schon l�schen. Da er den Piloten gefahrlos zur�cklassen konnte, half er Lasar aus dem zerrissenen Mittelteil der Maschine, kraxelte mit ihm durch das Wrack und kletterte �ber die Reste der Tragfl�che auf die morastige Erde.
Feuerwehrfahrzeuge rasten auf sie zu, gefolgt von Rettungswa�gen. Medizinische Versorgung allerdings wehrte Leo ab. �Uns fehlt nichts.�
Jetzt war er Lasars Stimme. Gleichzeitig entstiegen Frol Panin und sein Leibw�chter, der einen Regenschirm �ber seinem Vor�gesetzten aufspannte, einer luxuri�sen Limousine.
Panin streckte Lasar die Hand hin. �Ich hei�e Frol Panin. Es tut mir leid, dass ich Ihnen die Freiheit nicht auf angenehmere Weise erm�glichen konnte. Aber die Taten Ihrer Frau haben eine offizielle Freilassung unm�glich gemacht. Kommen Sie, wir m�ssen uns beeilen. Wir k�nnen im Wagen weiterreden.�
Im Fond der Limousine bestaunte Lasar die weichen Le�derpolster und das Armaturenbrett aus Walnussholz mit gerade�zu kindlicher Faszination. In einem kleinen silbernen Beh�lter lagen Eisw�rfel, au�erdem gab es eine Schale mit frischem Obst. Lasar nahm sich eine Orange, schloss seine Finger darum und dr�ckte daran herum. H�flich ignorierte Panin dieses Verhalten, die Fassungslosigkeit eines H�ftlings angesichts dieses Luxus. Er reichte Leo einen Moskauer Stadtplan. �Das ist alles, was wir von Frajera bekommen haben.�
Leo studierte die Karte. In der Mitte war mit Tinte eine Stelle mit einem Kruzifix markiert. �Was ist da?�
�Wir konnten nichts finden.�
Der Wagen setzte sich in Bewegung.
�Wo ist Raisa?�
�Ich habe eben mit ihr gesprochen. Sie wollte auf den Wagen warten. Als der dann ankam, stellte man fest, dass Ihre Eltern sich um Elena k�mmern. Raisa ist verschwunden.�
Alarmiert setzte Leo sich auf. �Sie hat doch Personenschutz.�
�Wir k�nnen niemanden besch�tzen, der nicht besch�tzt werden will.�
�Sie wissen also nicht, wo sie ist?�
�Tut mir leid, Leo.�
Leo sank zur�ck. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Frajera etwas mit Raisas Verschwinden zu tun hatte.
* * *
Als sie in der Innenstadt ankamen, war es zwei Uhr morgens. Der Kontrast zur Wildnis von Kolyma war so extrem, dass Leo vor Verwirrung regelrecht schlecht wurde, ein Gef�hl, das von Schlafmangel und nagender Angst noch verschlimmert wurde. Sie hielten mitten auf der Moskworezkaja Naberscbnaja, der an der Moskwa entlangf�hrenden Hauptstra�e. Dieser Punkt war auf der Karte markiert. Der Fahrer stieg aus, Panins Leibw�ch�ter ebenfalls. Die beiden Beamten �berpr�ften die Umgebung, dann kehrten sie zur�ck. �Hier ist nichts.�
Leo kletterte aus dem Wagen. Es goss in Str�men, schon nach wenigen Sekunden war er vollkommen durchn�sst. Die Stra�e war leer. Er konnte h�ren, wie der Regen in einen Abwasser�schacht lief. Leo b�ckte sich. Der Gulli befand sich direkt unter dem Wagen.
�Setzen Sie vor.�
Die Limousine fuhr ein St�ck, bis der Deckel zum Vorschein kam. Leo stemmte ihn auf und schob ihn beiseite. Links und rechts von ihm standen die Leibw�chter mit gez�ckten Waffen. Es ging tief hinunter. Auf der Leiter befand sich niemand.
Leo kehrte zum Wagen zur�ck. �Haben Sie Taschenlampen?�
Panin nickte. �Im Kofferraum.�
Leo �ffnete den Kofferraum, pr�fte die Lampen und reichte eine Lasar.
Leo �bernahm die F�hrung und stieg als Erster hinein. Er muss�te an die damals vom Eis abgerissene Haut an seinen H�nden denken; aber auch wegen der Schmerzen in seinen Knien lief ihm ein Schauer �ber den R�cken. In Str�men ergoss sich der Regen �ber die Einstiegskante und klatschte ihm auf H�nde, Nacken und Gesicht. Lasar folgte ihm. �Viel Gl�ck!�, rief Panin.
Sobald ihre K�pfe unter der Oberfl�che verschwunden waren, wurde von oben scheppernd der Deckel �ber den Kanalschacht geschoben, was den Regen ebenso abhielt wie das Licht von der Stra�e. In der Stockfinsternis verharrten sie einen Moment und schalteten die Taschenlampen an, dann kletterten sie weiter hinunter.
Als sie den Fu� der Leiter erreicht hatten, sp�hte Leo an�gestrengt in den Haupttunnel hinein. In ihm toste eine wei�e, strudelnde Br�he. Der heftige Regen hatte f�r Hochwasser ge�sorgt, und statt eines gem�chlichen Abwasserstroms schossen jetzt wahre Kaskaden durch die Stadt. Leo war sich nicht sicher, ob sie hier �berhaupt weiterkamen. Hoffentlich war da unten irgendein Vorsprung. Um es herauszufinden, lie� er sich ab und trat vorsichtig tastend mit dem Stiefel auf. Der schmale Sims war vom Wasser �bersp�lt.
Leo formte die H�nde zu einem Trichter und schrie Lasar gegen den L�rm zu: �Halten Sie sich ganz dicht an der Wand!�
Mit Leos Hilfe kletterte Lasar nach unten. An die Wand ge�dr�ckt, leuchteten sie auf der Suche nach irgendeinem Hinweis ihre Umgebung ab. In einiger Entfernung, etwa hundert Meter weiter den Tunnel hinein, sahen sie ein Licht.
�ber den schmalen Mauervorsprung machten sie sich in diese Richtung auf den Weg. Der Wasserspiegel stieg immer weiter, die Br�he schwappte ihnen um die Knie. Jeder Schritt forderte ihnen allerh�chste Konzentration ab. Als sie nur noch ein paar Meter entfernt waren, erkannte Leo eine Laterne, die �ber den Um�rissen einer T�r aufgeh�ngt war. Er schabte den z�hen Glibber ab, der die Wand bedeckte, und dr�ckte die T�r auf. Von hinten drang Wasser ein und ergoss sich �ber eine Wendeltreppe, die noch weiter nach unten f�hrte. Erleichtert, dass sie den gef�hr�lich schmalen Sims hinter sich lassen konnten, schl�pften sie rasch hinein und dr�ckten die T�r hinter sich zu, um das Wasser zu stoppen.
In dem schmalen Treppenhaus war die Luft hei� und feucht. Schweigend stiegen sie hinab, in dem engen Raum hallte selbst ihr Atmen wider. Nach etwa f�nfzig Stufen trafen sie auf eine weitere T�r. Leo dr�ckte fest gegen den Stahlrahmen, und die Scharniere quietschten. Hier gab es keinen Abwassergestank, kein Ger�usch von flie�endem Wasser mehr - alles war still.
Leo drehte sich zu Lasar um. �Bleiben Sie hier.�
Leo betrat einen neuen Tunnel und suchte ihn mit der Ta�schenlampe ab. Die W�nde waren trocken. Sein Fu� stie� gegen ein Gleis - er war in einem Metrotunnel.
Wie ein unterirdischer Sonnenaufgang tauchte ein weiches gelbes Licht auf, eine flackernde Gasflamme. Es kam aus einer altmodischen Laterne, die von einem einzelnen Mann hochge�halten wurde. Er war geradezu grotesk mit Muskeln bepackt. T�towierungen prangten auf seinen H�nden und seinem Hals.
�Stehen bleiben!�
Der Gangster durchsuchte Leo und Lasar. Danach machte er die T�r zu, die hinauf in die Kanalisation f�hrte, und schloss sie ab. Er drehte sich um und deutete in die Richtung, in der es weiterging. Dann machten sie sich auf den Weg, Leo als Erster, danach Lasar und am Ende ihr Begleiter.
�Diese U-Bahnlinie ist auf keinem Plan verzeichnet�, erkl�rte der Mann unterwegs. �Nachdem sie fertiggestellt war, hat man alle Arbeiter exekutiert, damit ihre Existenz ein Geheimnis blieb. Sie hei�t Speztunnel und verl�uft vom Kreml bis nach Ramenkoje, einer unterirdischen Stadt f�nfzig Kilometer weit weg. Wenn der Westen uns einmal angreifen sollte, werden unsere F�hrer sich hier hinunterbegeben und, w�hrend Moskau brennt, auf Seidenkissen sitzen.�
Nachdem sie eine Weile marschiert waren, blieb der F�hrer stehen. �Hier ist es.�
In der Mauer befand sich wieder eine Stahlt�r. Leo �ffnete sie und leuchtete mit der Taschenlampe in das Betontreppenhaus hinein, das gottlob nach oben f�hrte. Der Gangster schloss hin�ter ihnen die T�r. Sekunden sp�ter war ein zischendes Ger�usch zu h�ren. Er hatte das Schloss mit S�ure unbrauchbar gemacht. Niemand konnte ihnen mehr folgen.
Nassgeschwitzt erreichten sie das obere Ende der Treppe, stellten fest, dass die T�r unverschlossen war, und fanden sich in der Taganskaja-Metrostation wieder. Leo verlie� den Bahn�hof, trat hinaus auf den Taganskaja-Platz und suchte au�er sich nach irgendeinem Hinweis, was er als N�chstes tun sollte. Lasar hob den Arm und deutete in Richtung des Flusses, der etwa zweihundert Meter entfernt lag. Mitten auf der Bolschoi-Krasnocbolomski-Br�cke stand eine Frau.
Leo rannte auf sie zu, Lasar blieb an seiner Seite. Als sie das Flussufer erreichten, wo keine Geb�ude mehr standen, blies der Wind doppelt so stark. Die Br�cke war ein nackter Betonbogen, unter dem die von den n�chtlichen Regenf�llen aufgew�hlte Moskwa rauschte. Die Frau blieb auf der Br�cke stehen und wartete auf sie, Regen tropfte von ihrer Jacke. Als Leo n�her kam, erkannte er diese Jacke. Es war seine.
Raisa nahm die Kapuze ab.
Leo rannte weiter, bis er bei ihr war, und nahm ihre H�nde. Er war hin- und hergerissen zwischen Sorge und Erleichterung. Raisa riss sich von ihm los. �Warum hast du mir die Sache mit Soja nicht erz�hlt? Sie richtet ein Messer auf dich, und du sagst mir, es sei alles in Ordnung? Bei so einer Sache l�gst du mich an? Was hatten wir uns versprochen? Keine L�gen mehr! Keine Geheimnisse mehr! Wir hatten es einander versprochen, Leo!�
�Raisa, ich habe doch nur die Panik gekriegt. Ich wollte die Sache erst ins Lot bringen und es dir dann erz�hlen. Als du aus dem Krankenhaus gekommen bist, war ich doch schon auf dem Sprung nach Kolyma. Und du warst noch so schwach.�
�Nicht ich war schwach, Leo, sondern du! Hier geht es nicht darum, wer der Held ist. Es geht darum, was das Beste f�r Soja und Elena ist. Ich habe Frajera getroffen. Auf keinen Fall wird sie dir Soja wiedergeben. Nie im Leben!�
An der S�dseite der Br�cke tauchten Scheinwerfer auf, ihre Strahlen verschwammen im Regen. Der Wagen raste auf sie zu, und Leo hob die Hand vor die Augen, um nicht von dem glei��enden Licht geblendet zu werden. Das Fahrzeug bremste, die T�ren gingen auf. Der Fahrer geh�rte zu den wory. Ohne sich um den Regen zu k�mmern, stieg Frajera auf der Beifahrerseite aus. Sie warf Leo einen kurzen Blick zu, dann konzentrierte sie sich ausschlie�lich auf Lasar, ihren Ehemann.
Unsicher trat Lasar vor sie hin. Trotz Leos Warnungen war er eindeutig schockiert �ber ihre Verwandlung. Jetzt standen sie sich gegen�ber. Frajera musterte ihn und betastete seine zerschundene Gesichtsh�lfte, strich mit dem Finger an seinem Un�terkiefer entlang. Er zuckte bei der Ber�hrung zwar zusammen, schrak aber nicht zur�ck.
�Du hast gelitten�, sagte sie.
Leo beobachtete, wie sich in Lasars Mund die Worte formten: �Wir haben ... einen Sohn?�
�Unser Sohn ist tot. Genau wie deine Frau.�
Dann fiel ein Schuss, etwas blitzte auf. Lasar fiel auf die Knie und hielt sich den Bauch.
Leo sprang vor und fing den umkippenden Lasar auf. Sein Mund war voller Blut. Fassungslos �ber diesen sinnlosen Mord drehte er sich zu Frajera um. �Warum?�
Sie gab keine Antwort, keine Erkl�rung, sondern stand nur drohend �ber ihm. Leo schaute wieder hinab auf Lasars Leich�nam, den er in den Armen hielt. Der Mann, den er erst verraten und dann gerettet hatte, der Mann, dem er sein Leben zu ver�danken hatte, war tot. Leo beugte sich hinab und legte den Toten auf die Stra�e.
Frajera riss Leo am Hemd. �Steig vorne in den Wagen ein!�
Mit ihrer Waffe wedelte sie Raisa zu. �Du auch.�
Leo stand auf und setzte sich auf den Fahrersitz. Raisa sa� auf dem Beifahrersitz. Auf dem R�cksitz lag Soja, ihre Arm- und Fu�gelenke waren gefesselt. Im Mund hatte sie einen Knebel, und aus ihren Augen sprach die nackte Angst. Der Wagen war umgebaut worden, zwischen ihnen befand sich ein Gitter. Beide pressten ihre H�nde gegen das Drahtgeflecht. �Soja!�
Auf der anderen Seite dr�ckte Soja ihr Gesicht gegen das Gitter und flehte durch den Knebel um Hilfe. Ihre Finger be�r�hrten sich. Leo r�ttelte an dem Gitter, aber es lie� sich nicht herausrei�en.
Eine der hinteren T�ren wurde ge�ffnet. Frajera beugte sich hinein, schnappte sich Soja und zerrte sie aus dem Wagen. Leo wirbelte herum und versuchte die Fahrert�r aufzubekommen, aber sie war abgeschlossen und lie� sich von innen nicht �ffnen. Raisa r�ttelte auf ihrer Seite ebenfalls ohne Erfolg am Griff. Frajera und ihr Gehilfe schleppten Soja zum Kofferraum. Der Mann holte einen Getreidesack heraus und hielt ihn auf, w�h�rend Frajera Soja hineinsteckte.
Leo w�lzte sich zur Seite und zielte mit den Stiefeln direkt auf das Seitenfenster. Wie ein Maultier trat er immer wieder zu, doch seine Sohlen prallten von dem Fenster zur�ck und konnten es nicht durchbrechen.
�Leo!�, schrie Raisa.
Leo krabbelte hin�ber auf Raisas Seite, die zum Ufer wies. Frajera und ihr Gehilfe trugen gerade den Sack davon. Soja ver�suchte sich zu befreien, sie wand sich, trat um sich und k�mpfte um ihr Leben. Der Gangster schlug sie mitten ins Gesicht und brach damit ihren Widerstand lange genug, dass er sie in den Sack stopfen und diesen zuschn�ren konnte. Gemeinsam hoben sie den Sack hoch, er war offenbar mit Gewichten beschwert. Sie legten die bewusstlose Soja auf die Br�ckenmauer. Leo presste den Kopf gegen die Fensterscheibe und musste mitansehen, wie der Sack von der Br�cke gesto�en wurde. Er beobachtete noch kurz, wie er dem Fluss entgegenfiel.
Frajera hockte sich auf die Motorhaube und lehnte sich an die Windschutzscheibe. Ihre Augen gl�hten, sie leckten Raisas und Leos Schmerz auf wie eine Katze die Sahne. Vollkommen au�er sich schlug Leo auf die Windschutzscheibe ein, trommelte immer wieder sinnlos dagegen, blieb jedoch hinter dem Pan�zerglas gefangen. Frajera sah ihm einen Moment lang zu und erg�tzte sich an seiner Hilflosigkeit, dann sprang sie vom Wagen und setzte sich auf den Sozius eines Motorrads. Leo hatte noch nicht einmal bemerkt, dass zwei Maschinen neben ihnen gehal�ten hatten.
Leo in seiner Falle trat jetzt gegen das Z�ndschloss, bis die Dr�hte freilagen. Er schloss die Z�ndung kurz und trat aufs Gaspedal. Dann lie� er den Motor aufheulen und schien Frajera verfolgen zu wollen.
�Leo!�, rief Raisa. �Soja!�
Doch Leo war gar nicht hinter Frajera her. Kaum hatte der Wagen ausreichend Geschwindigkeit aufgenommen, riss Leo das Steuer nach links in Richtung der Begrenzungsmauer. Das Fahrzeug krachte gegen den Rand der Br�cke und riss an der Seite auf. Der Motor rauchte, die R�der drehten auf dem Rinn�stein durch. Leo sah sich nach seiner Frau um. Raisa hatte sich den Kopf aufgeschlagen, war aber trotzdem schon aus dem Sitz und kletterte aus der kaputten Seite des Wagens hinaus. Schwan�kend folgte er ihr bis zu der Stelle, wo Soja hinuntergeworfen worden war.
Raisa sprang als Erste, Leo hinterher. Er sah noch, wie Raisa ins Wasser eintauchte, dann schlugen seine Beine auf der Was�seroberfl�che auf. Unter Wasser zog die Str�mung sie flussabw�rts. Leo wurde tiefer hinabgezogen, widerstand aber dem Impuls, wieder zur Oberfl�che zu schwimmen, und stie� sich stattdessen mit der Str�mung weiter nach unten, bis dorthin, wohin Soja m�glicherweise abgesunken war. Er wusste nicht, wie tief der Fluss war, schwamm aber mit immer kr�ftigeren St��en nach unten. Seine Lungen brannten. Jetzt ber�hrten sei�ne H�nde den Bodenschlick. Er blickte sich um, konnte aber nichts sehen. Das Wasser war pechschwarz. Er wurde nach oben gezogen und versuchte weiterzusuchen, drehte sich um die eigene Achse, aber es hatte keinen Zweck. Er konnte einfach nichts erkennen. In gr��ter Atemnot zwang er sich wieder an die Oberfl�che und holte japsend Luft. Als er sich umblickte, lag die Br�cke schon ein gutes St�ck hinter ihm.
Leo atmete tief ein und wollte wieder hinabtauchen.
�Soja!�, h�rte er Raisa rufen.
Es war ein hoffnungsloser Schrei.
F�nf Monate danach
Moskau
20. Oktober
Filipp brach das Brot und achtete genau darauf, wie der noch warme Teig auseinanderriss, wie er sich kurz dehnte und dann in ungleichm��ige Streifen aufl�ste. Er klaubte einen Brocken heraus, legte ihn sich auf die Zunge und kaute langsam. Der Laib war perfekt gelungen, und das wiederum bedeutete, dass die ganze Charge perfekt gelungen war. Am liebsten h�tte er sich daran sattgefressen und vorher noch dick Butter daraufgestrichen, die weich werden und schmelzen w�rde. Doch er konnte noch nicht einmal diesen kleinen Kr�mel hinunterschlucken. Er stellte sich �ber den Eimer und spuckte den klebrigen Teigball wieder aus. Eine solche Verschwendung emp�rte ihn selbst, aber ihm blieb keine Wahl. Denn der siebenundvierzigj�hrige Filipp war zwar B�cker, noch dazu einer der besten in der ganzen Stadt, konnte aber selbst nur Fl�ssiges zu sich nehmen. Seit zehn Jahren plagten ihn jetzt schon hartn�ckige und nicht zu behandelnde Magengeschw�re. Sein Magen war �bers�t mit s�urehaltigen Kratern. Es waren die verborgenen Narben von Stalins Herr�schaft, Zeugnisse all jener N�chte, in denen er wach gelegen und sich gesorgt hatte, ob er etwa mit den M�nnern und Frauen, die f�r ihn arbeiteten, zu streng umgegangen war. Er war Perfek�tionist, und wenn jemand Fehler machte, verlor er die Beherr�schung. Vielleicht hatten ja ver�rgerte Arbeiter eine Anzeige �ber ihn verfasst und ihm bourgeoise, elit�re Tendenzen angelastet. Selbst jetzt noch fing bei der Erinnerung sein Magen zu brennen an. Er eilte zu seinem Tisch und r�hrte eine Kreidel�sung zusam�men. Hastig trank er die wei�e, faulig schmeckende Fl�ssigkeit und ermahnte sich, dass diese Sorgen doch der Vergangenheit angeh�rten. Mittern�chtliche Verhaftungen gab es nicht mehr. Seine Familie war in Sicherheit, und denunziert hatte er auch niemanden. Sein Gewissen war rein. Der Preis daf�r war sei�ne Magenschleimhaut gewesen. Und alles in allem war dieser Preis, selbst f�r einen B�cker und Leckermaul, nicht einmal zu hoch.
Das Kreidewasser beruhigte seinen Magen, und er schalt sich, dass er noch immer an die Vergangenheit dachte. Dabei lag eine goldene Zukunft vor ihm. Der Staat fing an, Begabungen zu f�rdern. Die B�ckerei expandierte und w�rde demn�chst das gesamte Geb�ude in Beschlag nehmen. Bisher hatte er nur zwei Etagen zur Verf�gung gehabt, die oberste hatte man einer Knopffabrik zugewiesen, eine Deckadresse f�r irgend�eine geheime Regierungsbeh�rde. Dass man die ausgerechnet �ber einer B�ckerei angesiedelt hatte, hatte er nie kapiert. Die R�ume waren voller Mehlstaub und �berhitzt von den �fen. Nichts wollte er lieber, als dass die da oben verschwanden, und nicht nur, weil er Platz brauchte. Der Anblick der Leute, die dort arbeiteten, hatte ihm nie gefallen. Ihre Uniformen und ihre Reserviertheit waren ihm immer auf den Magen ge�schlagen.
Er trat hinaus ins Treppenhaus und sp�hte hinauf ins obers�te Stockwerk. Die ehemaligen Bewohner hatten zwei Tage gebraucht, um ihre Aktenschr�nke und B�rom�bel auszur�u�men. Als Filipp auf dem Treppenabsatz ankam, blieb er vor der T�r stehen und registrierte die Batterie schwerer Schl�sser. Er dr�ckte auf die Klinke. Die T�r lie� sich �ffnen. Filipp schob sie weiter auf und musterte den d�steren Ort. Die Zimmer waren leer. Ermutigt betrat er sein neues Reich. Als er nach dem Licht�schalter tastete, sah er einen an der gegen�berliegenden Wand zusammengesunkenen Mann.
Leo setzte sich auf und blinzelte die Gl�hbirne an der Decke an. Erst langsam nahm er den B�cker wahr, einen spindeld�rren Mann. Leos Kehle war trocken. Hustend stand er auf, strich sich die Kleider glatt und warf einen Blick auf die ausgeweideten B��ros des Morddezernats. Die geheimen Akten, Belege all der F�lle, die Timur und er gel�st hatten, waren weggeschafft worden. Sie sollten verbrannt werden, jede Spur der Arbeit, die er in den letzten drei Jahren geleistet hatte, vernichtet. Der B�cker, dessen Namen er nicht kannte, stand t�ppisch da - auf seiner Miene stand die Verlegenheit eines mitleidigen Menschen angesichts des Ungl�cks eines Mitb�rgers.
�Drei Jahre sind wir uns nun auf der Treppe begegnet�, sagte Leo, �und ich habe Sie nie nach Ihrem Namen gefragt. Ich woll�te Sie nicht...�
�Beunruhigen?�
�H�tte es Sie denn beunruhigt?�
�Ehrlich gestanden, ja.�
�Ich hei�e Leo.�
Der B�cker streckte ihm die Hand hin. Leo sch�ttelte sie.
�Ich hei�e Filipp. Drei Jahre, und ich habe Ihnen noch nie einen Laib Brot angeboten.�
Leo verlie� zum letzten Mal das Morddezernat, warf noch einen Blick zur�ck und schloss dann die T�r. Ein unangenehmes Schwindelgef�hl befiel ihn. Er folgte Filipp die Treppe hinunter und erhielt einen Laib Brot, er war noch warm und hatte eine goldene Kruste. Er brach ein St�ck ab und biss hinein. Gewis�senhaft studierte Filipp seine Reaktion. Als Leo klar wurde, dass seine Meinung gefragt war, schluckte er den Bissen herunter und sagte: �Das ist das beste Brot, das ich je gegessen habe.�
Und das stimmte sogar.
Filipp l�chelte. �Was haben Sie hier oben gemacht? Wozu die ganze Geheimniskr�merei?�
Bevor Leo antworten konnte, zog der andere die Frage zu�r�ck.
�Vergessen Sie es. Ich sollte mich um meinen eigenen Kram k�mmern.�
Doch Leo achtete nicht darauf. �Ich war Leiter einer Spezialeinheit der Miliz, einem Morddezernat.�
Filipp schwieg. Er verstand das nicht. Deshalb f�gte Leo hin�zu: �Wir haben Mordf�lle untersucht.�
�Gab es da viel zu tun?�
Leo nickte knapp. �Mehr, als Sie vielleicht glauben.�
Neben dem Brot, das er bereits angeknabbert hatte, bekam Leo noch eins f�r zu Hause geschenkt. Dann wandte er sich zum Gehen.
Filipp, der zum Abschied noch etwas Freundliches sagen wollte, rief ihm hinterher: �Im Sommer wird es hier ziemlich hei�. Sie sind doch bestimmt froh, dass Sie in ein neues B�ro umziehen.�
Leo blickte zu Boden und studierte die Muster der Fu�ab�dr�cke im Mehl. �Das Dezernat zieht nicht um. Es wird dicht�gemacht. �
�Und was wird aus Ihnen?�
Leo sah wieder auf. �Ich soll zum KGB.�
Am selben Tag
Das Serbski-Institut war kein sehr gro�es Geb�ude und sah mit den runden Balkonen vor den Fenstern der obersten Etage eher wie ein nettes Wohngeb�ude aus als wie ein Krankenhaus. Wie jedes Mal blieb Raisa f�nfzig Meter davor stehen und fragte sich, ob sie auch das Richtige tat. Sie schaute hinunter auf Elena, die neben ihr stand und ihre Hand hielt. Ihre Haut war unnat�r�lich blass, so als welke sie dahin. Sie hatte Gewicht verloren und war so oft krank, dass Kranksein schon zu ihrem nat�rlichen Zustand geworden war. Raisa bemerkte, dass Elenas Schal sich gelockert hatte, kauerte sich vor sie hin und zupfte umst�ndlich an ihr herum.
�Wir k�nnen auch nach Hause gehen. Wir k�nnen jederzeit wieder nach Hause gehen.�
Elena sagte nichts. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, als sei sie kein lebendiges M�dchen mehr, sondern nur noch eine Nach�bildung aus Seidenpapier und gr�nen Knopfaugen, die keine eigene Kraft besa�. Sie folgte einfach gehorsam, wohin man sie auch f�hrte. Oder war es eigentlich umgekehrt? War in Wahrheit nicht vielleicht Raisa selbst die Nachbildung, die mit ihrem gan�zen Gewese und Getue um Elena nur imitierte, was eine echte Mutter tun w�rde?
Raisa k�sste Elena auf die Wange und sp�rte angesichts der fehlenden Reaktion, wie sich ihr der Magen zusammenkrampfte. Elenas Teilnahmslosigkeit ging ihr sehr zu Herzen. Begonnen hatte dieser Zustand, als sie sich vor sie hingekniet und ihr mit Tr�nen in den Augen ins Ohr gefl�stert hatte:
Soja ist tot.
Raisa hatte damit gerechnet, dass Elena ihren Kummer heraus�schreien w�rde, aber Elena hatte �berhaupt nicht reagiert. Und jetzt, f�nf Monate sp�ter, reagierte sie immer noch nicht. Raisa stand auf, sah nach dem Verkehr und �berquerte die Stra�e, dann ging sie auf den Haupteingang zu. Liebe allein w�rde sie nicht retten. Liebe allein reichte einfach nicht.
Im Inneren des Geb�udes gab es nur nackte Steinb�den und kahle W�nde. Schwestern in gest�rkter Tracht schoben eiserne Betten mit Lederriemen durch die Korridore. Alle T�ren waren verriegelt, die Fenster vergittert. Zweifellos war das Institut mit seinem Ruf als die f�hrende psychiatrische Klinik in der Stadt eher ber�chtigt als ber�hmt. Es war ein Behandlungszentrum f�r Abweichler, in dem sich politische Gegner wiederfanden, die man durch Insulin ins Koma versetzte und an denen man die neuesten Fieber- und Schocktherapien ausprobierte - die letzte Institution, an die man sich normalerweise gewandt h�tte, um einem siebenj�hrigen Kind helfen zu lassen.
In ihren Gespr�chen hatte Leo immer wieder betont, er sei gegen eine �rztliche Behandlung. Viele von denen, die er wegen politischer Vergehen verhaftet hatte, waren in ein Krankenhaus wie dieses, eine psichuschka, geschickt worden. Leo gab zwar widerwillig zu, dass auch in einem grausamen System durchaus f�hige �rzte arbeiteten, aber er glaubte nicht, dass der m�gliche Vorteil ihrer Erfahrung das Risiko wert war, diese M�nner und Frauen aufzusuchen. Sich selbst f�r gest�rt zu erkl�ren hie�, sich als Au�enseiter der Gesellschaft zu deklarieren - keine Positi�on, die Eltern sich f�r ihr Kind w�nschten. Aber seine Haltung schien ihr weniger grunds�tzlicher Vorsicht als einer st�rrischen Verbissenheit zu entspringen, einer blinden Entschlossenheit, dass niemand anderer als er selbst diese Familie wieder ins Lot bringen sollte, selbst wenn sie ihm gerade zwischen den Fingern zerbr�selte. Raisa war keine �rztin, aber sie verstand sehr wohl, dass Elenas Krankheit nicht weniger bedrohlich war als k�rper�liche Beschwerden. Sie starb. Es war idiotisch zu glauben, dass das Problem sich von allein erledigen w�rde.
Die Frau am Empfangsschalter schaute hoch, sie erkannte die beiden von fr�heren Besuchen wieder.
�Ich m�chte zu Doktor Stawski.�
Hinter Leos R�cken hatte sie endlich durch Gespr�che mit Freunden und Kollegen einen Termin bei Doktor Stawski be�kommen. Stawski war zwar auch Experte in der Behandlung von Dissidenten - mit allem, was dies mit sich brachte -, doch er glaubte auch an einen Wert der Psychiatrie �ber ihre politische Verwendung hinaus und missbilligte die Exzesse bei Zwangsthe�rapien. Er war von dem Wunsch beseelt zu heilen. Und er hatte sich bereiterkl�rt, Elena zu untersuchen, ohne einen Bericht zu schreiben. Raisa vertraute ihm so sehr, wie ein Schiffbr�chiger sich an eine vorbeitreibende Holzplanke klammern w�rde. Was blieb ihr sonst auch �brig?
In der oberen Etage wurde sie hereingebeten, und Doktor Stawski sch�ttelte ihr die Hand. Er hockte sich vor Elena hin. �Elena! Wie geht es dir?�
Elena gab keine Antwort.
�Wei�t du noch, wie ich hei�e?�
Elena gab keine Antwort.
Stawski stand auf und fragte Raisa fl�sternd: �Wie war es diese Woche?�
�Wie immer. Kein Wort.�
Stawski f�hrte Elena zur Waage. �Zieh doch mal die Schuhe aus.�
Elena reagierte nicht. Raisa b�ckte sich und zog ihr die Schuhe aus, dann schob sie Elena auf die Waage. Stawski schaute auf die Anzeige und notierte Elenas Gewicht. Er tippte mit dem F�ller auf seinen Notizblock und fuhr damit an den Zahlen entlang, die er sich in den vergangenen Wochen aufgeschrieben hatte. Dann ging er zur�ck und lehnte sich an seinen Schreibtisch. Raisa trat einen Schritt vor, um Elena von der Waage zu helfen, aber Stawski bremste sie und bedeutete ihr, sie solle Elena ste�hen lassen. Sie warteten. Elena blieb reglos mit dem Gesicht zur Wand auf der Waage stehen. Aus zwei Minuten wurden f�nf, dann zehn, aber Elena hatte sich immer noch nicht ger�hrt. Schlie�lich bedeutete Stawski Raisa, dass sie Elena jetzt von der Waage heben k�nne.
Raisa sp�rte, wie ihr die Tr�nen kamen. Sie band Elena die Schn�rsenkel zu und stand auf, um den Arzt etwas zu fragen, aber da sah sie, dass er am Telefon war. Schlie�lich h�ngte er ein und legte seinen Notizblock auf den Schreibtisch. Raisa wusste nicht, wie oder warum, aber sie war sich auf einmal sicher, dass sie hintergangen wurde.
Noch bevor sie reagieren konnte, sagte der Arzt: �Sie haben sich an mich gewandt, damit ich Ihnen helfe. Aus meiner Sicht ben�tigt Elena eine professionelle �berwachung, und zwar rund um die Uhr.�
Zwei Pfleger betraten das Zimmer und schlossen die T�r, als w�rden sie eine Falle zuschnappen lassen. Raisa legte besch�t�zend die Arme um Elena.
Der Arzt stand auf und kam n�her. �Ich habe daf�r gesorgt, dass sie in ein Krankenhaus in Kasan gebracht wird. Die �rzte dort kenne ich sehr gut.�
Raisa sch�ttelte den Kopf, aus Fassungslosigkeit ebenso wie um diesen Vorschlag zur�ckzuweisen.
�Das liegt mittlerweile nicht mehr bei Ihnen, Raisa. Die Ent�scheidung wurde im Interesse dieses kleinen M�dchens getrof�fen. Sie sind nicht die Mutter. Der Staat hat Sie als Betreuerin eingesetzt. Nun entzieht Ihnen der Staat die Betreuung wieder.�
�Doktor ...� Voller Verachtung spuckte sie das Wort aus, dann fuhr sie fort: �Sie werden sie mir nicht wegnehmen!�
Stawski trat noch n�her heran, jetzt fl�sterte er wieder. �Ich werde Elena jetzt sagen, dass sie mit diesen Pflegern nach Kasan fahren wird. Ich werde ihr sagen, dass sie Sie nicht mehr wieder�sieht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich nicht wehren wird. Sie wird mit zwei Fremden aus diesem Raum marschieren und sich noch nicht einmal umdrehen. Und wenn sie das tut, werden Sie mir dann glauben, dass Sie ihr nicht helfen k�nnen?�
�Ich weigere mich, diese Probe anzuerkennen.�
Stawski ignorierte sie, hockte sich stattdessen wieder hin und sprach Elena laut und deutlich an. �Elena, wir bringen dich jetzt in ein ganz besonderes Krankenhaus. Da werden sie versuchen, dich wieder gesund zu machen. Es kann aber sein, dass du Raisa nie mehr wiedersiehst. Aber ich bin mir sicher, dass man sich gut um dich k�mmern wird. Diese M�nner werden dir helfen. Wenn du nicht mit ihnen gehen willst, wenn du dableiben willst, hier bei Raisa, dann musst du uns das nur sagen. Du musst nur Nein sagen, Elena. Verstehst du mich? Du musst nur Nein sagen.� Elena gab keine Antwort.
Am selben Tag
Timurs Witwe Inessa �ffnete die T�r. Leo betrat die Wohnung. In den ersten Monaten nach seiner R�ckkehr aus Kolyma hatte er immer noch erwartet, dass Timur pl�tzlich aus der K�che kommen und erkl�ren w�rde, er sei gar nicht umgebracht wor�den, sondern habe �berlebt und es bis nach Hause geschafft. Es war schlichtweg unm�glich, sich dieses Zuhause ohne Timur vorzustellen. Hier, im Kreise seiner Familie, war er immer am gl�cklichsten gewesen.
Doch die Zuweisung von Wohnraum war ein erbarmungs�loser Prozess. Nach den Berechnungen des Systems bedeutete Timurs Tod klipp und klar, dass die Familie weniger Platz ben�tigte. Au�erdem war ihre moderne Wohnung eine beruf�liche Verg�nstigung gewesen. Inessa selbst arbeitete in einer Textilfabrik, und ihre Kolleginnen und Kollegen mussten mit erheblich bescheideneren Behausungen vorliebnehmen. Unter Zuhilfenahme seines blat, seiner Beziehungen, hatte Leo alles getan, um zu erreichen, dass die Familie bleiben konnte, wo sie war. Sogar um Frol Panins Intervention hatte er gebeten. Viel�leicht hatte Panin sich irgendwie verantwortlich f�r Timurs Tod gef�hlt, denn er hatte zugestimmt. Doch zu Leos �berraschung hatte Inessa sogar mit dem Gedanken gespielt auszuziehen. Hier verstr�mte doch jedes Zimmer nur die Erinnerungen an Timur, die sie erstickten und so traurig machten, dass sie kaum noch ihren Alltag bew�ltigen konnte. Erst als Leo ihr den Plattenbau gezeigt hatte, in den man sie umsiedeln wollte, eine Einzimmer�wohnung mit d�nnen W�nden und einer Gemeinschaftstoilette, hatte sie nachgegeben, aber nur wegen ihrer beiden S�hne. W�re sie allein gewesen, w�re sie noch am selben Tag ausgezogen.
Leo umarmte Inessa und reichte ihr, als sie sich wieder ge�trennt hatten, den Brotlaib.
�Wo kommt der denn her?�
�Aus der B�ckerei unter unserem B�ro.�
�Timur hat nie Brot mit nach Hause gebracht.�
�Die Leute, die dort arbeiten, hatten zu viel Angst, um mit uns zu sprechen.�
�Jetzt aber nicht mehr?�
�Nein.�
Wie ein Schatten legte sich Traurigkeit auf Inessas Gesicht. Das Morddezernat war auch Timurs ganzer Stolz gewesen. Jetzt existierte es nicht mehr.
Ihre beiden S�hne, der zehnj�hrige Jefim und der achtj�hrige Wadim, kamen aus ihrem Zimmer gelaufen, um Leo zu begr���en. Obwohl Timur f�r Leo gearbeitet hatte, als er umgekom�men war, trugen seine S�hne Leo nichts nach. Im Gegenteil, seine Besuche freuten sie immer. Sie wussten, dass Leo Timur sehr gemocht und ihr Vater Leo ebenso sehr gemocht hatte. Trotzdem stand ihre Zuneigung f�r Leo auf t�nernen F��en, und eines Tages w�rde sie zerbrechen. Noch wussten sie nicht in allen Einzelheiten, was passiert war. Noch ahnten sie nicht, dass ihr Vater bei dem Versuch gestorben war, die b�sen Taten aus Leos Vergangenheit wiedergutzumachen.
Inessa strich Jefim �ber die Haare, w�hrend der aufgeregt �ber seine Schulleistungen und die Sportmannschaft berichtete, der er angeh�rte. Als �ltester w�rde er einmal Timurs Uhr be�kommen, wenn er achtzehn wurde. Leo hatte das zerbrochene Glas und das Uhrwerk ersetzen lassen - das kaputte Werk hatte er behalten; er konnte es einfach nicht wegwerfen. Manchmal holte er es heraus und legte es sich auf die Handfl�che. Inessa hatte sich noch nicht entschieden, welche Geschichte sie Jefim �ber die Urspr�nge der Uhr erz�hlen sollte, ob sie wirklich l�gen und das St�ck als wertvolles Familienerbst�ck ausgeben sollte. Dar�ber konnte man sich auch sp�ter noch Gedanken machen.
�Willst du mit uns essen?�, fragte Inessa ihn.
Leo f�hlte sich hier zwar wohl, aber er sch�ttelte den Kopf. �Ich muss nach Hause.�
* * *
Als er dort ankam, stellte er fest, dass Raisa und Elena nicht da waren. Die diensthabenden Sicherheitsbeamten berichteten, die beiden seien am Morgen zur Schule aufgebrochen, etwas Ungew�hnliches sei ihnen nicht aufgefallen. Von irgendwelchen Pl�nen wusste Leo nichts, und er konnte sich keinen Reim da�rauf machen, warum Raisa noch so sp�t am Abend mit Elena unterwegs war. Kleider hatten sie keine gepackt, es fehlten auch keine Taschen. Leo rief seine Eltern an, aber die konnten ihm ebenfalls nichts sagen.
Angst, dass Frajera etwas damit zu tun haben k�nnte, hatte Leo nicht. Der Mord an Soja war ihr letzter Racheakt gegen jemanden von der Staatssicherheit gewesen. Seit f�nf Monaten war sie von der Bildfl�che verschwunden, und Leo bezweifelte, dass sie noch einmal auftauchen w�rde. Wozu auch? Sie hatte Leo ins Mark getroffen, genau wie sie es sich vorgenommen hatte.
Als er drau�en jemanden kommen h�rte, eilte er in den Flur und riss die T�r auf. Schwankend kam Raisa herein und hielt sich dabei am T�rrahmen fest, als sei sie betrunken. Leo st�tzte sie. Schnell warf er einen Blick hinaus in den Hausflur. Er war leer.
�Wo ist Elena?�
�Sie ist... weg.�
Raisa verdrehte die Augen, und im n�chsten Moment sackte ihr der Kopf weg. Leo trug sie ins Bad, stellte sie unter die Du�sche und lie� kaltes Wasser laufen. �Warum bist du betrunken?�
Raisa keuchte, der Schock der kalten Dusche hatte sie wach ger�ttelt. �Bin nicht betrunken ... bet�ubt worden.�
Leo drehte die Dusche ab und strich Raisa die Haare aus den Augen, dann setzte er sie auf den Rand der Badewanne. Raisa verdrehte nun nicht mehr die blutunterlaufenen Augen, sondern starrte auf die Pf�tzen, die sich um ihre Schuhe sammel�ten. Sie lallte auch nicht mehr. �Ich wusste, du w�rdest dagegen sein.�
�Hast du sie etwa zu einem Arzt gebracht?�
�Leo, wenn jemand, den man liebt, krank ist, dann sucht man nach jemandem, der einem hilft. Er sagte, es sei alles ganz inof�fiziell, nichts Schriftliches.�
�Wo?�
�Serbski.�
Der Name traf Leo wie ein Keulenschlag. Serbski! Viele M�nner und Frauen, die er verhaftet hatte, waren dorthin zur Behandlung geschickt worden.
Raisa fing an zu weinen. �Leo ... er hat sie weggeschafft.�
Zuerst verstand Leo nicht, doch im n�chsten Moment ver�wandelte sich seine dumpfe Benommenheit in Wei�glut. �Wie hei�t der Arzt?�
Raisa sch�ttelte den Kopf. �Du kannst sie nicht retten, Leo.�
�Wie hei�t er?�
�Du kannst sie nicht retten!�
Leo hob die Hand, holte aus und wollte Raisa schon ins Gesicht schlagen. Im letzten Moment lenkte er seinen Zorn um, riss den Spiegel von der Wand und zerschlug ihn auf dem Waschbecken. Die Splitter schnitten ihm ins Fleisch, er blutete, rote Rinnsale rannen �ber seine Handgelenke und Arme. Dann sackte Leo inmitten der blutigen Spiegelscherben zu Boden.
Raisa nahm ein Handtuch und dr�ckte es ihm gegen die verletzte Hand. �Glaubst du vielleicht, ich h�tte mich nicht gewehrt? Glaubst du, ich h�tte nicht versucht, sie davon abzu�halten? Sie haben mich bet�ubt. Als ich wieder zu mir kam, war Elena weg.�
Leo konnte nur noch an seine Niederlage denken. Jetzt war sie vollkommen. All seine Hoffnungen auf eine Familie zerst�rt. Er hatte es nicht geschafft, Soja zu retten, und ebenso wenig hatte er es geschafft, Elena davon zu �berzeugen, dass das Leben lebenswert war. Drei Jahre Ehrlichkeit und Vertrauen zwischen ihm und Raisa waren wie weggeblasen. Er hatte sie belogen. Das Ungl�ck, das daraus erwachsen war, w�rde diese L�ge auf ewig bestehen lassen. Er war nicht zornig auf Raisa, dass sie Frajeras Angebot angenommen und zugestimmt hatte, ihn zu verlassen. Raisa behauptete, das sei einzig und allein Taktik gewesen, ein verzweifelter Versuch, Soja zu retten. Sie hatte das Wohlerge�hen ihrer Familie in die eigenen H�nde genommen. Der einzige Fehler, den sie gemacht hatte, war, damit zu lange gewartet zu haben.
Die Gaukelei der letzten drei Jahre war vorbei. Er war weder ein Vater noch ein Ehemann und ganz gewiss kein Held. Er w�r�de zum KGB gehen. Raisa w�rde ihn verlassen. Was denn sonst? Zwischen ihnen beiden w�rde es ohnehin nichts mehr geben als das Gef�hl dessen, was sie verloren hatten. Jeden Tag w�rde er wissen, dass Frajera recht gehabt hatte, was ihn betraf. Er war ein Mann des Staates. Er hatte sich zwar ge�ndert, doch wesent�lich mehr z�hlte, dass er sich wieder zur�ckverwandelt hatte.
�Eine Zeit lang habe ich wirklich geglaubt, dass wir eine Chance h�tten�, sagte er.
�Ich auch.�
Am selben Tag
Leo wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Reglos hatten Raisa und er nebeneinander auf dem Fu�boden gehockt, an die Dusche gelehnt, in die es hinter ihnen aus dem Hahn tropfte. Irgendwann h�rte er, wie die T�r ge�ffnet wurde, aber immer noch schaffte er es nicht aufzustehen. Stepan und Anna erschie�nen in der Badezimmert�r. Zweifellos hatten sie sich wegen Leos Anruf fr�her am Tag Sorgen gemacht und waren deshalb her�gekommen.
Mit einem Blick erfassten sie den Raum, das Blut und den zerbrochenen Spiegel. �Was ist passiert?�
Raisa dr�ckte Leos Hand.
�Sie haben uns Elena weggenommen�, sagte er.
Weder Stepan noch Anna sagten etwas. Stepan half Raisa hoch, wickelte ein Handtuch um sie und f�hrte sie in die K��che. Anna brachte Leo ins Schlafzimmer und untersuchte den Schnitt. Sie verband die Wunde und k�mmerte sich genauso um ihn wie fr�her, wenn er sich als kleiner Junge wehgetan hatte. Als sie fertig war, setzte sie sich neben Leo.
Er k�sste ihre Wange, stand auf und ging in die K�che. Dort reichte er Raisa die Hand. �Ich brauche deine Hilfe.�
* * *
Leos einflussreichster Verb�ndeter war Frol Panin, doch der be�fand sich au�erhalb der Stadt und war somit nicht verf�gbar. Mit Generalmajor Gratschew war Leo zwar nicht befreundet, aber drei Jahre zuvor hatte dieser Leos Vorschlag unterst�tzt, ein autonomes Morddezernat aufzubauen. In den ersten beiden Jahren war der Major auch Leos direkter Vorgesetzter gewe�sen, dann hatte er sich zur�ckgezogen und Panin Platz gemacht.
Seitdem hatten sie sich nur noch unregelm��ig gesehen. Doch Gratschew war ein Bef�rworter des Wandels und vertrat die Auffassung, dass man nur regieren konnte, wenn man auch Ab�bitte leistete. Man musste, freilich mit Augenma�, das vom Staat begangene Unrecht zugeben und versuchen, es wiedergutzuma�chen.
In Raisas Begleitung klopfte Leo jetzt an Gratschews Woh�nungst�r und warf dabei instinktiv einen pr�fenden Blick den Flur hinunter. Es war schon sp�t, aber bis zum Morgen konnten sie nicht warten, aus Angst, dass die erdr�ckende Mutlosigkeit sie wieder �berfallen w�rde, sobald sie in ihren Bem�hungen nachlie�en. Die T�r wurde ge�ffnet. F�r Leo, der den Gene�ralmajor noch nie anders als in Uniform gesehen hatte, war es ein Schock, ihn jetzt in ungepflegten Klamotten vor sich zu sehen, die Brille voller Fingerabdr�cke. Fr�her hatte er sich stets f�rmlich und reserviert gegeben, doch jetzt umarmte er Leo so �berschw�nglich, als habe er einen verlorenen Bruder wieder�gefunden. Vor Raisa vollf�hrte er eine freundliche Verbeugung. �Aber kommen Sie doch bitte herein!�
Drinnen standen lauter Kartons auf dem Boden, offenbar wurde gepackt.
�Ziehen Sie um?�, fragte Leo.
Gratschew sch�ttelte den Kopf. �Nein, ich werde sozusa�gen umgezogen. Raus aus der Stadt und weit weg. Ich k�nnte Ihnen noch nicht einmal sagen, wohin, ganz ehrlich nicht. Sie haben es mir zwar gesagt, aber von dem Ort hatte ich noch nie etwas geh�rt. Liegt irgendwo im Norden, glaube ich, weit im Norden, wo es kalt und dunkel ist, damit die Botschaft auch ja ankommt.�
Die S�tze sprudelten nur so aus ihm heraus. Leo versuchte, ihn zum Kern des Themas zur�ckzubringen. �Was f�r eine Bot�schaft?�
�Dass ich keine Gunst mehr genie�e, dass man mich nicht mehr f�r den Richtigen h�lt, egal f�r welche Aufgabe, au�er f�r einen kleinen Posten in einer kleinen Stadt. Sie kennen diese Strafe doch beide, nicht wahr? Sie haben sie am eigenen Leib erfahren.�
�Wo ist Ihre Frau?�, fragte Raisa.
�Die hat mich verlassen.�
Und um irgendwelchen Beileidsbekundungen vorzubeugen, f�gte er hinzu: �Im gegenseitigen Einvernehmen. Wir haben einen Sohn. Er ist ehrgeizig. Meine Umsiedelung w�rde all seine Chancen zunichtemachen. Da muss man praktisch denken.�
Gratschew steckte die H�nde in die Hosentaschen. �Wenn Sie zu mir gekommen sind, damit ich Ihnen helfe, muss ich Ihnen leider sagen, dass meine Situation sich erheblich verschlechtert hat.�
Raisa warf Leo einen kurzen Blick zu. In diesem Blick stand die Frage, ob es sich �berhaupt lohnte, diesem Mann ihre Not zu schildern.
Gratschew entging das nicht. �Reden Sie trotzdem mit mir. Nicht, weil ich Ihnen helfen kann, sondern einfach nur, um mit einem gleichgesinnten Freund zu sprechen.�
Die ertappte Raisa wurde rot. �Es tut mir leid.�
�Halb so schlimm.�
Eilig kl�rte Raisa ihn auf. �Unsere Adoptivtochter Elena wur�de uns weggenommen und in eine psychiatrische Klinik in Ka�san eingewiesen. Sie hat sich nie vom Mord an ihrer Schwester erholt. Ich hatte mich darum gek�mmert, dass sie ganz inoffiziell einem Arzt vorgestellt wird.�
Kopfsch�ttelnd unterbrach Gratschew: �Es gibt nichts, was inoffiziell ist.�
Raisa wurde ganz steif. �Der Arzt versprach, keine Kranken�akte anzulegen. Ich habe ihm geglaubt. Als seine Behandlung bei ihr aber nicht anschlug ...�
�Hat er sie einweisen lassen, um sich selbst zu sch�tzen.�
Raisa nickte.
Gratschew dachte nach, dann erg�nzte er, als sei ihm das ge�rade erst eingefallen: �Ich f�rchte, keiner von uns wird sich je wieder von dem Mord an Soja erholen.�
Die Bemerkung �berraschte Leo. Was sollte das hei�en? �Kei�ner von uns? Ich verstehe nicht.�
�Verzeihen Sie. Es war nicht recht, dass ich die weitreichen�den Konsequenzen mit der Trauer vergleiche, die Sie selbst emp�finden m�ssen.�
�Was f�r weitreichende Konsequenzen?�
�Dar�ber m�ssen wir heute wirklich nicht sprechen. Sie sind doch gekommen, um Elena zu helfen ...�
Leo unterbrach ihn.
�Nein. Sagen Sie mir: welche weitreichenden Konsequenzen?� Der Generalmajor hockte sich auf einen Karton. Er sah erst Raisa an, dann Leo. �Sojas Tod hat alles ver�ndert.� Leo starrte ihn verst�ndnislos an.
Gratschew fuhr fort. �Ein junges M�dchen wird ermordet, um dadurch einen ehemaligen Staatssicherheitsoffizier zu be�strafen. F�nfzehn weitere fr�here Beamte werden verfolgt und umgebracht, mehrere gefoltert. Diese Vorg�nge haben selbst die Regierung entsetzt. Dabei hatten sie diese wory-Frau doch aus dem Gulag entlassen. Wie hie� sie noch gleich?�
Wie aus einem Mund antworteten Leo und Raisa: �Frajera.�
�Und wer wurde sonst nicht noch alles freigelassen! Hun�derttausende Str�flinge kommen wieder nach Hause. Wie sollen wir regieren, wenn nur ein Bruchteil von denen sich wie diese Frau auff�hrt? Wird ihre Rache eine Kettenreaktion in Gang setzen, die Recht und Ordnung zusammenbrechen l�sst? Dann h�tten wir wieder B�rgerkrieg. Unser Land w�rde mitten ent�zweigerissen. Dies ist die neue Angst. Deshalb hat man Schritte unternommen, damit das nicht geschieht.�
�Was f�r Schritte?�
�In unsere Gesellschaft hat sich eine gewisse Laxheit ein�geschlichen. Wussten Sie, dass es neuerdings Autoren gibt, die satirische Prosa schreiben? Dudinzew zum Beispiel hat einen Roman verfasst, Nicht vom Brot allein, in dem er sich ganz offen �ber den Staat und die Staatsbeamten lustig macht, schwarz auf wei�. Was kommt als N�chstes? Wir erlauben den Menschen, Kritik zu �ben. Wir erlauben den Menschen, sich gegen unsere Herrschaft aufzulehnen. Wir erlauben ihnen, Rache zu �ben. Und pl�tzlich ist die Autorit�t, die fr�her so stark war, ganz zerbrechlich.�
�Hat es sonst im Land �hnliche Racheakte gegeben?�
�Als ich von den weitreichenden Konsequenzen sprach, mein�te ich damit nicht nur die Vorf�lle in unserem eigenen Land. In s�mtlichen Territorien unter unserem Einfluss herrscht Aufruhr. Schauen Sie sich nur an, was in Polen passiert ist. Die Aufst�nde dort wurden durch Chruschtschows Rede nur noch befeuert. In ganz Osteuropa wabert eine antisowjetische Stimmung: in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien ...�
Leo war entsetzt. �Die Rede ist nach au�en getragen wor�den?�
�Sogar die Amerikaner haben sie. Sie haben sie in ihren Zei�tungen abgedruckt. Sie ist zu einer Waffe gegen uns geworden. Die Leute erkennen, dass wir uns selbst entsetzlich geschadet ha�ben. Wie sollen wir die Weltrevolution vorantreiben, wenn wir derart m�rderische Akte gegen unser eigenes Volk zugeben? Wer wollte sich dann noch unserer Sache anschlie�en? Wer wollte dann noch unser Genosse sein?�
Er unterbrach sich und wischte sich den Schwei� von der Stirn. Leo und Raisa hockten mittlerweile vor ihm wie Kinder, die von einer Geschichte gefesselt sind.
Gratschew fuhr fort. �Nach Sojas Tod wurden alle, die f�r Reformen pl�diert hatten, mich eingeschlossen, zum Schwei�gen gebracht. Selbst Chruschtschow war gezwungen, viel von der Kritik, die er in seiner Rede ge�u�ert hatte, zur�ckzuneh�men. �
�Das habe ich nicht gewusst.�
�Sie haben damals ja auch getrauert, Leo. Um Ihre Tochter. Um Ihren Freund. Die Welt um Sie herum haben Sie gar nicht mehr wahrgenommen. W�hrend Sie Ihre Toten beweinten, wur�de eine bereinigte Version der Rede verfasst.�
�Was genau hei�t >bereinigt<?�
�Die Eingest�ndnisse von Exekutionen durch Standgerichte und von Folter wurden gestrichen. Der neue Text wurde einen Monat nach dem Mord an Soja ver�ffentlicht. Ich will nicht sagen, dass daf�r einzig und allein Frajeras Rachefeldzug ver�antwortlich war, aber ihre Mordtaten trugen doch wesentlich dazu bei. Sie lieferten den Traditionalisten ein �beraus anschau�liches Beispiel. Chruschtschow hatte keine Wahl. Nach einem Beschluss des Zentralkomitees wurde seine Rede umgeschrie�ben. Stalin war jetzt kein M�rder mehr, sondern hatte nur noch Fehler gemacht. Dem System selbst war nichts vorzuwerfen. All die geringf�gigen Fehler gingen allein zu Stalins Lasten. Es war eine Geheime Rede ohne Geheimnisse.�
Leo dachte �ber das nach, was er gerade geh�rt hatte. Dann fragte er: �Und weil mein Dezernat nicht in der Lage war, diese Morde zu unterbinden, hat man es geschlossen.�
�Nein. Das war nur ein Vorwand. Sie waren immer gegen das Morddezernat und nehmen es mir �bel, dass ich an seiner Ein�richtung beteiligt war. Ihr Dezernat war Teil dieser heimlich um sich greifenden Kultur der Nachgiebigkeit. Wir haben zu schnell gehandelt, Leo. Freiheiten erringt man nur langsam, St�ck f�r St�ck. Man muss sie sich erk�mpfen. Die Kr�fte, die f�r den Wandel eintraten, also auch ich, sind zu schnell und zu weit vorgeprescht. Wir waren arrogant und haben uns �bernommen. Wir haben diejenigen untersch�tzt, die die Macht in ihrer alten Form besch�tzen und bewahren wollten.�
�Man hat mir befohlen, wieder f�r den KGB zu arbeiten.�
�Das w�re ein m�chtiger Fingerzeig. Der abtr�nnige MGB-Agent f�gt sich wieder in die traditionellen Strukturen ein. Sie werden benutzt. Und Sie m�ssen sich auch benutzen lassen. Ich w�re an Ihrer Stelle sehr vorsichtig, Leo. Glauben Sie ja nicht, dass diese Leute sich besser benehmen werden als Stalin. Sein Geist lebt weiter, nicht in einer einzelnen Person, sondern verteilt auf viele Menschen. Er ist schwerer auszumachen, aber verlas�sen Sie sich darauf: Er ist �berall.
* * *
Vor der Wohnung nahm Leo Raisas Hand. �Ich muss blind ge�wesen sein.�
Blischnja Datscha
Kunzewo, zwanzig Kilometer westlich von Moskau
21. Oktober
Es war Frol Panins zweiter Besuch in der Blischnja Datscha, einem von Stalins fr�heren Wohnsitzen, der mittlerweile von den Familien der Elite zur Erholung genutzt werden durfte. Man hatte beschlossen, diese Residenz nicht zu schlie�en oder in ein Museum umzuwandeln. Die Datscha sollte stattdessen von spielenden Kindern und K�chenpersonal bev�lkert sein, w�hrend die herrschende Elite sich in den knarzenden Leder�sesseln r�kelte und mit klirrenden Eisw�rfeln gek�hlte Getr�nke schl�rfte. Nach Stalins Tod hatte man entdeckt, dass die Ge�tr�nkeanrichte lauter Flaschen enthielt, die mit vermeintlichem Alkohol gef�llt waren, tats�chlich aber statt Scotch d�nnen Tee und statt Wodka Wasser enthielten. So blieb Stalin immer n�chtern, w�hrend seine Minister die Kontrolle �ber ihre Zun�ge verloren. Mittlerweile hatte man die Br�he weggegossen, sie wurde nicht mehr gebraucht. Die Zeiten hatten sich ge��ndert.
Nachdem Frol von dem F�nf-G�nge-Men� nur sparsam ge�gessen, an drei verschiedenen Sorten blutigen Fleisches herum�gepickt und drei Sorten Wein ignoriert hatte, waren seine gesell�schaftlichen Pflichten f�r den heutigen Abend beendet. Er stieg die Treppe hinauf und lauschte auf den heftigen Regen. Beim Betreten seiner Suite zog er sich das Hemd aus der Hose. Seine kleinen S�hne waren im Zimmer nebenan, ein Hausm�dchen hatte sie ins Bett gebracht. Seine Frau zog sich gerade aus. Wie es von den Ehefrauen erwartet wurde, hatte sie sich schon vor dem Ende des Diners entschuldigt, damit die M�nner noch �ber gewichtige Themen reden konnten - eine Qual, da die meisten betrunken waren und ihnen nichts einfiel.
Erleichtert betrat Panin das Wohnzimmer und schloss die T�r. Der Abend war vorbei. Er verabscheute es hierherzukommen, besonders mit den Kindern. F�r ihn war die Datscha nur ein Ort, an dem Menschen ihr Leben gelassen hatten. Ganz gleich, wie viele Kinder auf dem Gel�nde spielten und wie laut sie alle lachten - die Geister lie�en sich nicht vertreiben.
Frol schaltete das Wohnzimmerlicht aus und begab sich ins Schlafzimmer, dabei rief er nach seiner Frau.
�Nina?�
Nina sa� auf der Bettkante. Neben ihr hockte Leo. Er war vom Regen vollkommen durchn�sst und seine Hosen voller Schlammspritzer. Seine eine Hand war verbunden, und auch dieser Verband war klatschnass. Schmutziges Wasser tropfte aus seinen Kleidern und hinterlie� einen kreisrunden Fleck auf dem Bettlaken. In Leos Gesicht las Frol eine �u�ere Ruhe, hinter der sich eine enorme innere Sprengkraft verbarg, eine unvorstellbare Wut unter einer d�nnen Glasscheibe.
Frol versuchte rasch die Situation einzusch�tzen: �Vielleicht w�re es besser, wenn statt meiner Frau ich mich zu Ihnen setze.�
Ohne auf eine Antwort zu warten, winkte er Nina zu sich heran. Langsam stand sie auf. Leo hielt sie nicht zur�ck.
�Was geht hier vor?�, fl�sterte sie Frol zu.
So laut, dass Leo es auf jeden Fall h�ren konnte, antwortete Frol: �Du musst wissen, dass Leo einen entsetzlichen Schock erlitten hat. Er ist gramgebeugt und kann keinen klaren Gedan�ken fassen. Dass er in eine Datscha eingebrochen ist, k�nnte ihn leicht den Kopf kosten. Ich werde mein Bestes tun, damit das nicht geschieht.�
Er unterbrach sich und wandte sich dann direkt an Leo. �Darf meine Frau nach den Kindern sehen?�
Leos Augen spr�hten Funken. �Ihren Kindern geschieht nichts. Wie k�nnen Sie mich so etwas nur fragen?�
�Sie haben recht, Leo. Ich entschuldige mich.�
�Ihre Frau bleibt hier.�
�Wie Sie w�nschen.�
Nina setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke. Frol fuhr fort. �Ich nehme an, hier geht es um Elena. Sie h�tten in mein B�ro kommen und einen Termin machen k�nnen. Ich h�tte mich um ihre Freilassung gek�mmert. Mit ihrer Einweisung in dieses Krankenhaus hatte ich nichts zu tun. Ich war entsetzt, als ich davon h�rte. Ganz �berfl�ssigerweise hat der Arzt sich an seine Vorschriften gehalten. Er glaubte, er w�rde damit das Richtige tun.�
Frol schwieg einen Augenblick. �Sollen wir uns nicht etwas zu trinken bestellen?�
Leo kehrte seine Taschen nach au�en: �Ich stelle keinerlei Bedrohung f�r Sie dar. Ich habe keine Waffe bei mir. Wenn Sie die Wachen rufen, werden die mich verhaften.�
Nina sprang auf und wollte um Hilfe schreien.
Frol bedeutete ihr, still zu sein. �Und was wollen Sie dann, Leo?�, fragte er.
�Hat Frajera f�r Sie gearbeitet?�
�Nein.� Frol setzte sich neben ihn. �Wir haben zusammen�gearbeitet.�
* * *
Leo hatte damit gerechnet, dass Frol Panin die Sache abstreiten w�rde. Andererseits hatte er ja gar keinen Grund zu l�gen. So machtlos, wie Leo war, konnte er doch mit der Wahrheit eben�so wenig anfangen wie mit einer Ableugnung. Panin stand auf, zog seine Anzugjacke aus und kn�pfte sich die obersten Hemd�kn�pfe auf.
�Frajera ist zu mir gekommen. Ich wusste nicht, wer sie war. �ber die wory in Moskau hatte ich keinerlei Informationen, sie waren nie von Belang gewesen. Frajera war in meine Wohnung eingebrochen und wartete auf mich. Sie wusste alles �ber Sie. Und nicht nur das, sie wusste auch von dem Kampf zwischen den Traditionalisten und den Reformern in der Partei. Sie schlug vor, dass wir zusammenarbeiten sollten, da wir doch gemeinsame Interessen h�tten. Ihr sollte man die Freiheit gew�hren, an denen, die f�r ihre Verhaftung mitverantwortlich gewesen waren, Rache zu �ben. Wir w�rden daf�r diese Mordserie f�r unsere Zwecke ausschlachten und �ffentliche Angst sch�ren k�nnen.�
�Um Lasar ging es ihr also gar nicht?�
Panin sch�ttelte den Kopf. �Sie betrachtete ihn als eine Ge�stalt aus ihrem fr�heren Leben. Er war nur der Vorwand. Frajera wollte Sie dadurch bestrafen, dass Sie in einen Gulag mussten. Sie wollte, dass Sie die Welt, in die Sie so viele Menschen ge�schickt hatten, mit eigenen Augen sahen. Wir wiederum wollten Sie aus dem Weg haben. Das Morddezernat war die einzige unabh�ngige Ermittlungseinheit. Frajera verlangte freie Hand. Nachdem Sie und Timur erst einmal weg waren, konnte sie t��ten, wen immer sie wollte.�
�Der KGB hat nie nach ihr gefahndet?�
�Wir haben sichergestellt, dass er ihr nie zu nahe kam.�
�Und die Beamten, die Sie in meiner Abwesenheit ins Mord�dezernat versetzt haben?�
�Waren unsere Leute, die machten, was wir ihnen sagten. Leo, Sie haben beinahe den Tod des Patriarchen verhindert. Dieser Mord war ein entscheidender Teil unseres Plans. Sein Tod hat den gesamten Machtapparat aufgeschreckt. W�ren Sie in der Stadt geblieben, dann w�re Frajera gezwungen gewesen, Sie zu t�ten. Sie hatte ihre Gr�nde, das nicht zu wollen. Sie zog es vor, Sie wegzuschicken und Ihre Strafe zu etwas viel Schrecklicherem auszudehnen.�
�Und Sie haben dem zugestimmt.�
Panin schien �berrascht, dass Leo noch einmal betonte, was doch ohnehin auf der Hand lag. �Ja, ich habe zugestimmt. Ich habe Generalmajor Gratschew versetzen lassen und mich selbst als Ihren engsten Berater eingesetzt, damit Sie auch die richtigen Entscheidungen trafen - die Entscheidungen, die wir von Ihnen wollten. Und dann habe ich die notwendigen Papiere beschafft, mit denen Sie in den Gulag 57 gelangen konnten.�
�Sie und Frajera haben das also alles von langer Hand ge�plant?�
�Wir haben nur auf den richtigen Moment gewartet. Als ich dann Chruschtschows Rede h�rte, wusste ich, dass es an der Zeit war, wir mussten handeln. Die Reformen gingen zu weit.�
Leo stand auf und trat auf Nina zu. Besorgt stand auch Panin auf, er war nerv�s.
Leo legte ihr die Hand auf die Schulter. �Haben wir nicht auf diese Weise fr�her unsere Verd�chtigen verh�rt? Mit einem nahen Angeh�rigen dabei, und jeder wusste, warum. Wenn der Verd�chtige nicht die richtige Antwort gab, w�rde man den An�geh�rigen bestrafen.�
�Aber ich beantworte ja Ihre Fragen, Leo.�
�Sie haben den Mord an M�nnern und Frauen angeordnet, die dem Staat gedient haben?�
�Viele von ihnen waren selber M�rder. Diese Leute h�tten in meiner Lage dasselbe getan.�
�In was f�r einer Lage?�
�Leo, diese un�berlegten Reformen stellen f�r unseren Staat eine riesengro�e Gefahr dar. Sie sind bedrohlicher als Stalins Verbrechen und sogar noch bedrohlicher als der Westen. Fra�jeras Morde waren nur ein Blick in die Zukunft. Die Millionen von Menschen, die wir als herrschende Partei ungerecht behan�delt haben, h�tten revoltiert, genauso wie die Gefangenen an Bord der Stary Bolschewik und die im Gulag. Solche Szenen h�tten sich in jeder Stadt und jeder Provinz abgespielt. Ihnen ist offenbar entgangen, dass wir uns in einem unterschwelligen Kampf um das �berleben unserer Nation befinden. Die Frage ist nicht, ob Stalin nun zu weit gegangen ist oder nicht. Nat�r�lich ist er das. Aber die Vergangenheit k�nnen wir nicht mehr zur�ckdrehen. Und unsere Autorit�t gr�ndet auf der Vergan�genheit. Wir m�ssen also so vorgehen wie immer: mit eiserner Hand. Wir k�nnen nicht einfach Fehler zugeben und darauf hoffen, dass die B�rger uns trotzdem noch lieben. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sie uns �berhaupt je lieben werden. Also m�ssen sie uns f�rchten.�
Leo nahm seine Hand von Ninas Schulter.
�Sie haben bekommen, was Sie wollten. Die Geheime Rede ist zur�ckgezogen worden. Sie brauchen Frajera nicht mehr. �berlassen Sie sie mir. Gew�hren Sie mir dieselbe Rache, die Sie auch ihr gew�hrt haben. Dass Sie Frajera damit verraten, braucht Ihnen keine Gewissensbisse zu machen. Alle anderen haben Sie ja auch verraten.�
�Leo, mir ist klar, dass Sie keinerlei Grund haben, mir zu trauen. Aber ich gebe Ihnen trotzdem einen Rat: Vergessen Sie Frajera. Vergessen Sie sie vollkommen. Lassen Sie mich daf�r sorgen, dass Elena aus dem Krankenhaus entlassen wird. Da�nach k�nnen Raisa und Sie aus der Stadt ziehen, weit weg von all den Erinnerungen. Ich besorge Ihnen eine andere Arbeit. Was immer Sie machen wollen.�
Leo blickte Panin direkt in die Augen. �Arbeitet sie immer noch f�r Sie?�
�Ja.�
�Und woran?�
�Diese Rede hat uns im eigenen Land und auf internationaler Ebene geschw�cht. Als Antwort darauf m�ssen wir ein klares Zeichen der St�rke setzen. Deshalb sind wir dabei, im Ausland einen Aufstand zu inszenieren, irgendwo im Sowjetblock. Kleine, unbedeutende Krawalle, die wir dann aber gnadenlos nieder�schlagen werden. Der KGB hat eine Reihe ausl�ndischer Zellen etabliert, die, �ber ganz Osteuropa verstreut, Unruhe entfachen sollen. Eine dieser Zellen befehligt Frajera.�
�Wo?�
�H�ren Sie auf meinen Rat, Leo. Diesen Kampf k�nnen Sie nicht gewinnen.�
�Wo ist sie?�
�Sie k�nnen sie nicht schlagen.�
�Womit k�nnte sie mir schon noch wehtun?�
�Sie sollten wissen, Leo, dass Ihre Tochter Soja lebt.�
Osteuropa, Sowjetzone
Ungarn, Budapest
22. Oktober
So schnell sie konnte, marschierte Soja zum Opernhaus, dem �bergabeort f�r ihre illegale Fracht. Ihre Taschen quollen schier �ber von Munition, insgesamt hundert Patronen waren es im Ganzen. Die Spitzen waren kreuzf�rmig eingekerbt, damit die Kugel sich beim Eintritt in den K�rper vierteilte. Trotz der K�lte war Soja vor Aufregung ganz hei�. Mit ihrem knielangen Man�tel und dem schwarzen, schr�g in die Stirn gezogenen Barett sah sie �lter aus als vierzehn, eher wie eine ungarische Studentin als wie eine russische Waise. Nerv�s und schwitzend riss sie sich das Barett vom Kopf und stopfte es �ber die Patronen in die Manteltasche, um das verr�terische Geklimper zu d�mpfen.
Als sie die gro�e Ausfallstra�e Sztalin ut erreichte, die nicht weit vom Opernhaus lag, blieb Soja stehen und �berpr�fte, ob ihr auch niemand gefolgt war. Ohne dass sie damit gerechnet h�tte, fasste jemand sie pl�tzlich um die Schultern. Sie wirbelte herum und fand sich umringt von einer Gruppe junger M�nner, die sie zun�chst f�r ungarische Geheimpolizisten hielt. Doch dann k�sste sie einer auf die Wange und dr�ckte ihr ein Blatt in die Hand, irgendein Pamphlet. Die M�nner redeten wild auf sie ein. Soja war erst seit vier Monaten in der Stadt und hatte bislang nur ein paar Brocken Ungarisch aufgeschnappt. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, waren es Studenten oder K�nstler, keine Beamten. Soja atmete auf. Trotzdem musste sie vorsichtig sein. Wer wusste schon, wie diese Leute reagieren w�rden, wenn sie erst mitbekamen, dass sie Russin war? Sie l�chelte scheu und hoffte, dass man sie f�r sch�chtern hielt und gehen lie�. Aber die M�nner zeigten ohnehin kaum Interesse an ihr, sondern entroll�ten ein Plakat und klebten es an ein Schaufenster. Soja machte sich aus dem Staub und eilte ihrem Ziel entgegen.
Sie erreichte das Opernhaus, erklomm die steinerne Treppe und verbarg sich hinter den S�ulen, damit man sie von der Stra�e aus nicht sehen konnte. Dann sah sie auf ihre Uhr, ein Geschenk von Frajera. Sie war zu fr�h dran, also zog sie sich in den Schatten zur�ck und wartete darauf, dass ihr Kontakt�mann eintraf. Es war der erste Auftrag, den sie allein ausf�hrte, normalerweise arbeitete sie mit Malysch zusammen. Sie beide waren ein Gespann - eine Partnerschaft, die f�nf Monate zuvor in Moskau geschmiedet worden war.
Als man Soja in jener Nacht aus ihrer Zelle geholt hatte, war sie sicher gewesen, dass Frajera sie umbringen w�rde, um Leo zu bestrafen. Sie blickte also erneut dem Tod ins Auge und stellte fest, dass es ihr diesmal �berhaupt nicht mehr gleichg�ltig war.
�Malysch!�, rief sie.
Frajera lie� sie herunter. �Warum hast du nach ihm gerufen?�
�Weil ich ... ihn gern habe.�
Frajera grinste. Dann verwandelte sich das Grinsen in ein zu�n�chst leises, dann immer lauteres Lachen, in das der Kerl neben ihr einstimmte - ein ver�chtliches Duett. Soja wurde rot, ihr Gesicht brannte vor Scham. Gedem�tigt ging sie mit erhobenen F�usten auf Frajera los, doch bevor sie zuschlagen konnte, um�klammerte Frajera ihre Handgelenke.
�Ich gebe dir eine Chance. Nur eine. Wenn du versagst, bringe ich dich um. Wenn du es schaffst, wirst du eine von uns. Dann kannst du mit Malysch zusammenbleiben.�
In jener Nacht hatte man sie auf die Bolschoi-Krasnocholom-Br�cke gefahren, und alles war so gekommen, wie Frajera es vorhergesagt hatte. Leo und Raisa warteten auf der Br�cke. Nass geregnet stiegen sie vorne in den Wagen. Soja, die durch ein Gitter von ihnen getrennt war, hatte in Raisas qualvoll verzerrtes Gesicht geblickt. In diesem Moment kamen ihr noch einmal Zwei�fel, aber es war schon zu sp�t, um jetzt noch einen R�ckzieher zu machen. Sie presste die H�nde gegen das Gitter und sagte dabei ihrem ungl�cklichen Dasein Lebewohl - eine Entscheidung, die es mit sich brachte, dass sie auch ihre kleine Schwester zur�cklas�sen musste. Als man sie aus dem Wagen zerrte, hatte sie so getan, als wehre sie sich. Au�er Sichtweite kletterte sie freiwillig in den Sack, in dem schon Malysch hockte und auf sie wartete.
Der Sack wurde an den Rand der Br�cke geschleppt. Soja tat weiter so, als wehre sie sich, bis sie vollkommen unerwartet zu�sammengeschlagen wurde. Der Sack wurde zugeschn�rt. In der Dunkelheit umklammerte Malysch sie und hielt sie fest, w�h�rend man sie hinunterstie�. F�r kurze Zeit schwebten sie eng umschlungen in der Finsternis - dann klatschten sie ins Wasser.
Sofort zogen Eisengewichte sie nach unten. Sie steckten in ei�nem Sack aus wasserdichtem Wachstuch, der ihnen eine Minute Luft zum Atmen lassen w�rde. Dumpf trafen die Eisengewichte auf den Grund auf, und Soja und Malysch kippten in ihrem Sack zur Seite. Ohne etwas sehen zu k�nnen, klappte Malysch sein Messer auf und stach durch die Plane. Kaum hatte er den Sack durchtrennt, drang auch schon eiskaltes Wasser ein und f�llte ihn binnen Sekunden. Die beiden schwammen zum Ufer und bekamen noch mit, was sich als Letztes auf der Br�cke abspielte. Leo und Raisa sprangen hinab und glaubten irrigerweise, sie k�nnten Soja retten.
Indem sie sich an der Kaimauer entlangzogen, k�mpften Soja und Malysch sich flussaufw�rts vor. An einem h�lzernen Steg trafen sie schlie�lich wieder mit Frajera zusammen. Aus der Entfernung h�rte Soja die verzweifelten Schreie von Raisa und Leo, die sich der Trauer um ein Kind hingaben, das sie f�r verloren hielten.
* * *
Am Fu� der Treppe zur Oper lungerte ein Mann herum. Soja trat aus ihrem Versteck. Der Mann blickte pr�fend die Sztalin ut hinauf und hinab, bevor er sich ihr zuwandte. Soja leerte ihre Taschen und f�llte seinen Beutel mit der manipulierten Muniti�on. Der Mann holte eine Pistole hervor und steckte eine Patrone in die Kammer. Sie passte. W�hrend Soja weiter Patronen aus ih�rer Tasche in seine Tasche steckte, lud er die anderen Kammern. Als er fertig war, steckte er seine Waffe ein und nickte einmal zum Dank, dann eilte er die Treppe hinunter. Soja z�hlte bis zwanzig, dann machte sie sich auf den Heimweg.
Es war seltsam, sich diese Stadt als ein Zuhause vorzustellen. Noch vor f�nf Monaten hatte Soja �ber Ungarn lediglich gewusst, dass es ein loyaler Verb�ndeter der Sowjetunion war, Teil einer internationalen Bruderschaft und ein Vorreiter der Welt�revolution. Frajera hatte diese Schulpropaganda zurechtger�ckt und ihr erkl�rt, dass Ungarn nie die Wahl gehabt hatte. Nach�dem man es vom Faschismus befreit hatte, war es okkupiert und unter sowjetische Herrschaft gestellt worden. Ungarn war ein souver�ner Staat ohne jede Souver�nit�t. Der langj�hrige F�hrer M�ty�s R�kosi, der von Stalin ernannt worden war, hat�te seinem Meister in allem nachgeeifert und viele seiner B�rger foltern oder exekutieren lassen. Nach dem Vorbild des sowjeti�schen Geheimdienstes hatte er den AVH ins Leben gerufen, die ungarische Geheimpolizei. Die Sprache und das Land mochten anders sein, aber der Terror war derselbe. Nach Stalins Tod hatte das Ringen um Reformen begonnen, gesch�rt vom Traum der Unabh�ngigkeit. Soja war zwar eine Ausl�nderin, eine Au�en�seiterin, doch seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich nirgendwo mehr zu Hause gef�hlt als hier in diesem Land, das wie sie selbst gegen seinen Willen adoptiert worden war.
Erleichtert, dass der Abend fast vorbei war und sie die Muni�tion nicht mehr herumtrug, bog Soja in die Nagymezo ut ein. Di�rekt vor ihr hatte sich eine kleine Menschentraube versammelt.
In ihrer Mitte befanden sich dieselben M�nner, denen sie schon zuvor begegnet war. Die einen hatten sich auf die Schultern der anderen gesetzt und eine Stra�enlampe von oben bis unten in einen Totempfahl f�r ihre Plakate verwandelt. Eine Frau in der Menge sah Soja n�her kommen. Sie war um die drei�ig, untersetzt und st�mmig. Und sie war betrunken, ihre Wangen gl�hten. Wie einen riesigen Schal hatte sie sich eine ungarische Fahne umgelegt. Soja warf einen fl�chtigen Blick auf die Laterne und zog das gleiche Plakat, das dort hing, zerknittert aus ihrer Tasche, als ob sie sagen wollte: Ich wei� schon Bescheid.
Doch die Frau gab sich mit dieser Geste nicht zufrieden, sondern zog Soja in die Menschentraube hinein und sprach gut gelaunt auf sie ein. Soja verstand kein Wort. Die Frau fing an zu singen und zu tanzen. Die anderen stimmten ein, alle kannten den Text, alle au�er Soja. Sie konnte nur lachen und ein freund�liches Gesicht machen und hoffen, dass sie sie am Ende gehen lassen w�rden. Darauf bedacht, sich zu verdr�cken, bevor die anderen merkten, dass sie gar nichts sagte, versuchte sie sich den Zuneigungsbekundungen der fremden Frau zu entwinden. Aber die strahlte pl�tzlich gar nicht mehr. Ein Lieferwagen war von der Hauptstra�e abgebogen und raste auf sie zu. Schleu�dernd kam er zum Stehen, und zwei AVH-Beamte sprangen heraus.
Die Menge umstellte die Stra�enlaterne, als sei sie eine Ge�fechtslinie, die es zu verteidigen galt. Einer der Beamten griff nach der Fahne, die mittlerweile um Soja drapiert war, riss sie weg und hielt sie ver�chtlich hoch. Erst jetzt bemerkte Soja, dass man das kommunistische Symbol von Hammer und Sichel herausgeschnitten hatte und in der Mitte des Stoffes ein Loch klaffte. Sie verstand nichts von dem, was der Beamte von sich gab, f�r sie h�rte er sich einfach an wie ein bellender Hund. W�tend �ber ihr Schweigen durchsuchte er ihre Taschen. Als er nichts fand au�er dem Barett, warf er es ihr wieder zu. Eine einzelne Patrone, die sich darin verheddert hatte, klackerte auf die Stra�e.
Der Polizist hob sie auf und starrte Soja dann direkt an. Bevor er noch etwas sagen konnte, griff die Betrunkene zu, riss Soja das Barett wieder aus der Hand und setzte es sich stolz auf. Es war ihr zu klein und lie� sie l�cherlich aussehen. Der Beamte kon�zentrierte sich auf die Frau. Soja musste kein Ungarisch k�nnen, um zu verstehen, dass er sie fragte, ob das Barett ihr geh�re. Der Polizist hielt ihr die Patrone vors Gesicht. Vermutlich fragte er, ob auch die ihr geh�re. Als Antwort spuckte sie ihm ins Gesicht. W�hrend der Mann sich den Speichel vom Gesicht wischte, warf die Frau Soja einen fl�chtigen Blick zu, der ihr sagte: Hau ab!
Soja rannte quer �ber die Stra�e. Mitten im Lauf wandte sie den Kopf und schaute �ber die Schulter. Sie sah, wie der AVH-Beamte ausholte und der Frau ins Gesicht schlug. Als ob sie selbst getroffen worden w�re, knickten Soja die Beine weg, und sie flog hin. Ihre H�nde sch�rften �ber den Boden. Sie rollte sich auf den R�cken und sah �ber ihre Schuhspitzen hinweg, wie die Frau zu Boden ging. Ein Mann sprang vor und packte den Beamten, ein zweiter mischte sich in das Handgemenge ein. Soja rappelte sich hoch und rannte weiter, diesmal schaffte sie es bis zur anderen Stra�enseite. Selbst als sie au�er Sichtweite war, blieb sie nicht stehen. Sie musste Hilfe holen. Frajera w�rde wissen, was zu tun war.
Frajera und ihre wory hausten in mehreren Wohnungen in einem kleinen Hinterhofgeb�ude, das zur�ckgesetzt an der Rdkoczi ut lag. Man erreichte es nur durch eine schmale Gasse und konnte es deshalb auch von der Stra�e aus nicht sehen oder gar beobachten. Als sie dort ankam, verfiel Soja in einen Trott. Niemand folgte ihr. Gerade war sie in der unbeleuchteten Gasse angelangt und erleichtert, von der Stra�e weg zu sein, da legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Es war Malysch. Sie fielen sich in die Arme.
�Geht es dir gut?�, fragte er. Sie sch�ttelte den Kopf.
Sie betraten den Hof. Die Wohnungen waren �ber sechs Eta�gen verteilt. Frajera hatte gleich mehrere in Beschlag genommen, die in verschiedenen Stockwerken lagen und alle eine andere Bestimmung hatten. In einer stand eine kleine Druckerpresse, mit der man Zettel und Plakate herstellen konnte. In einer zwei�ten befand sich das Waffen- und Munitionsarsenal. Eine dritte diente als Versammlungsort, wo die Leute essen, schlafen und reden konnten. Soja betrat die Gemeinschaftswohnung und war erstaunt �ber die Anzahl der Leute. Es waren viel mehr als sonst. Auf der einen Seite sa�en lauter ungarische M�nner und Frauen, alle um die zwanzig, die leidenschaftlich miteinander diskutierten. Auf der anderen Seite waren die wory. Die meisten waren nicht mit nach Budapest gekommen, sondern hatten die Vertrautheit der Moskauer Unterwelt vorgezogen. Sie verstan�den nicht, was Frajera mit Panin ausgehandelt hatte, und konn�ten sich kein Leben au�erhalb von Russland vorstellen. Nur ein paar ihrer gl�hendsten Anh�nger waren Frajera gefolgt, zum Teil aus Loyalit�t, zum Teil aber auch, weil sie wussten, dass keine andere Moskauer Verbrecherbande sie aufnehmen w�rde. Von vorher f�nfzehn waren nur noch vier �brig.
Frajera sa� in der Mitte des Raumes, zwischen den Gruppen. Sie h�rte auch zu, wenn Ungarisch gesprochen wurde, achtete dann auf die K�rpersprache und die Gesten. Sie sah Soja sofort und bemerkte auch ihre Verzweiflung. �Was ist passiert?�
Soja berichtete. Frajeras Augen begannen zu funkeln. Sie drehte sich um und wandte sich an ihren �bersetzer, einen un�garischen Studenten namens Zsolt Polgar.
�Sucht so viele ungarische Fahnen zusammen wie m�glich. Dann schneidet Hammer und Sichel heraus, sodass in der Mitte nur noch ein Loch ist. Dies ist das Symbol, auf das wir gewartet haben.�
Die Frau, die ihr Leben riskiert hatte, um Soja zu retten, in�teressierte Frajera gar nicht. Aufgebracht verlie� Soja die Woh�nung. Sie lehnte sich ans Balkongel�nder. Malysch kam ihr nach. Er z�ndete sich eine Zigarette an, eine Angewohnheit, die er den anderen wory abgeschaut hatte. Sie nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und trat sie mit dem Fu� aus. �Davon stinkst du.�
Im n�chsten Moment bereute sie ihre Worte. Wenn er rauchte, konnte man es zwar tats�chlich riechen, er roch dann wie die anderen wory. Aber sie hatte ihn doch nicht kr�nken wollen. Verletzt rutschte Malysch vom Gel�nder und zog sich beleidigt in die Wohnung zur�ck. Sie musste sich endlich daran gew�h�nen, dass er nicht ihre kleine Schwester war, die man einfach herumkommandieren konnte.
Die Erinnerung an Elena w�rgte sie wie eine Hand. Unz�hli�ge Male hatte sie �ber ihre Entscheidung nachgegr�belt. Zwar h�tte man sie, wenn sie sich Frajera nicht angeschlossen h�tte, umgebracht. Doch trotzdem hatte sie nur noch weggewollt, ab�hauen. Und wenn sie die freie Wahl gehabt h�tte, wenn Frajera ihr angeboten h�tte, entweder zur�ck nach Hause zu gehen oder mit ihr zu kommen, auch dann h�tte sie ihre kleine Schwester zur�ckgelassen.
�Bist du w�tend?�
Soja fuhr hoch und sah, dass es Frajera war. Obwohl sie nun schon f�nf Monate zusammenlebten, blieb Frajera doch immer noch Furcht einfl��end und unnahbar, eher ein rastloses Ener�gieb�ndel als ein Mensch. Soja riss sich zusammen.
�Die Frau mit der Fahne hat mich gerettet. Es ist gut m�glich, dass sie daf�r stirbt.�
�Soja, gegen eines solltest du dich wappnen: Es werden noch viele Unschuldige sterben.�
Am selben Tag
Frajera stieg die Treppe hinunter und verlie� den Hof. Sie �ber�pr�fte, dass niemand sie gesehen hatte. Die Stra�en waren leer. Keine Spur von den avh-Beamten, die Soja erw�hnt hatte. Fra�jera machte sich auf den Weg. Immer wieder blieb sie absichtlich ganz abrupt stehen und drehte sich um, um ganz sicherzugehen, dass sie auch nicht verfolgt wurde. Sie vertraute niemandem, nicht einmal ihren Anh�ngern. Die Arbeiter, Studenten und Repr�sentanten der verschiedenen im Untergrund operieren�den antisowjetischen Widerstandsbewegungen waren naive Umstandskr�mer und nur mit ihrem theoretischen Geschwafel besch�ftigt. Es w�re dem avh ein Leichtes, sie zu infiltrieren. Diese Leute waren derma�en mit sich selbst besch�ftigt, dass sie keinerlei Warnsignale wahrnahmen und damit alle in Gefahr brachten. Frajera war zwar in Frol Panins Auftrag hier, der avh aber hatte von ihrer Operation keine Ahnung. Wenn man sie fasste, w�rde man sie erschie�en. Die Moskauer Verschw�rer hatten niemanden sonst in ihre Pl�ne eingeweiht, eine Revolte anzuzetteln. Wenn ihre regimekritischen Unterst�tzer heraus�fanden, dass sie gleichzeitig auch mit der sowjetischen Regie�rung gemeinsame Sache machte, w�rden die sie umbringen.
Frajera b�ckte sich und hob ein Flugblatt auf, das im Rinn�stein herumflatterte. Es war eine Abschrift der revidierten sechzehn Punkte - sechzehn Forderungen nach Reformen. Man hatte sie gestern Nachmittag w�hrend einer �berf�llten Zusammenkunft in der Technischen Universit�t formuliert. Da Frajera nicht als Studentin durchgegangen w�re, hatte sie drau��en herumgelungert. Als sie geh�rt hatte, dass es in dem Treffen darum ging, ob die Studenten aus Protest gegen die sowjetischen Herrschenden aus dem DISZ austreten sollten, dem kommunis�tischen Studentenbund, hatte sie sich lauthals �ber ihren feh�lender) Mumm beklagt und ihre studentischen Bekannten dazu animiert, waghalsigere Aktionen in die Diskussion zu werfen.
Seit vier Monaten arbeitete sie nun schon an dieser Sache, machte Druck, bot materielle Unterst�tzung an und sch�rte nach Kr�ften die Ressentiments gegen die Besatzer. Der Hass war ja schon da und auch tief verwurzelt, doch Frajera unter�nahm alles, damit er sich auch in handfesten Aktionen entlud. Da sie das nicht allein bewerkstelligen konnte, musste sie diese Amateurdissidenten anleiten. Gestern hatte sie endlich Erfolg gehabt. Mit einer Entschlossenheit und Klarheit, die sogar Fra�jera �berrascht hatte, hatten die Studenten die Ergebnisse ihrer Debatte in sechzehn Punkten zusammengefasst:
In �bereinstimmung mit dem Friedensvertrag fordern wir den unverz�glichen R�ckzug aller sowjetischen Truppen.
Auf den hingekritzelten Notizen, die man ihr aus dem Saal her�ausreichte, hatte diese Forderung an vierter Stelle rangiert. Fra�jera war zur�ck in ihre Wohnung geeilt und hatte die Notizen abgeschrieben, allerdings mit einer �nderung: Die Forderung nach dem R�ckzug der sowjetischen Truppen stand jetzt an erster Stelle. Nur Stunden sp�ter verteilten ihre wory auf der Stra�e Abz�ge der ge�nderten Liste, erg�nzt durch die provo�kantesten Passagen der Geheimen Rede.
Abgesehen von den wory, dem Rest ihrer Bande, war ihr engster Mitstreiter ihr �bersetzer Zsolt Polgar, ein Maschinen�baustudent, den sie in einer revolution�ren Untergrundkneipe kennengelernt hatte. In dieser Kneipe im Keller einer Fabrik, die so verqualmt war, dass man die Decke nicht mehr sehen konnte, hatte sie lauter engagierte Leute getroffen. Zsolt war der Sohn eines wohlhabenden ungarischen Diplomaten, dem Macht und Geld offengestanden h�tten, wenn er sich nur mit der sowjeti�schen Besatzung abgefunden und seinen Platz in diesem Sys�tem eingenommen h�tte. Er sprach flie�end Russisch und war schnell zu Frajeras wertvollstem Mittelsmann geworden. Frajera hielt ihn bei Laune, schlief mit ihm und beeindruckte ihn mit Ge�schichten �ber ihre R�cksichtslosigkeit. Da sie seine F�higkeiten sch�tzte, schmeichelte sie ihm, indem sie ihn als revolution�ren Freigeist lobte. In Wahrheit sah sie in ihm kaum mehr als einen rebellischen J�ngling, der sich gegen seinen Vater auflehnte, die�sen Kriecher, der die Taten der Sowjets besch�nigte.
Ungeachtet seiner pers�nlichen Motive war Zsolt aber tapfer, idealistisch und leicht zu beeinflussen. Um den sechzehn Forde�rungen Nachdruck zu verleihen, hatte er eine Demonstration vorgeschlagen, ein genialer Einfall. Wie sich zeigte, war man auch andernorts in der Stadt auf diese Idee gekommen, und Fra�jera fragte sich, ob das wohl das Werk einer von Panins weiteren Zellen war.
Wie auch immer, auf jeden Fall w�rden sich morgen an ent�gegengesetzten Treffpunkten zeitgleich zwei Protestm�rsche in Bewegung setzen, die am Palffy-Platz zusammentreffen sollten. Auch vorher hatte es in der Hauptstadt schon �ffentliche Pro�teste gegeben, doch viel war nie daraus geworden. Frajera war �berzeugt, dass man die Leute dazu bringen musste, Seite an Seite zu marschieren und sich gegenseitig aufzustacheln. Erst dann konnte sich die unterschwellige Wut von einer verbitterten Duckm�userei in einen Ausbruch entfesselter Gewalt verwan�deln wie eine Raupe in einen Schmetterling.
Als sie am Astoria-Hotel ankam, das nur wenige Stra�enz�ge von ihrer Kommandozentrale entfernt lag, beobachtete Frajera zun�chst einen Moment lang pr�fend die Kreuzung, dann warf sie einen fl�chtigen Blick hinauf zur obersten Fensterreihe des Hotels. Im letzten Fenster brannte anheimelnd eine rote Ker�ze - ihr bevorzugtes Signal. Diesmal bedeutete es, dass sie nach oben kommen sollte. Frajera lief zum Hintereingang des Hotels, durchquerte den leeren K�chentrakt, stieg dann hinauf bis zur obersten Etage und ging durch den Flur bis zum letzten Zim�mer. Sie klopfte. Ein Wachposten �ffnete die T�r, er hatte seine Waffe gez�ckt. Hinter ihm befand sich ein zweiter. Frajera betrat die Suite, wurde gefilzt und dann zur n�chsten T�r geleitet. An einem Tisch, den Blick aus dem Fenster gerichtet wie ein gr��belnder Poet, sa� Frol Panin.
Dass sie sich einmal ausgerechnet mit Panin oder einem von seiner Sorte zusammentun w�rde, hatte Frajera nie vorgehabt. Aber als sie in Moskau angekommen war, war ihr klar geworden, dass sie sich entweder damit zufriedengeben musste, Leo einfach ein Messer in den R�cken zu sto�en, oder Hilfe brauchte. Auch Budapest war urspr�nglich nicht vorgesehen gewesen, es hatte sich einfach ergeben. Mit der Vort�uschung von Sojas Tod hatte sie ihr urspr�ngliches Ziel, Leos Traum vom Gl�ck zu zerst�ren, eigentlich erreicht. Sie hatte Leo gequ�lt, so wie er fr�her selbst andere gequ�lt hatte, der Verlust eines Sohnes war bezahlt wor�den mit dem Verlust einer Tochter. Leo war am Boden zerst�rt, vor ihm lag nichts mehr als Trauer. Selbst das Feuer eines heiligen Zorns, das sie selbst in ihrer Verzweiflung gew�rmt hatte, w�rde ihm verwehrt bleiben. Ihre Rache war vollkommen.
Und was jetzt?
Schnell war ihr klar geworden, dass sie sich nicht einfach wieder aus Panins Umklammerung w�rde l�sen und verschwin�den k�nnen. Sobald sie ihm nicht mehr n�tzlich war, w�rde er ihren Tod befehlen. Zwar konnte sie fliehen, doch dann wartete nur noch ein Leben in Reichtum und das Altwerden auf sie, und daran hatte sie kein Interesse. Als Frajera dann von Panins Auslandsoperationen erfahren hatte, seinen Bem�hungen, im Sowjetblock Unruhe zu stiften, hatte sie ihm ihre Unterst�tzung und die ihrer M�nner angeboten. Anfangs war er skeptisch ge�wesen, bis sie ihm klarmachte, dass sie selbst vermutlich eine erheblich �berzeugendere Agitatorin gegen das sowjetische Russland war als die loyalen KGB-Agenten, die er einsetzte.
Jetzt reichte Panin ihr die Hand, eine h�fliche, f�rmliche Ges�te, die ihr absurd vorkam. Dennoch schlug sie ein. Er l�chelte sie an.
�Ich bin extra hergeflogen, um mir ein Bild �ber die Fort�schritte zu machen. Unsere Truppen stehen an der Grenze bereit, und das nun schon seit einiger Zeit. Aber sie bekommen nichts zu tun.�
�Sie kriegen Ihren Aufstand schon noch.�
�Ich brauche ihn aber jetzt. In einem Jahr n�tzt er mir nichts mehr.�
�Wir stehen kurz davor.�
�Meine anderen Zellen haben erheblich mehr Erfolg zu ver�buchen als Sie. In Polen zum Beispiel ...�
�Die Unruhen, die Sie in Posen ausgel�st haben, wurden niedergeschlagen, ohne dass Chruschtschows Ansehen nennens�wert gelitten h�tte. Wenn sie die Wirkung gehabt h�tten, die Sie sich erhofft hatten, dann w�rden Sie sich jetzt nicht mehr mit Budapest besch�ftigen.�
Panin nickte. Er bewunderte Frajeras Gabe, eine Situation blitzschnell zu analysieren. Nat�rlich hatte sie recht. Chruscht�schows Pl�ne, die konventionellen Streitkr�fte abzur�sten, wa�ren nicht torpediert worden. Diese Abr�stung war ein zentraler Punkt seiner Reformen. Nach Chruschtschows Auffassung be�n�tigte die Sowjetunion die alte St�rke an Panzern und Truppen nicht mehr. Schlie�lich besa�en sie ja jetzt nukleare Abschre�ckungswaffen und arbeiteten au�erdem an der Entwicklung eines Raketensystems, f�r das man nur noch eine Handvoll Ingenieure und Wissenschaftler brauchte, aber nicht Millionen von Soldaten.
Panin hielt das f�r die schlimmste Form politischer Waghal�sigkeit. Abgesehen davon, dass die Raketen noch gar nicht aus�gereift waren, unterlag Chruschtschow bez�glich der Bedeutung des Milit�rs einer ebenso fundamentalen Fehleinsch�tzung wie bei den Auswirkungen seiner Geheimen Rede. Die konventio�nellen Truppen waren nicht nur zum Schutz vor ausl�ndischen Aggressoren da, sondern auch, um die Sowjetunion zusam�menzuhalten. Der Kitt des Sowjetblocks war nicht etwa eine gemeinsame Ideologie, sondern Panzer, Soldaten und Flugzeuge. Die K�rzungen, die Chruschtschow im Sinn hatte, und die r�ck�sichtslosen Sabotageakte, die seine Rede ausgel�st hatte, brach�ten die Nation in gr��te Gefahr. Nach Panins �berzeugung und der seiner Mitstreiter durfte man die konventionellen Streitkr�f�te nicht nur nicht verkleinern, sondern musste sie im Gegenteil sogar ausbauen und aufr�sten. Die Ausgaben mussten erh�ht, nicht gesenkt werden. Ein Zwischenfall in Budapest oder irgend�einer anderen osteurop�ischen Stadt w�rde beweisen, dass das gesamte Gef�ge der Revolution vor allem von den konventionel�len Streitkr�ften abhing, nicht nur vom atomaren Arsenal. Wenn man die Leute zu Hause und im Ausland daran erinnern wollte, wer hier das Sagen hatte, waren sieben Millionen M�nner unter Waffen durchaus eine Hilfe.
�Und was f�r Neuigkeiten haben Sie f�r mich?�, fragte Panin.
Frajera reichte ihm das Flugblatt mit den sechzehn Forderun�gen. �Morgen findet eine Demonstration statt.�
Panin warf einen kurzen Blick auf das Blatt. �Was steht da?�
�Die erste Forderung ist, dass die sowjetischen Truppen das Land verlassen sollen. Es ist ein Ruf nach Freiheit.�
�Und kommt auch ausreichend heraus, dass das Ganze von Chruschtschows Rede inspiriert wurde?�
�Nat�rlich. Aber Demonstrationen allein reichen nicht.�
�Was brauchen Sie sonst noch?�
�Eine Garantie, dass Sie auch auf die Menge schie�en wer�den.�
Panin legte das Flugblatt auf den Schreibtisch. �Ich werde sehen, was sich machen l�sst.�
�Das muss klappen! Trotz allem, was die Leute hier durchgemacht haben, trotz all der Verhaftungen und Exekutionen werden sie sich nur zu Gewalt hinrei�en lassen, wenn sie provo�ziert werden. Die sind nicht wie ...�
�Wie wir?�
Frajera wandte sich zum Gehen, blieb an der T�r aber noch einmal stehen und drehte sich zu Panin um. �Gab es sonst noch etwas?�
Panin sch�ttelte den Kopf. �Nein, das war alles.�
Sowjetunion
Grenze zu Ungarn, die Stadt Beregowo
23. Oktober
Der Zug war randvoll mit Soldaten. Derbe Gespr�chsfetzen flogen hin und her. Die Truppen wurden in Vorbereitung des geplanten Aufstands mobilisiert, wovon sie allerdings nichts ahnten. Es gab keinerlei Anzeichen von Angst oder Beklommen�heit. Ihre ausgelassene Stimmung stand in v�lligem Gegensatz zu der von Leo und Raisa, die fast die einzigen Zivilisten an Bord waren.
Als Leo die Nachricht erfahren hatte, dass Soja lebte, hat�ten in seinem Innern Erleichterung und Schmerz miteinander gerungen. Ungl�ubig hatte er Panin zugeh�rt, als der ihm noch einmal die Ereignisse auf der Br�cke vergegenw�rtigt hatte, wozu auch geh�rte, dass Soja sie bewusst get�uscht hatte und freiwillig mit einer Frau kollaborierte, die nichts anderes wollte, als Leo zu qu�len. Soja lebte also. Es war ein Wunder, aber auch ein grausames - wohl die schlimmste gute Nachricht, die Leo je erhalten hatte.
Sp�ter berichtete Leo Raisa, was vorgefallen war, und erlebte bei ihr dieselbe Verwandlung von anf�nglicher Erleichterung hin zur Qual. Da kniete er sich vor sie hin und bat sie immer wieder um Vergebung daf�r, dass er ihr das angetan hatte, dass sie daf�r bestraft wurde, dass sie ihn liebte. Raisa lie� sich nicht zu einer Antwort hinrei�en. Stattdessen ging sie die Geschehnisse noch einmal im Geiste durch und �berlegte, was sie �ber Sojas geistige Verfassung verrieten. Nur eine einzige Frage trieb sie um: Wie w�rden sie ihre Tochter nach Hause holen?
Raisa fiel es nicht schwer sich vorzustellen, dass Panin sie betrogen hatte. Ebenso leuchtete ihr ein, wieso Frajera mit ihm zusammengearbeitet hatte, um in Moskau ihren Rachefeldzug durchzuf�hren. Panins politisches Man�ver allerdings, im Sowjet�block Aufst�nde zu lancieren und damit Tausende Menschen�leben zu opfern, nur um die Machtstellung der Falken im Kreml wieder zu festigen, war an Zynismus kaum zu �berbieten. Was ausgerechnet Frajera daran guthei�en konnte, verstand Raisa �berhaupt nicht. Frajera machte gemeinsame Sache mit den Sta�linisten, genau den Leuten also, die sich um ihre Einkerkerung ebenso wenig scherten wie um den Verlust ihres Kindes oder �ber�haupt den Verlust irgendeines Kindes. Dass Soja �bergelaufen war, verwunderte Raisa hingegen weniger - wenn man es �ber�haupt so nennen konnte, denn eigentlich lief Soja ja nur von einer kaputten Familie zur n�chsten. Raisa konnte sich gut vorstellen, dass jemand wie Frajera auf eine ungl�ckliche Halbw�chsige eine geradezu berauschende Anziehungskraft aus�ben musste.
Leo versuchte nicht einmal, Raisa auszureden, dass sie ihn nach Budapest begleitete. Er brauchte sie ja. Raisas Chance, zu Soja durchzudringen, war erheblich gr��er als seine. Raisa woll�te von ihm wissen, ob sie auch bereit seien, Gewalt anzuwenden, falls Soja sich weigerte, mit nach Hause zu kommen. Leo fand die Vorstellung grauenvoll, die eigene Tochter entf�hren zu m�s�sen, doch er nickte.
Da weder Leo noch Raisa Ungarisch konnten, hatte Frol Panin daf�r gesorgt, dass sie von dem f�nfundvierzigj�hrigen Karoly Teglas begleitet wurden. Der hatte nicht nur fr�her als Geheimagent in Budapest gearbeitet, er war auch geb�rtiger Ungar. Nach dem Krieg war er vom KGB rekrutiert worden und hatte unter dem verhassten F�hrer R�kosi gedient. In letzter Zeit hatte er sich vor�bergehend in Moskau aufgehalten und die Machthaber �ber die in Ungarn drohende Krise beraten. Karoly hatte sich bereiterkl�rt, Leo und Raisa als Ortskundiger und �bersetzer zu begleiten.
Jetzt kehrte Karoly von der Toilette zur�ck und wischte sich die H�nde an den Hosenbeinen ab. Dann setzte er sich Leo und Raisa gegen�ber hin. Alles an ihm war rund. Sein Bauch war stattlich, die Backen dick, sogar eine runde Brille trug er. Auf den ersten Blick wirkte er durch diese Ansammlung von W�lbungen �berhaupt nicht wie ein Agent und erst recht nicht gef�hrlich.
Der Zug wurde langsamer. Sie n�herten sich der Stadt Beregowo, auf sowjetischer Seite der �u�erst befestigten Grenze.
Raisa lehnte sich vor und fragte Karoly: �Warum hat Panin uns nach Budapest fahren lassen, wenn Frajera doch eigentlich f�r ihn arbeitet?�
Karoly zuckte die Achseln. �Das m�ssen Sie Panin schon selbst fragen. Ich kann Ihnen nichts sagen. Sie k�nnen ja um�kehren, wenn Sie m�chten. Ich habe nicht zu entscheiden, wohin Sie gehen.�
Karoly schaute aus dem Fenster. �Die Soldaten werden vor der Grenze aussteigen�, bemerkte er dann. �Von jetzt an be�nehmen wir uns wie Einheimische. Da, wo wir hinwollen, sind Russen nicht erw�nscht.�
Er wandte sich an Raisa. �Da dr�ben machen sie keinen Un�terschied zwischen Ihnen und Ihrem Mann. Denen ist es egal, ob Sie nur die Lehrerin sind und Ihr Mann der Polizist. Man wird Sie trotzdem hassen.�
Raisa wollte sich seinen herablassenden Ton nicht gefallen lassen. �Mit Hass kenne ich mich aus.�
* * *
An der Grenze �bergab Karoly die Papiere. Als er sich um�blickte, sah er Leo und Raisa in ein Gespr�ch vertieft weiter hinten im Waggon sitzen. Sie achteten peinlich darauf, ihm nicht einmal einen verstohlenen Blick zuzuwerfen, woraus er schloss, dass sie dar�ber beratschlagten, wie weit sie ihm vertrauen konnten. Wenn sie schlau waren, w�rden sie ihm �berhaupt nicht vertrauen. Seine Anweisungen waren einfach. Er sollte Leos und Raisas Ankunft in der Hauptstadt so lange hinaus�z�gern, bis der Aufstand begonnen hatte. Sobald Frajera ihren Zweck erf�llt hatte, durfte Leo, ein Mann, der f�r seine Hartn�ckigkeit und Willensst�rke bekannt war und sich au�erdem auf das Handwerk des T�tens verstand, seine Rache haben.
Osteuropa, Sowjetzone
Ungarn, Budapest
Am selben Tag
Aufgeregt umklammerte Soja Malyschs Hand. Sie wollte ihn nicht verlieren unter diesen Tausenden von Leuten, die aus allen Stra�en auf den Parlamentsplatz str�mten. Nachdem sie so viele Jahre in den Gedanken ans Sterben verliebt gewesen war, der vermeintlich einzigen L�sung f�r ihre Einsamkeit, w�re sie jetzt am liebsten auf und ab geh�pft und h�tte �Ich lebe!� geschrien, so als habe die Welt eine Entschuldigung verdient.
Der Protestmarsch hatte alle Erwartungen �bertroffen. Jetzt waren es nicht mehr nur die Studenten und Dissidenten, es schien beinahe so, als w�rde sich die gesamte Stadt auf dem Platz versammeln, herausgelockt aus ihren Wohnungen, B�ros oder Fabriken und unf�hig, sich dieser einzigartigen Anziehungskraft zu entziehen, die mit jedem Neuank�mmling gr��er wurde. Soja verstand die Bedeutung dieses Ortes durchaus. Eigentlich sollte ein Parlament ja das Zentrum der Macht sein, der Ort, wo das Schicksal der ganzen Nation entschieden wurde. Das Geb�ude da vorn war aber in Wirklichkeit vollkommen unbedeutend, nichts als eine verschn�rkelte, majest�tische Fassade vor dem sowjetischen Machtanspruch. Dass es so sch�n war, machte die Erniedrigung irgendwie sogar noch schlimmer.
Die Sonne war schon untergegangen, aber die sp�te Stunde tat der allgemeinen Erregung nicht den geringsten Abbruch. Immer mehr Menschen trafen ein, ohne sich um die alten Tu�genden von Besonnenheit und Vorsicht zu k�mmern. Obwohl der Platz l�ngst voll war, h�rte der Zustrom nicht auf, und die Neuank�mmlinge dr�ngten die Menge noch dichter zusammen.
Dennoch hatte die Atmosph�re �berhaupt nichts Klaustrophobisches an sich, alles lief vollkommen friedlich ab. Fremde spra�chen miteinander, lachten oder umarmten sich. Soja hatte noch nie einen solchen Massenauflauf erlebt. In Moskau hatte man sie zwar gen�tigt, an den Feierlichkeiten zum i. Mai teilzuneh�men, aber das hier war etwas ganz anderes. Dabei kam es gar nicht auf die Anzahl der Menschen an, es war dieses Durch�einander, das Fehlen jeglicher Autorit�t. An den Seiten standen keine Polizisten. Keine Panzer rollten in Formation vorbei. Es gab keine Soldaten, die zackig an den Reihen sorgf�ltig ausge�w�hlter, F�hnchen schwenkender Kinder vorbeimarschierten. Es war ein furchtloser Protest, ein Akt des Ungehorsams. Jeder konnte machen, was er wollte, jeder konnte singen, in die H�nde klatschen und Parolen skandieren.
Russkik bazal Russkik bazal Russkik bazal
Hunderte von F��en stampften im Rhythmus dieser vier Schl�ge, und Soja machte mit, ballte die H�nde zu F�usten und reckte sie in die Luft, mitgerissen von einer Emp�rung, die angesichts ihrer eigenen Staatsangeh�rigkeit eigentlich vollkommen absurd war.
Russen, haut ab!
Dass sie selbst Russin war, juckte sie nicht. Hier war ihr Zuhau�se, bei diesen Leuten, die genauso gelitten hatten wie sie selbst und sich wie sie selbst damit auskannten, was Unterdr�ckung war.
Da sie nicht so gro� war wie die anderen Frauen um sie her�um, stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Pl�tzlich packte sie jemand mit beiden H�nden an den H�ften. Frajera hob sie hoch und setzte sie sich auf die Schultern, damit sie einen Ausblick �ber den gesamten Platz hatte. Die Menge war noch viel ge�waltiger, als sie vermutet hatte, sie erstreckte sich bis hin zum Parlamentsgeb�ude und dem dahinterliegenden Fluss. �berall standen die Menschen, auf den Stra�en, Grasfl�chen, Tram-Gleisen, viele waren sogar auf S�ulen und Statuen geklettert.
Pl�tzlich wurden die Lichter im Parlament ausgeschaltet und der Platz in Finsternis getaucht. In der Menge entstand Unruhe. In den Seitenstra�en gab es doch noch Licht! Das musste ein bewusst gegen sie gerichteter Akt sein, mit der Dunkelheit sollten sie vertrieben und ihre Entschlossenheit gebrochen werden. Da pl�tzlich ein Hurrageschrei. Soja sah eine brennende Fackel aus einer zusammengerollten Zeitung. Rasch tauchten weitere kleine Feuer auf, alle aus improvisierten Fackeln. Dann w�rden sie sich eben ihr eigenes Licht machen! Frajera reichte Soja eine Zeitung hoch, ein Exemplar von Freies Volk. Ein Mann z�ndete sie am Ende an und drehte sie dann langsam, bis die Flamme gr��er geworden war. Dann hielt Soja sie sich �ber den Kopf, die Tinte f�rbte die Flammen blaugr�n. Sie wedelte die Zeitung hin und her, und tausend brennende Fackeln winkten zur�ck.
Als Frajera Soja wieder herunterlie�, beugte die sich begeis�tert zu ihr vor und k�sste sie auf die Wange. Frajera erstarrte. Soja stand zwar, trotzdem umklammerte Frajera ihre Taille und lie� sie nicht wieder los. Soja hielt die Luft an und wartete. Vielleicht hatte sie gerade einen schrecklichen Fehler begangen. In der Dunkelheit konnte sie Frajeras Reaktion zun�chst nicht erkennen, bis jemand in der N�he eine Zeitung anz�ndete. Im flackernden Licht tauchte Frajeras Gesicht auf. Sie sah aus, als habe sie ein Gespenst gesehen.
* * *
Frajera sp�rte den Kuss auf ihrer Wange, als w�rde er bren�nen. Sie stie� Soja weg und fasste an die Stelle, wo sie gek�sst worden war. Dass sie sich Soja auf die Schultern gesetzt hatte, war ein Fehler gewesen. Unwillk�rlich hatte sie damit zugelas�sen, dass Anisja wieder zum Vorschein kam, ihr fr�heres Ich, die Ehefrau und Mutter. Die Sanftheit und Zuneigung, die sie sich ausgetrieben hatte, hatten sich heimlich wieder angeschlichen. Frajera zog ihr Messer, hob es an ihre Wange und rasierte sich die Reste des Kusses von der Wange. Schon besser. Sie wischte die Klinge ab und steckte das Messer wieder weg.
Als sie sich wieder gefangen hatte, starrte Frajera w�tend auf die D�cher der umliegenden H�user. Wieso hatte Panin keine Scharfsch�tzen geschickt? Zsolt Polgar folgte ihrem Blick.
�Was siehst du da oben?�, fragte er.
�Wo bleibt der AVH?�
�Machst du dir etwa Sorgen, dass uns was passieren k�nn�te?�
Frajera zeigte ihm nicht, wie l�cherlich naiv sie ihn fand. Stattdessen sagte sie: �Da will man k�mpfen und wei� nicht, gegen wen.�
�Die Studenten versuchen gerade, die sechzehn Punkte im Radio zu verlesen. Aber wie man h�rt, weigert die Sendeleitung sich. Bestimmt bewacht der AVH das Geb�ude, damit es auch ja unter sowjetischer Kontrolle bleibt.�
Frajera packte ihn bei den Schultern. �Das ist es! Da werden wir k�mpfen!�
Frajera dr�ngte sich durch die Menge, bis sie die friedliche Versammlung hinter sich gelassen hatte, deren Passivit�t ihr schier den Atem raubte.
In einiger Entfernung vom Parlamentsplatz allerdings herrsch�te schon eine andere Stimmung. Vom Muzeum Korut bis zum Nemzeti Muzeum rannten Leute wie aufgescheucht hin und her, einige ver�ngstigt, andere w�tend, manche hatten Steinplatten oder herausgerissene Pflastersteine in der Hand. Sie alle wollten zum Radiosender, der an der Brody Sandor ut lag, einer schmalen Gasse neben dem Museum. Mochte das Ganze auch als friedli�cher Protest begonnen haben, hier hatte er sich bereits in einen gewaltbereiten Mob verwandelt: Die Fenster des Sendehauses waren eingeschlagen, die Stra�e �bers�t mit Glasscherben, die unter den Sohlen knirschten wie zugefrorene Pf�tzen. Mitten auf der Stra�e lag ein umgest�rzter Kleinbus. Die R�der drehten sich noch, die Motorhaube war eingedellt. Die T�ren des Radio�senders waren verschlossen und verriegelt.
Zsolt erkundigte sich bei den herumstehenden M�nnern und Frauen und kehrte dann zu Frajera zur�ck. Er wechselte vom Ungarischen ins Russische und raunte ihr zu: �Die Studenten haben verlangt, dass man die sechzehn Punkte verliest. Die Frau, die den Sender leitet...�
Frajera unterbrach ihn. �Was f�r eine Frau?�
�Sie hei�t Benke und ist eine loyale Kommunistin, aber an�scheinend auch nicht besonders schlau. Jedenfalls hat sie einen Kompromiss vorgeschlagen. In den Sender hat sie die Leute zwar nicht gelassen, aber sie hat ihnen einen �bertragungswagen zur Verf�gung gestellt. Der ist auch tats�chlich gekommen, und die Studenten haben ihre Punkte verlesen.�
Frajera hatte schon verstanden: �Aber es war ein Trick.�
�Der Wagen hat gar nichts �bertragen. Stattdessen haben sie im Radio den �ffentlichen Aufruhr angeprangert und den Leuten befohlen, nach Hause zu gehen. Daraufhin haben die Studenten mit dem �bertragungswagen versucht, die T�ren zu rammen, und ihn dann umgekippt. Jetzt wollen sie den Sender unbedingt st�rmen. Sie sagen, er geh�rt dem Volk und nicht den Sowjets.�
Frajera blickte sich um und versuchte abzusch�tzen, wie stark der Mob war. �Und wo ist der AVH?�
�Drinnen.�
Frajera sp�hte hinauf. An den Fenstern im obersten Stock tauchten Gestalten auf - Polizisten. Dann h�rte man ein Zischen, und im n�chsten Moment breitete sich in der engen Gasse eine Rauchwolke aus. Wie ein befreiter Flaschengeist schl�ngelte sich aus den Stahlkanistern Tr�nengas, wuchs an und erhob sich. Frajera zog ihre Leute zur�ck und achtete dabei besonders auf Soja und Malysch. Sie kletterten �ber das Gel�nder und rannten in Richtung Museum, w�hrend das Gas sie verfolgte und sich �ber den Rasen verteilte wie morgendlicher Nebel. Erst als sie oben auf der Museumstreppe angekommen waren, drehten sie sich um. Wei�e Schwaden waberten um ihre Beine, doch da un�ten konnten sie ihnen nichts anhaben. Das meiste Tr�nengas war in die Gasse getrieben worden, von wo es nun auf die Haupt�stra�e hinauswehte. Aus dem chemischen Nebel kamen M�nner und Frauen herausgewankt und gingen w�rgend in die Knie.
Kaum hatte sich das Gas verfl�chtigt, trat Frajera n�her heran und nahm die leere Gasse in Augenschein. Es herrschte eine unheimliche Stille. Der Mob war versprengt, der Kampf im Keim erstickt worden. Unwillig sch�ttelte Frajera den Kopf. Wenn der heutige Abend ohne nennenswerten Zwischenfall zu Ende ging, w�rde die Regierung die Initiative �bernehmen und die Lage wieder unter Kontrolle bekommen.
Frajera lief zur�ck zum Sender. �Mir nach!�
Das Tr�nengas hatte sich zwar noch nicht vollst�ndig ver�zogen, doch Frajera wollte nicht l�nger abwarten. Sie kletterte �ber das Gel�nder und trat mitten auf die Stra�e. Gasschleier waberten um sie herum. Obwohl sie sich Mund und Nase mit der Hand zuhielt, musste sie sofort husten. Dennoch stolperte sie, ungeachtet der Tr�nen, die ihr aus den Augen schossen, wei�ter auf den Eingang des Senders zu.
Soja packte Malyschs Arm. �Wir m�ssen ihr nach.�
Malysch riss sein Hemd entzwei und machte aus den Fetzen f�r Soja und sich selbst Masken. Dann kletterten sie �ber das Gel�nder, traten auf die Stra�e und stellten sich neben Frajera. Das Gas stieg auf und schl�ngelte sich durch die zerbrochenen Fenster in den Sender hinein. Nicht nur fiel auf der Stra�e das Atmen nun leichter, auch wurden oben die Gestalten von den Fenstern vertrieben. Allm�hlich kehrte der Mob zur�ck und ver�sammelte sich um Soja, Malysch und Frajera. Die wory kamen mit Brecheisen, machten sich damit an den T�ren zu schaffen, um sie aufzubrechen.
Soja schaute hinauf. An den Fenstern standen wieder die avh-Agenten, pl�tzlich waren sie mit Gewehren bewaffnet. Soja packte Malysch am �rmel und riss ihn mit nach vorn. Kaum hatten sie sich ganz dicht an die Mauer gepresst, als auch schon eine Salve von Sch�ssen aufpeitschte. Alle in der Stra�e duckten sich und schauten sich geduckt um, wer getroffen war. Doch niemand war verletzt. Die Sch�sse waren �ber ihre K�pfe hinweg abgefeuert worden und in die H�userwand gegen�ber eingeschlagen. Der Beschuss hatte sie nur vorl�ufig in Schach halten sollen, denn schon im n�chsten Moment flogen die T�ren des Senders auf.
Entschlossen wie eine r�mische Phalanx und mit entsicherten Gewehren st�rmten die avh-Beamten heraus, um den Sender zu sch�tzen. In zwei Reihen stellten sich die Polizisten R�cken an R�cken auf, eine marschierte die Gasse hinauf, die andere hinab. Sie trennten die Menge in zwei Gruppen. Mit aufgepflanzten Ba�jonetten r�ckten sie vor. Durch bedrohlich nahe Bajonettst��e wurden Malysch und Soja in Richtung Museum zur�ckgetrie�ben. Soja erhaschte einen Blick auf das M�dchen neben ihr. Sie war etwa achtzehn Jahre alt und schien nicht die geringste Angst zu haben. Siegesgewiss grinste sie Soja an und hakte sich bei ihr unter. Hier hie� es zusammenzustehen! Gemeinsam schrien sie die Polizisten an und belegten sie mit Fl�chen. Angefeuert von der Tollk�hnheit des M�dchens b�ckte Soja sich, hob einen etwa handtellergro�en Stein auf, warf ihn und traf einen der Polizisten ins Gesicht. Begeistert lachte sie auf, doch da richtete er sein Gewehr auf sie.
Soja sah etwas aufblitzen, dann gaben ihre Beine nach, und sie schlug hin. Atemlos und unsicher, ob sie getroffen war, rollte sie sich zur Seite und starrte geradewegs in die Augen des M�d�chens, das sich bei ihr untergehakt hatte. Die Kugel hatte sie in den Hals getroffen.
Die Polizisten marschierten weiter vor. Soja war wie erstarrt, sie konnte sich nicht abwenden. Sie musste aufstehen, sonst w�rden die Polizisten sie niedertrampeln. T�ten! Aber sie konnte doch das M�dchen nicht einfach so hier liegen lassen. Pl�tzlich b�ckte sich Frajera neben ihr vor und nahm das tote M�dchen auf die Arme. Malysch half Soja hoch, und beide rannten sie los. Hinter ihnen stoppten die Polizisten ihren Vormarsch und gingen in Stellung.
Frajera legte das M�dchen auf den Boden. Vor blankem Zorn heulte sie, so als sei sie seine Mutter und w�rde dieses Kind lieben. Soja blieb etwas abseits stehen, w�hrend andere M�n�ner und Frauen, die Frajeras Weinen herbeigelockt hatte, neben dem jungen Opfer niederknieten. War Frajeras Trauer etwa nur ein Schauspiel? Noch bevor Soja weiter dar�ber nachdenken konnte, zog Frajera eine Waffe und feuerte in die Reihen der Polizisten. Dies war das Zeichen, auf das ihre wory gewartet hatten. Auf beiden Seiten der Gasse zogen sie ihre Waffen und er�ffneten das Feuer. Die Polizeiformation l�ste sich auf, die M�nner zogen sich zum Sender zur�ck und waren sich pl�tzlich gar nicht mehr sicher, dass sie schon alles unter Kontrolle hatten. Als seien sie auf Safari, waren sie davon ausgegangen, nur sie h�tten Gewehre. Jetzt, wo sie selbst angegriffen wurden, zogen sie sich eilig in die Deckung des Senders zur�ck.
Soja blieb an der Seite des toten M�dchens und starrte in des�sen leblose Augen. Frajera zog sie weg und hielt ihr eine Waffe hin. �Jetzt wird gek�mpft.�
�Ich bin schuld an ihrem Tod�, jammerte Soja.
Frajera schlug ihr ins Gesicht. �Ich will hier keine Schuldgef�hle, sondern Wut. Die da haben sie erschossen. Und was willst du jetzt machen? Heulen wie ein kleines Kind? Dein ganzes Le�ben lang hast du immer nur geheult. Es wird Zeit, dass du mal was unternimmst.�
Soja riss die Waffe an sich und st�rmte damit auf den Sender zu. Sie zielte auf die Gestalten in den Fenstern und dr�ckte ab. Sechs Mal.
24. Oktober
Der Morgen graute schon, und Soja hatte kein Auge zugemacht. Die M�digkeit hatte ihre Sinne nicht etwa getr�bt, sondern sie sogar noch gesch�rft. Genau beobachteten ihre Augen, was um sie herum vorging. Im Rinnstein neben ihr lagen aus uner�findlichem Grund Hunderte zerbrochener oder angeschlagener Kaffeetassen, kniehoch aufgeh�uft wie ein Grabmal. Vor ihr schmauchten die Reste eines Feuers, das aus nichts anderem als aus verkohlten B�chern bestand, in Buchl�den gepl�nderte Texte von Marx und Lenin. Hauchd�nne Aschefl�ckchen stiegen in den Himmel, so als fiele der Schnee nach oben. Pflastersteine waren aus dem Boden gehebelt und zu Wurfgeschossen umfunk�tioniert worden, sodass die Stra�e jetzt aussah, als fehlten ihr Z�hne. Es war, als h�tte die Stadt selbst hier gek�mpft. Und Soja hatte an ihrer Seite gek�mpft. Ihre Kleider stanken nach Rauch, ihre Fingern�gel waren schwarz, und auf der Zunge hatte sie einen metallischen Geschmack. Die Ohren klingelten ihr. Und unter ihrem Hemd, flach an den Bauch gedr�ckt, war ihre Waffe.
Der Radiosender war kurz vor Sonnenaufgang gefallen. Endlich hatten sie es geschafft, die schweren Holzt�ren aufzu�brechen. Der Widerstand drinnen war in dem Ma�e schw�cher geworden, wie die Angreifer drau�en aufger�stet hatten, unter anderem mit den Waffen der Milit�rakademie, die von den Ka�detten abgefeuert wurden. Frajera hatte Soja und Malysch auf�getrieben und ihnen verboten, an der Erst�rmung des Geb�udes teilzunehmen. Sie wollte nicht, dass die beiden in eine Schlacht Mann gegen Mann gerieten und in raucherf�llten R�umen ge�gen verzweifelte AVH-Beamte k�mpften, die hinter den T�ren lauerten. Stattdessen hatte sie ihnen einen andern Auftrag erteilt.
Sucht mir Stalin.
* * *
Malysch und Soja erreichten das Ende der Gorkii fasor, einer Stra�e, die zum vdrosliget f�hre. Entsetzt stellten sie fest, dass das Wahrzeichen dieses gr��ten Parks in der Stadt verschwun�den war. Die riesige Stalin-Statue im Zentrum des Helden�parks, ein vier Mann hoher Bronzekoloss mit einem armlangen Schnurrbart, war einfach weg. Der steinerne Sockel stand noch, doch die Skulptur darauf fehlte. Malysch und Soja n�herten sich dem gesch�ndeten Monument. Nur zwei bronzene Stiefel waren noch �brig. Der Oberbefehlshaber war etwa in Knieh�he abge�s�gt worden. Aus seinem rechten Stiefel ragte noch ein Stahltr�ger hervor, der Rumpf und der Kopf aber fehlten. Man hatte die Statue exekutiert und die Leiche gestohlen. Zwei M�nner waren gerade auf dem Sockel dabei, in Stalins hohlem Stiefel eine der neuen ungarischen Fahnen mit Loch zu befestigen.
Soja fing an zu lachen. Sie zeigte auf die Stelle, wo fr�her Sta�lin gestanden hatte. �Er ist tot! Er ist tot! Der Mistkerl ist tot!�
Malysch stie� sie an und hielt ihr die Hand vor den Mund. Sie hatte die Worte auf Russisch gerufen. Die zwei M�nner auf dem Sockel unterbrachen ihre Arbeit und schauten her�ber. Malysch riss die Faust hoch. �Russkik haza!�
Die M�nner nickten halbherzig, und dieser Moment der Ab�lenkung reichte, dass die Fahne umfiel.
Malysch zog Soja weg. �Hast du vergessen, wer wir sind?�, fl�sterte er.
Als Antwort k�sste Soja ihn auf den Mund - ein schneller Kuss, ohne �berlegung. Bevor er reagieren konnte, hatte sie sich schon wieder von ihm weggedr�ckt und tat so, als sei nichts geschehen. Sie wies auf die deutlichen Kratzer auf der Stra�e.
�In die Richtung haben sie die Leiche gezerrt.�
Mit klopfendem Herzen marschierte sie los und folgte den Spuren, die die Bronze auf den Pflastersteinen hinterlassen hatte.
�Sie m�ssen sie mit einem Laster oder Lieferwagen weggezogen haben.�
Malysch gab keine Antwort.
Soja schaffte es nicht l�nger, unbeteiligt zu tun. �Bist du etwa w�tend?�
Langsam sch�ttelte er den Kopf. Ihre Wangen begannen zu gl�hen.
Sie wechselte das Thema und zeigte auf die Kratzspuren. �Wir laufen um die Wette. Wer zuerst Stalins Leiche findet. Auf drei ...�
Noch bevor einer eins gesagt hatte, rannten beide in perfekt abgestimmter Schummelei los.
Malysch gewann zwar einen Vorsprung, aber dann verlor er die Kratzer auf der Stra�e aus den Augen und musste zur�ck�laufen. Wie Jagdhunde blieben sie mit gesenkten K�pfen an der ersten Kreuzung stehen und liefen auf der Suche nach dem rich�tigen Abzweig im Kreis. Soja fand die Spur und flitzte wieder los, Malysch war jetzt hinter ihr. Sie rannten nach S�den und bogen dann in Richtung Blaha-Lujza-Platz ab, eine gro�e Kreuzung, an der viele Gesch�fte lagen.
Weiter vorn sahen sie die Bronzeskulptur, sie lag auf dem Bauch, etwa so lang und breit wie eine Stra�enbahn. Beide be�schleunigten noch einmal und rannten aus Leibeskr�ften. Aber Soja hatte ihre Kr�fte besser eingeteilt und mehr Reserven. Sie lag jetzt in F�hrung, allerdings nur knapp. Sie warf sich nach vorn, streckte sich und ber�hrte mit den Fingerspitzen Stalins bronzene Wade. Keuchend und grinsend warf sie einen Blick auf Malysch und musste feststellen, dass der richtig sauer war. Er konnte nicht verlieren und versuchte schon, einen Grund zu finden, warum das Rennen nicht galt.
Um ihren Sieg zu manifestieren, kletterte Soja auf die Statue. Ihre glatten Schuhsohlen glitten immer wieder auf Stalins glatten Bronzeh�ften aus, bis sie schlie�lich ihre Zehen in die nachgebil�deten Falten seines Mantels krallte und sich hochdr�ckte. Als sie jetzt auf ihm stand, sah sie, dass Stalin der Kopf fehlte, der rup�pig am Hals abgetrennt war, eine unelegante Enthauptung. Soja balancierte auf seinem R�cken wie eine Seilt�nzerin, vorsichtig setzte sie einen Fu� vor den anderen. Malysch blieb unten auf der Stra�e stehen, die H�nde in die Hosentaschen versenkt. Sie l�chelte ihn an und rechnete damit, dass er rot werden w�rde, doch stattdessen l�chelte er zur�ck. Vor Gl�ck zersprang ihr fast das Herz in der Brust, und im Geiste schlug sie Rad auf Stalins Wirbels�ule.
Als sie den bronzenen Hals erreicht hatte, fuhr sie mit den Fingern �ber die scharfen Kanten, wo man den Kopf offenbar mit einem Schwei�brenner und kr�ftigen Schl�gen abgetrennt hatte. Dann richtete sie sich wieder auf und stemmte die H�nde in die H�ften, ganz die Bezwingerin, die den Riesen erschlagen hatte, und inspizierte den Platz. Auf der anderen Seite, wo die Jozsef Korut einm�ndete, hatte sich eine Gruppe Leute ver�sammelt. Und als sie sich ein wenig verstreuten, sah Soja auch Stalins Kopf. Er ruhte auf seinem schartigen Hals und schien sie anzustarren, selbst verbl�fft �ber seine Verst�mmelung. In seiner Stirn klaffte auf H�he des Haaransatzes ein Loch, aus dem ein Stra�enschild ragte: 15 km. Mit dem Laster, der die Statue in diesen Stadtbezirk geschleppt hatte, hatte man auch den Kopf vom K�rper getrennt, die Ketten hingen noch daran. Soja kletterte hinab und sp�hte in Stalins dunkle Eingeweide. Genau wie sie es immer schon vermutet hatte, waren sie hohl, schwarz und kalt. Dann lief sie auf die versammelte Menge zu.
Malysch holte sie ein und packte sie an der Hand. �Wir soll�ten lieber umkehren.�
�Noch nicht.� Soja machte sich los, schritt durch die Menge bis zu Stalins Kopf und spuckte ihm direkt auf sein riesiges, glattes Auge. Nach dem Wettrennen hatte sie einen ganz tro�ckenen Mund und brachte nur wenig Spucke zusammen, aber das machte nichts. Die Umstehenden lachten. Zufrieden wollte Soja nun los. Aber bevor sie sich verziehen konnte, wurde sie hochgehoben und mitten auf Stalins Kopf gesetzt, wo sie nun auf seinem Haarschopf hockte. In der Menge ging eine Diskus�sion los, dann wurde Soja selbst angesprochen. Sie hatte keine Ahnung, was die Leute sagten, also nickte sie nur. Darauf eilten zwei M�nner zum Laster und besprachen sich mit dem Fah�rer, w�hrend ein dritter ihr eine von den neuen, �angepassten� Ungarn-Fahnen reichte. Der Motor wurde angelassen, und der Laster fuhr langsam los. Die am Boden ruhenden Ketten, die am Heck des Lastwagens und an Stalins Kopf befestigt waren, spannten sich, und dann begann Stalins Kopf sich auch schon in Bewegung zu setzen. Soja umklammerte das aus dem Kopf ra�gende F�nfzehn-Kilometer-Schild und hielt sich daran fest. Alle Umstehenden redeten jetzt durcheinander. Soja verstand nur, dass sie sie fragten, ob alles in Ordnung sei. Sie nickte. Darauf machten sie dem Fahrer ein Zeichen. Der gab Gas, Stalins Kopf machte einen Satz nach vorn und holperte �ber die Stra�en�bahngleise.
Soja �berlegte, wie sie verhindern konnte, dass der riesige Kopf sie abwarf. Sie spreizte die Beine und ritt, die H�nde um das Stra�enschild geklammert, auf Stalins Haartolle. Schlie�lich wurde sie noch tollk�hner und stellte sich hin. Als sie Malyschs besorgtes Gesicht entdeckte, schenkte sie ihm ein beruhigendes L�cheln und winkte ihn herbei, damit er auch aufstieg. Doch er weigerte sich, blieb mit verschr�nkten Armen zur�ck und �rger�te sich �ber ihren Leichtsinn. Soja ignorierte seine verdrie�liche Laune und machte Faxen f�r die Menge. Sie streckte den Arm aus wie eine Kaiserin auf ihrem Streitwagen. Der Laster fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit und zog Stalins Kopf im Schritttempo hinter sich her, die ungarische Fahne hing schlaff herab und schleifte �ber den Boden. Soja winkte dem Fahrer - schneller!
Der Laster beschleunigte. Stalins Unterkiefer spr�hte Funken, und Sojas Haare wehten im Fahrtwind. Als sie endlich schnell genug waren, fing auch die Fahne zu flattern an und entfaltete sich hinter ihr. In diesem Moment war Soja zum Sinnbild des Widerstands geworden: auf Stalins Kopf reitend, die wehende ungarische Fahne hinter sich. Sie drehte sich um und hoffte, die Bewunderung in den Augen der Menge zu sehen. Vielleicht war ja sogar eine Kamera da, die diesen Augenblick festhielt.
Ihr Publikum hatte sich in Luft aufgel�st.
Am Ende der Jozsef Korut stand ein Panzer, das Kanonenrohr genau auf sie gerichtet. Als er anfuhr, knirschten die Ketten �ber die Stra�e. Der Laster bremste, die Ketten zwischen ihm und Stalin fielen leblos zu Boden. Der Kopf blieb so abrupt stehen, dass er nach vorne rollte und mit der Nase auf der Stra�e auf�schlug. Soja wurde hinuntergeschleudert. Benommen und alle viere von sich gestreckt, blieb sie mitten auf dem Platz liegen.
Malysch packte sie. Soja setzte sich auf. Sie konnte nicht richtig atmen und hatte �berall Schrammen. Dann sahen sie, dass der Panzer direkt auf sie zugerollt kam, er war h�chstens noch zweihundert Meter weit weg. Soja st�tzte sich auf Malysch und humpelte weg. Auf der Suche nach Deckung liefen sie auf das n�chstbeste Gesch�ft, eine Apotheke zu. Soja blickte sich �ber die Schulter um. Der Panzer feuerte, sie sah das gelbe M�n�dungsfeuer und h�rte ein Zischen. Die Granate schlug hinter ihnen auf der Stra�e ein - pl�tzlich nur noch Rauch, Steinsplitter und Feuerblitze. Soja und Malysch wurden zu Boden geworfen.
Pl�tzlich tauchte aus der Rauchschwade Stalins riesiger Kopf auf, der hochgeschleudert worden war und nun am Ende seiner Kette wie ein gigantischer Morgenstern auf sie zukam, so als wolle er f�r seine Sch�ndung Rache nehmen. Im letzten Moment dr�ckte Soja Malysch zu Boden, da sauste der Kopf auch schon �ber sie hinweg, er verfehlte die beiden mit seinen schartigen Kanten nur um Zentimeter. Im n�chsten Moment krachte er ins Schaufenster des Gesch�fts und lie� Glassplitter auf sie herab�regnen. Der Laster wurde vom R�cksto� der Ketten umgewor�fen und rutschte seitlich ein St�ck �ber die Stra�e. Der Fahrer hing hilflos im F�hrerhaus.
Noch bevor die beiden sich hochrappeln konnten, tauchte aus dem Qualm der Panzer auf, ein metallisches Monster. Soja und Malysch krochen r�ckw�rts, bis sie an dem zertr�mmerten Schaufenster der Apotheke angekommen waren. Es ging nicht mehr weiter, an Flucht war nicht zu denken. Aber der Panzer feuerte nicht. Die Luke ging auf, ein Soldat kam zum Vorschein und setzte sich hinter das Bordmaschinengewehr.
Gel�hmt vor Angst blieben Soja und Malysch hocken. In dem Moment, als der Soldat das Maschinengewehr in ihre Richtung schwenkte, traf ihn eine Kugel in den Kiefer. Weitere Geschosse schlugen auf dem Panzer ein, sie kamen aus allen Richtungen des Platzes. Unter Beschuss wurde der tote Soldat ins Panzer�innere gezerrt. Noch bevor man die Luke wieder schlie�en konnte, rannten zwei M�nner auf den Panzer zu. In den Armen hielten sie Glasflaschen, aus deren H�lsen brennende Lappen ragten. Sie warfen sie hinein. Es war, als h�tten sie Feuer in den Panzer gegossen.
Malysch packte Soja. �Wir m�ssen hier weg.�
Ausnahmsweise hatte Soja keine Einw�nde.
Osteuropa, Sowjetzone
Ungarn, am Stadtrand von Budapest, Budaer H�gel
27. Oktober
Leo �rgerte sich zunehmend, dass ihr F�hrer es �berhaupt nicht eilig zu haben schien. Sie waren schon ewig unterwegs. F�r die tausend Kilometer bis zur ungarischen Grenze hatten sie nur zwei Tage gebraucht und nun schon drei f�r die restlichen dreihundert Kilometer bis nach Budapest. Erst als Karoly in den Radionach�richten geh�rt hatte, dass in Budapest Unruhen ausgebrochen waren, schien es endlich schneller voranzugehen. Auf ihre Fragen konnte er ihnen auch nur die Berichte aus dem Radio �bersetzen: Harmlose zivile Unruhen, die von einer Bande von Faschisten ver�bt worden waren. Aus diesen Worten lie� sich unm�glich ableiten, wie schwer diese Unruhen tats�chlich waren. Radio�sendungen wurden zensiert, und mit Sicherheit spielten sie den Aufruhr herunter. Die Aufforderung an die Unruhestifter, wieder nach Hause zu gehen, lie� allerdings vermuten, dass die Beh�rden die Lage nicht mehr unter Kontrolle hatten. Da sie nichts Genaues wussten, entschied Karoly, dass es zu gef�hrlich sei, auf direktem Wege in die Stadt zu fahren. Stattdessen fuhren sie im Halbkreis um die Stadt und wichen mehreren Blockaden der sowjetischen Armee aus. So kam es, dass sie nun die Wohnviertel von Buda durchquerten und das Zentrum mit den Regierungs- und Ver�waltungsgeb�uden und der kommunistischen Parteizentrale, wo Aufst�nde am ehesten zu erwarten waren, tunlichst vermieden.
Bei Sonnenaufgang stoppte Karoly den Wagen endlich an einem Aussichtspunkt auf dem Budaer H�gel, der mehrere Hun�dert Meter oberhalb der Stadt lag. Die benachbarten Stra�en waren menschenleer. Unten im Tal floss die Donau durch die Stadt und teilte sie in zwei H�lften, Buda und Pest. W�hrend es in Buda noch weitgehend ruhig war, h�rte man von der Pester Flussseite Sch�sse. Aus verschiedenen Geb�uden stiegen d�nne Rauchwolken auf.
�Haben die sowjetischen Truppen die Stadt schon gest�rmt?�, fragte Leo. �Ist der Aufstand niedergeschlagen?�
Karoly zuckte die Achseln. �Ich wei� nicht mehr als Sie.�
Raisa schaute ihn an. �Aber das ist doch Ihre Heimat. Es sind Ihre Leute. Und die missbraucht Panin, nur um einen politischen Zwist zu seinen Gunsten zu entscheiden. Wie k�nnen Sie nur f�r ihn arbeiten?�
Karoly wurde �rgerlich. �Meine Leute w�ren gut beraten, wenn sie aufh�ren w�rden, von der Freiheit zu tr�umen. Sonst rei�en sie die anderen nur mit in den Tod. Wenn diese St�ren�friede endlich ausgemerzt sind, ist es f�r die anderen nur gut. Halten Sie von mir, was Sie wollen, aber eigentlich will ich nur meine Ruhe.�
Karoly stieg aus dem Wagen und machte sich auf den Weg den H�gel hinab. �Zuerst gehen wir in meine Wohnung.�
Karolys Wohnung lag ganz in ihrer N�he, unterhalb des Schlosses an den Donauh�ngen.
W�hrend sie die Treppe bis zur obersten Etage hochstiegen, fragte Leo: �Leben Sie allein?�
�Mein Sohn wohnt bei mir.�
Eine Familie hatte Karoly nie erw�hnt, und auch jetzt lie� er sich nicht mehr entlocken. Stattdessen betrat er die Wohnung und lief von Zimmer zu Zimmer. �Victor?�, rief er.
Raisa fragte ihn: �Wie alt ist Ihr Sohn?�
�Er ist dreiundzwanzig.�
�Dann gibt es bestimmt eine ziemlich einfache Erkl�rung daf�r, wo er gerade steckt.�
�Was ist er von Beruf?�, fragte Leo. �Er ist k�rzlich dem AVH beigetreten.� Leo und Raisa schwiegen. Erst jetzt begriffen sie die Besorgnis ihres F�hrers.
Karoly starrte aus dem Fenster. Er sprach mehr zu sich selbst als zu Leo und Raisa. �Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Wenn ein Aufstand ausgebrochen ist, hat der AVH be�stimmt alle Beamten ins Hauptquartier beordert. Da wird er sein.�
In der Wohnung stapelten sich Lebensmittel, Paraffin, Ker�zen und eine erkleckliche Anzahl an Waffen. Seit sie die Grenze �berquert hatten, trug Karoly selbst auch eine Waffe. Jetzt riet er Leo und Raisa, seinem Beispiel zu folgen, denn auch f�r Un�bewaffnete gab es keine Garantie, dass man sie als Zivilisten be�handeln w�rde. Leo w�hlte eine TT-33, eine handliche, robuste Pistole aus sowjetischer Produktion. Widerwillig nahm Raisa sie an sich, und erst der Gedanke an die Gefahr, die von Frajera ausging, brachte sie dazu, sich damit vertraut zu machen.
Sie verlie�en die Wohnung und stiegen den H�gel hinab. Unten w�rden sie die Donau �berqueren und den anderen Teil der Stadt betreten. Sehr wahrscheinlich befand sich Soja an der Seite Frajeras, und zwar mitten im Zentrum des Aufstands. Sie �berquerten den Szenater und suchten sich dann einen Weg durch mehrere improvisierte Schanzen. In Hauseing�ngen sa��en junge M�nner und rauchten, neben sich Stapel vorbereiteter Molotowcocktails. Stra�enbahnen waren umgeworfen und zu Stra�ensperren umfunktioniert worden. Von den Hausd�chern verfolgten Heckensch�tzen jede ihrer Bewegungen. Um keinen Verdacht zu erregen, gingen die drei auf ihrem Weg zum Fluss sehr langsam.
Karoly brachte sie zur Margithid, einer breiten Br�cke, die �ber eine kleine Insel in der Donau hinweg bis zur anderen Seite nach Pest f�hrte. Als sie fast in der Mitte waren, bedeutete Karoly ihnen stehen zu bleiben. Er hockte sich hin und zeigte auf die n�chste Br�cke. Dort waren Panzer postiert. Rund um den Parlamentsplatz konnte man schweres Kriegsger�t ausmachen. Ganz offensichtlich waren also sowjetische Truppen im Einsatz, hatten aber, nach den Schanzen der Aufst�ndischen zu urteilen, noch nicht alles unter Kontrolle. Da sie von allen Seiten unge�sch�tzt waren, eilte Karoly tief geb�ckt weiter, Leo und Raisa folgten ihm, w�hrend ein kalter Wind an ihnen riss. Als sie die andere Seite erreicht hatten, waren sie �beraus erleichtert.
Die Stadt befand sich in einem schizophrenen Zustand. We�der war sie ein Kriegsschauplatz noch ein v�llig normaler Ort, sondern irgendwie beides zugleich. Von einer Ecke zur n�chsten konnte sich das Bild �ndern. Soja konnte �berall sein. Leo hatte zwei Fotos mitgenommen, eines von Soja zusammen mit ihnen, das sie erst vor wenigen Monaten hatten aufnehmen lassen und auf dem sie elend und ungl�cklich aussah, blass vor Widerwil�len. Das andere war Frajeras Fahndungsfoto. Sie hatte sich so sehr ver�ndert, dass es kaum noch zu gebrauchen war. Karoly zeigte die Bilder allen m�glichen Passanten, und alle wollten hel�fen. Offenbar gab es viele Familien, die dasselbe machten wie sie und auf diese Weise nach vermissten Verwandten suchten. Doch immer wurden ihnen die Fotos mit bedauerndem Achselzucken zur�ckgereicht.
Sie eilten weiter und kamen in eine schmale Gasse, in der von den K�mpfen nicht das Geringste zu merken war. Es war sp�ter Vormittag, und ein kleines Cafe hatte ge�ffnet. G�ste sa�en da und nippten an ihrem Kaffee, als sei alles in bester Ordnung. Der einzige Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte, waren die vielen Flugbl�tter, die �berall in der Gosse lagen. Leo b�ckte sich, hob ein paar der Bl�ttchen hoch und wischte sie ab. Ganz oben befand sich ein Stempel, eine Art Emblem. Es war ein or�thodoxes Kreuz. Der Text darunter war auf Ungarisch, aber den Namen erkannte er: Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Das war Frajeras Werk. Aufgeregt �ber diesen Beweis, dass sie sich in der Stadt befand, trug er das Flugblatt zu Karoly.
Karoly stand da und starrte unverwandt auf einen Punkt in der Ferne. Leo folgte seinem Blick. An ihrem Ende traf die Stra�e auf einen kleinen Platz, auf dem ein einzelner, nackter Baum stand. W�hrend sie selbst im Schatten waren, wurde der Platz von der Sonne beschienen. Als sich seine Augen an das Licht gew�hnt hatten, konzentrierte Leo sich auf den Baumstamm. Er schien zu schwanken.
Karoly rannte los. Leo und Raisa liefen ihm hinterher. Als sie am Cafe vorbeikamen, zogen sie die Aufmerksamkeit der am Fenster sitzenden G�ste auf sich. Sie erreichten das Ende der Stra�e und blieben kurz vor der Schattengrenze stehen. Vom dicksten Ast des Baumes hing kopf�ber ein Mann herab. Sei�ne F��e waren mit einem Seil zusammengebunden, die Arme schwangen hin und her wie ein gespenstisches Glockenspiel. Unter ihm hatte man ein Feuer entz�ndet, sodass ihm am Kopf Haare, Haut und Fleisch verbrannt waren. Seine Gesichtsz�ge waren nicht mehr zu erkennen. Man hatte ihn bis zur H�fte ent�kleidet, nur die Hosen hatte man ihm als letzte Zur�ckhaltung in diesem grausamen Mordakt gelassen. Das Feuer hatte auch seine Schultern verbrannt, sein gesamter Torso war schwarz von Ru�. An den Hautstellen, die unversehrt geblieben waren, konnte man das Alter des Mannes absch�tzen. Er war noch sehr jung gewesen. Seine Uniformjacke, sein Hemd und seine M�tze lagen unter ihm in der Asche. Man hatte ihn mit seiner eigenen Uniform verbrannt. Als w�rde sie ihm ins Ohr fl�stern, meinte Leo Frajeras Stimme zu h�ren:
Genau das werden sie auch mit dir anstellen.
Der Mann hatte zur AVH geh�rt, der ungarischen Geheim�polizei.
Leo drehte sich zu Karoly um. Der raufte sich die Haare, als seien sie von L�usen befallen. �Ich ...�, fl�sterte er.
Er ging n�her heran und streckte die Hand aus, um das ver�kohlte Gesicht zu ber�hren, zog sie aber wieder zur�ck und umkreiste die Leiche. �Ich wei� nicht...�
Er wandte sich Leo zu. �Ich wei� nicht, ob das mein Sohn ist.�
Er fiel auf die Knie, mitten in das erloschene Feuer, und ein Aschew�lkchen stieg auf. Passanten versammelten sich um sie und glotzten. Leo wandte den Kopf, um in ihre Gesichter zu se�hen: Was er las, waren Feindseligkeit und Wut angesichts dieser Trauer des Gegners, Wut dar�ber, dass man ihre Gerechtigkeit in Zweifel zog. Leo hockte sich neben Karoly und legte einen Arm um ihn. �Wir m�ssen weiter.�
�Ich bin sein Vater. Ich m�sste es doch wissen.�
�Das ist nicht Ihr Sohn. Bestimmt lebt Ihr Sohn. Wir werden ihn finden. Jetzt m�ssen wir los.�
�Ja, er lebt noch. Er lebt doch noch, oder?�
Leo half Karoly auf. Aber die Menge wollte sie nicht durch�lassen.
Leo sah, wie Raisas Hand auf die Waffe zukroch, die sie in ihrem Hosenbund versteckt hatte. Raisa hatte recht, sie waren in Gefahr. Mehrere Leute in der Menge begannen miteinander zu tuscheln. Einer hatte einen Gurt mit fingerdicken Patronen um den Hals h�ngen. Ihr Ton h�rte sich anklagend an.
Immer noch mit Tr�nen in den Augen zog Karoly die Fotos von Soja und Frajera hervor. Als er die Fotos sah, entspannte sich der Mann mit dem Patronengurt und legte Karoly eine Hand auf die Schulter. Sie sprachen eine Weile miteinander. Dann zerstreute sich die Menge.
Als alle verschwunden waren, fl�sterte Karoly Leo und Raisa zu: �Ihre Tochter hat uns gerade das Leben gerettet.�
�Hat der Mann sie gesehen?�
�Er hat sie am Corvin-Kino k�mpfen sehen.�
�Was hat er noch gesagt?�
Karoly dachte kurz nach. �Sie k�nnen stolz auf sie sein. Sie hat viele Russen get�tet.�
Am selben Tag
Der n�her kommende sowjetische Mannschaftswagen l�ste in der Menge eine Panik aus, als sei mitten unter ihnen eine Bom�be detoniert. Samt und sonders stoben sie in alle Richtungen davon, jeder wollte unbedingt weg von der Stra�e. Raisa rann�te so schnell sie konnte, neben ihr waren M�nner, Frauen und Kinder, immer wieder neue Gesichter. Ein �lterer Mann fiel hin, eine Frau versuchte ihm zu helfen. Sie zog an seinem Mantel und versuchte ihn von der Stra�e wegzuzerren. Entweder hatte man den Mann in dem gepanzerten Mannschaftswagen nicht gesehen, oder es k�mmerte keinen, auf jeden Fall w�rde er die beiden gleich �berfahren, als seien sie nur ein Hindernis. Raisa eilte zur�ck und hievte den Mann gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor das Kettenfahrzeug knirschend vorbeifuhr. Die Ket�ten kamen ihr so nah, dass sie einen metallischen Geruch in der Luft wahrnahm.
Raisa sah die Stra�e auf und ab. Weder Leo noch Karoly waren zu sehen, aber weit konnten sie nicht sein. Sie nutzte das Durcheinander aus, das der Mannschaftswagen verursacht hatte, und bog in die n�chste Nebenstra�e ab. Dann rannte sie weiter, bis sie nicht mehr konnte, blieb stehen und wartete keu�chend. Sie hatte sich von Leo getrennt. Jetzt konnte sie allein nach Soja suchen.
Die Idee war ihr bereits in Moskau gekommen, fast sofort, als sie geh�rt hatte, dass Soja noch lebte. Ein Leben mit Raisa konnte Soja sich vorstellen, so hatte sie es ihr jedenfalls gesagt. Ein Leben mit Leo allerdings nicht. Raisa glaubte nicht daran, dass sich diese Haltung im Verlauf der vergangenen f�nf Monate ge�ndert hatte. Wenn �berhaupt, dann hatte Soja sich eher noch mehr verh�rtet. Auf der Fahrt nach Ungarn war Raisa in ihrem Entschluss noch best�rkt worden, als sie gesehen hatte, wie Leo mit Karoly umging. Zwei ehemalige Agenten, die einander nicht trauten und trotzdem miteinander verbunden waren wie Ange�h�rige derselben Gesellschaft. Soja w�rde fragen: Ihr habt zwei KGB-Agenten geschickt, um mich zu retten? Ihr w�rde schlecht werden bei der Vorstellung. Wie wenig sie wussten von dem, was in Soja vorging. Frajera dagegen hatte Sojas Gem�tslage bestimmt f�r sich ausgenutzt und behauptet, ihre Verlassenheit zu verstehen.
Dass Leo sich eingestehen w�rde, sie sei absichtlich ver�schwunden, bezweifelte Raisa. Karoly w�rde vielleicht ihre wahren Motive erahnen, aber Leo w�rde es von sich weisen. Diese Verz�gerung verschaffte ihr einen kleinen Vorteil. F�r den Fall, dass sie sich verlieren sollten, hatte Karoly beiden einen Stadtplan mitgegeben, auf dem seine Wohnung eingezeichnet war. Sie sch�tzte, dass sie irgendwo in der N�he die Stahly ut sein musste. Also musste sie sich direkt nach S�den wenden und dabei die offensichtlichsten Strecken zum Corvin-Kino, wo man Soja gesichtet hatte, vermeiden.
Weil sie ihren Stadtplan verborgen halten musste, kam sie nur langsam voran. Endlich erreichte sie die Ulloi ut. In diesem Stadtbezirk war heftig gek�mpft worden. �berall auf dem Pflas�ter lagen leere Granath�lsen. Obwohl es eine gro�e Stra�e war, konnte Raisa nur wenige Menschen entdecken. Gelegentlich huschte eine Gestalt von einem T�reingang zum n�chsten, dann wieder nichts - angesichts einer so wichtigen Durchgangsstra�e herrschte hier eine gespenstische Stille. Raisa hielt sich dicht an den Hausw�nden und bewegte sich vorsichtig weiter. Irgend�wann hob sie einen zerbrochenen Ziegelstein auf. Wenn sie in Deckung gehen musste, w�rde sie sich entweder in einen T�rein�gang kauern oder damit ein Fenster einschlagen und hineinklet�tern. Als sie den Ziegel nahm, merkte sie, dass seine Unterseite ganz feucht war. Verdutzt schaute sie hinunter und sah, dass die ganze Stra�e mit irgendetwas Glitschigem �berzogen war.
�ber die gesamte Stra�enbreite hinweg hatte man eine Art Stoff ausgelegt. Es war Seide, Ballen kostbarer Seide, und sie war in Seifenschaum getr�nkt. Verwirrt machte Raisa einen vorsichtigen Schritt, und sofort rutschte sie mit ihren glatten Schuhsohlen aus. Jetzt kam sie nur noch weiter, wenn sie sich stets mit einer Hand an der Wand abst�tzte. Als h�tte sie einen Alarm ausgel�st, schrie man ihr aus den Fenstern �ber ihr etwas zu. Zu beiden Seiten tauchten in den Fenstern und auf den D�chern Menschen auf, die alle bis an die Z�hne bewaffnet waren. Raisa h�rte ein Poltern, sp�rte die Ersch�tterungen und blickte sich um. Gerade fuhr ein Panzer in die Stra�e ein. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, kontrollierte beide Seiten, dann schwenkte er in ihre Richtung und beschleunigte. Die Menschen in den Fenstern und auf den D�chern verschwanden und lie�en sich nicht mehr blicken. Das hier war eine Falle. Und sie steckte mittendrin.
Raisa hetzte �ber die nasse Seide, schlug hin, rappelte sich wieder hoch und hielt auf das n�chstgelegene Gesch�ft zu. Die T�r war verriegelt. Der Panzer war schon dicht hinter ihr. Sie holte mit dem Ziegelstein aus und zertr�mmerte die Scheibe. Ringsherum fielen gro�e Scherben zu Boden. Kaum war Raisa hineingeklettert, hatte der Panzer auch schon den Anfang der seifigen Seide erreicht. Raisa warf einen hastigen Blick zu�r�ck, �berzeugt, dass der Panzer dieses l�cherliche Hindernis mit Leichtigkeit nehmen w�rde. Doch der rutschte sofort zur Seite. Nutzlos mahlten die Ketten auf der glitschigen Seide, sie fanden keinen Griff mehr. Der Panzer war man�vrierunf�hig. Als Raisa wieder zu den D�chern hochblickte, sah sie, wie sich die Aufst�ndischen dort wieder versammelten. Ein Hagel von Molotowcocktails schlug rund um den Panzer ein und setz�te ihn in Brand. Der Panzer richtete sein Rohr auf eines der D�cher aus und feuerte eine Granate ab, doch weil er keinen festen Stand hatte, traf sie nicht, sondern jagte in den Himmel hinein.
Hektisch verkroch sich Raisa ins Innere des Gesch�fts. Die W�nde fingen an zu zittern. Sie schaute rasch �ber die Schulter. Durch das zerborstene Fenster sah sie, wie der Panzer sich in ihre Richtung drehte. Raisa warf sich zu Boden, und im n�chsten Moment krachte der Panzer auch schon durch die Fassade des Gesch�fts, der Turm durchstach die Decke �ber ihr. Die Mauern st�rzten ein. Der Panzer war festgekeilt.
In dem Rauch und den Staubwolken rappelte Raisa sich wieder hoch und taumelte in die Hinterr�ume des zerst�rten Gesch�fts. Kaum hatte sie die Treppe erreicht, h�rte sie, wie die Aufst�ndischen vom Dach herunterkamen. Jetzt sa� sie zwi�schen dem Panzer und den Rebellen in der Falle. Sie kauerte sich hinter die Ladentheke und zog ihre Pistole. Als sie vorsichtig �ber die Theke lugte, sah sie, wie ein sowjetischer Soldat die Luke des Panzers �ffnete.
Die Aufst�ndischen waren da. Raisa sah ein Maschinen�gewehr, das von einer jungen Frau mit einem Barett getragen wurde. Die Frau hob das Gewehr und legte schussbereit auf den russischen Soldaten an. Die junge Frau war Soja.
Raisa erhob sich. Sofort reagierte Soja auf die Bewegung, wirbelte herum und richtete die Waffe auf sie. Nach f�nf Mona�ten standen sie sich inmitten von Ziegelstaub und Qualm zum ersten Mal wieder von Angesicht zu Angesicht gegen�ber. Soja lie� das Maschinengewehr sinken, als sei es pl�tzlich viel zu schwer geworden. Sprachlos und mit offenem Mund stand sie da. Der ru�verschmierte russische Soldat hinter ihr, der selbst nicht �lter als zwanzig sein mochte, nutzte die Situation und zielte mit seiner Waffe auf Soja. Instinktiv richtete Raisa ihre TT-33 auf ihn und dr�ckte mehrmals ab. Ein Schuss traf den jungen Mann in den Kopf und schleuderte ihn zur�ck.
Fassungslos �ber ihre eigene Tat starrte Raisa auf den toten Soldaten, auf den sie immer noch zielte. Erst dann kam ihr wie�der zu Bewusstsein, dass ja die Zeit dr�ngte, also riss sie sich zusammen und sah Soja an. Sie machte einen Schritt vor und ergriff die H�nde ihrer Tochter.
�Soja, wir m�ssen hier weg. Du hast mir doch schon mal vertraut. Ich flehe dich an, vertrau mir noch einmal.�
In Sojas Gesicht spiegelte sich ihr innerer Kampf wider. Raisa war erleichtert, das war wenigstens ein Anfang. Gerade wollte Raisa weiterreden, da blieben ihr die Worte im Halse stecken. Am Fu� der Treppe stand Frajera.
Raisa zog Soja beiseite und zielte. Frajera, die nicht mit ihr gerechnet hatte, verteidigte sich nicht. Raisa hatte freie Schuss�bahn, doch sie z�gerte. Im n�chsten Moment sp�rte sie, wie ihr ein Gewehrlauf in den R�cken gedr�ckt wurde. Soja zielte direkt auf ihr Herz.
Am selben Tag
Nachdem er mehrere Stunden lang nach Raisa gesucht hatte, immer in der Angst, sie k�nnte verletzt sein, begriff Leo endlich, dass sie sich offensichtlich davongemacht hatte, um Soja zu su�chen. Also glaubte sie wohl nicht daran, dass Soja mit ihm nach Hause kommen w�rde. Um Raisa wieder einzuholen, rannte er zum Corvin-Kino, wo man Soja zuletzt gesehen hatte. Das Kino war ein leicht zu verteidigendes, von der Stra�e zur�ckgesetztes Geb�ude. Der Fu�pfad, der zu ihm f�hrte, war von einer befes�tigten Schanze versperrt.
Ein Aufst�ndischer n�herte sich. Karoly war weit zur�ckge�blieben, er hatte Leos Tempo nicht folgen k�nnen. Leo war nun ohne �bersetzer, doch jegliche Fragen wurden ihm durch das Auftauchen eines sowjetischen T-34-Panzers erspart, der mittler�weile in der Hand der Aufst�ndischen war. Vom Turm hing eine ungarische Fahne herab. Jubelnd umringten ihn die K�mpfer. Leo schob sich durch die Menge und zeigte das Foto von Soja vor. Nachdem er einen Blick auf das Bild geworfen hatte, deutete ein Mann den Boulevard hinunter.
Leo rannte weiter. Der Boulevard war menschenleer. Leo blieb stehen und hockte sich hin. Auf der Stra�e lag zerrissene Seide. An einigen Stellen war sie versengt und qualmte, an ande�ren war sie vollkommen durchtr�nkt. Leo sah, wo der erbeutete Panzer von der Stra�e geschlittert und in das Schaufenster eines Gesch�fts gekracht war. Auf dem Boden hatte man die Leichen von vier sowjetischen Soldaten �bereinandergelegt. Keiner von ihnen war �lter als zwanzig.
Sonst war keine Menschenseele da.
Am selben Tag
Raisa schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Ge�r�usche in den Nachbarr�umen. Sie h�rte, wie Leute hin- und herliefen und riefen, wie Gegenst�nde �ber den Boden geschleift wurden, h�rte auf Russisch und Ungarisch gebr�llte Befehle. Verwundete schrien vor Schmerzen auf. Ein Raum wurde of�fensichtlich dazu benutzt, die im Kampf erlittenen Verwun�dungen notd�rftig zu verarzten, ein anderer als Kantine f�r Frajeras Guerillabande. Der Geruch von Desinfektionsmittel mischte sich mit den Kochd�nsten von gebratenem Fleisch und Schmalz.
Als man sie mit vorgehaltener Waffe von dem Panzer weg�gef�hrt hatte, hatte Raisa kaum darauf geachtet, wohin man sie brachte. Ihr einziges Augenmerk hatte Soja gegolten, die wie eine Soldatin mit langen Schritten und geschultertem Gewehr vornweg marschiert war - demselben Gewehr, mit dem sie kurz zuvor auf Raisas Herz gezielt hatte. Sie waren an einen Wohn�block gekommen, der von der Stra�e zur�ckgesetzt und nur �ber eine Gasse zu erreichen war. Man hatte Raisa ins oberste Stockwerk gebracht und in einen kleinen Raum gesperrt, der eilig ausger�umt und zur Zelle umfunktioniert worden war.
Die W�nde begannen zu zittern, drau�en fuhren schwere Panzerfahrzeuge vorbei. Raisa sp�hte durch das kleine Fenster. Unten in der Stra�e gab es Scharm�tzel. Direkt �ber ihr h�rte sie auf den Dachziegeln das Getrappel von F��en, es stammte von den Heckensch�tzen, die in Position gingen. Kraftlos kau�erte sich Raisa an die am weitesten vom Fenster entfernte Wand und hielt sich die Ohren zu. Sie musste an Soja denken. Und sie musste an den jungen Sowjetsoldaten denken, den sie erschossen hatte. Jetzt endlich lie� sie ihren Tr�nen freien Lauf.
Drau�en vor dem Zimmer h�rte sie Schritte, dann drehte sich ein Schl�ssel im Schloss. Raisa stand auf. Frajera betrat den Raum. In Moskau war sie noch die Ruhe selbst gewesen und hatte alles unter Kontrolle gehabt, doch jetzt wirkte sie m�de und angespannt. Der Druck der Operation schien auf ihr zu lasten. �Du hast mich also gefunden.�
�Ich bin hier, um Soja zu holen.� Raisas Stimme bebte vor Zorn.
�Wo ist Leo?�
�Ich bin allein.�
�Du l�gst. Aber wir finden ihn schon noch. Die Stadt ist nicht besonders gro�.�
�Lassen Sie Soja gehen.�
�Du tust gerade so, als ob ich sie euch geklaut h�tte. Ich habe sie eher vor euch gerettet.�
�Was f�r Probleme wir als Familie auch haben m�gen, wir lieben Soja. Sie nicht.�
Frajera schien diese Bemerkung gar nicht zu registrieren. �Soja wollte sich mir anschlie�en, also habe ich sie gelassen. Sie kann tun, was immer ihr beliebt. Wenn sie mit dir nach Hause gehen will, bitte sehr. Ich werde sie nicht aufhalten.�
�Es ist einfach, sich das Wohlwollen eines Kindes zu erschlei�chen, wenn man es alles machen l�sst und ihm genau das sagt, was es h�ren will, ihm ein Maschinengewehr in die Hand dr�ckt und ihm weismacht, es sei ein Revolution�r. Was f�r eine ver�f�hrerische L�ge! Aber ich glaube nicht, dass Soja Sie deswegen liebt.�
�Das verlange ich doch auch gar nicht. Du und Leo dagegen, ihr verlangt Liebe. Ihr seid beide s�chtig danach. Und tats�chlich war sie bei euch doch j�mmerlich ungl�cklich. Bei mir hingegen f�hlt sie sich pudelwohl.�
�ber Frajeras Schulter hinweg konnte Raisa am Ende des Flurs einen Verletzten sehen, der auf einem K�chentisch lag. Es gab keinen Arzt und kaum nennenswerte Instrumente, nur blutige Lappen und kochendes Wasser.
�Wenn Sie hierbleiben, werden Sie sterben. Und Soja wird mit Ihnen sterben.�
Frajera sch�ttelte den Kopf. �Dass du dich um Sojas Wohlbe�finden sorgst, ist noch kein Beweis f�r deine Mutterschaft. Du bist ebenso wenig ihre Mutter wie ich.�
* * *
Raisa wachte auf. Der Raum war dunkel und kalt. Zitternd zog sie die d�nne Bettdecke fester um sich. Es herrschte Nacht, nichts r�hrte sich in der Stadt. Sie hatte nicht erwartet, schlafen zu k�nnen, aber kaum hatte sie sich hingelegt, waren ihr auch schon die Augen zugefallen. Jetzt stand auf dem Boden ein Tel�ler mit Fleisch und Kartoffeln, den man ihr hingestellt haben musste, w�hrend sie geschlafen hatte. Sie streckte den Arm aus und zog den Teller n�her heran. Erst da fiel ihr auf, dass die T�r offen stand.
Raisa stand auf, schlich hinaus und sp�hte ins Treppenhaus. Alle Flure waren verwaist. Wenn sie fliehen wollte, brauchte sie einfach nur die Wohnung zu verlassen, das Treppenhaus hinab�zusteigen und auf die Stra�e zu laufen. War es m�glich, dass Soja das Schloss aufgebrochen und die T�r f�r sie ge�ffnet hatte? Dass sie ihr helfen wollte und doch gleichzeitig ihre Gef�hle vor ihr verbarg?
Wer immer das gemacht hatte, war nicht nur listig, sondern �berdies auch noch geschickt, ging aber trotzdem von einer v�l�lig falschen Annahme aus. Denn Raisa war ja gar nicht hier, um zu fliehen, sondern um Soja nach Hause zu holen. Soja wusste das auch. Au�erdem zeugte dieses Vorgehen von umsichtiger Planung und passte so gar nicht zu Soja, die immer mit dem Kopf durch die Wand wollte.
Nerv�s geworden, stahl Raisa sich zur�ck. Im selben Moment tauchte in der T�r eine Silhouette auf. Es war die eines Jungen. Fl�sternd sprach er sie an. �Warum fliehen Sie nicht?�
�Nicht ohne Soja.�
Er sprang vor, stellte ein Bein aus und hebelte Raisa zu Bo�den. Gleichzeitig presste er ihr eine Hand auf den Mund und unterdr�ckte damit ihren Schrei. Bewegungsunf�hig lag Raisa auf dem R�cken. Sie f�hlte das Messer, das ihr an den Hals gedr�ckt wurde.
�Du h�ttest weglaufen sollen�, fl�sterte der Junge.
Durch seine Finger hindurch presste sie erneut hervor: �Nicht ohne Soja.�
Bei der Erw�hnung von Sojas Namen sp�rte sie, wie er starr wurde und ihr die Klinge noch fester an den Hals dr�ckte. �Magst... du sie?�, fragte Raisa.
Er dr�ckte nicht mehr ganz so fest zu. Sie hatte also recht. Hier ging es um Soja. Der Junge hatte Angst, sie zu verlieren.
�H�r mir zu�, fuhr Raisa fort. �Sie ist in Gefahr. Und du auch. Komm mit uns.�
�Sie geh�rt dir nicht!�
�Da hast du recht, sie geh�rt mir nicht. Aber sie liegt mir sehr am Herzen. Und wenn es dir genauso geht, dann werden wir zwei eine M�glichkeit finden, sie hier rauszuholen. Du merkst doch, dass ich mich anders anh�re als Frajera? Du wei�t ganz genau, dass ich Angst um Soja habe. Und du wei�t auch, dass sie Frajera egal ist.�
Der Junge nahm das Messer von ihrem Hals weg. Er schien abzuw�gen. Raisa erriet seine Gedanken. �Komm mit uns zu�r�ck. Du bist der Grund, warum Soja gl�cklich ist, nicht Fraje�ra.�
Der Junge sprang auf, rannte aus dem Zimmer und schlug die T�r zu. Dann fiel ihm ein, dass ja das Schloss kaputt war, und er machte sie wieder auf. �Tu so, als h�ttest du versucht auszubrechen. Sonst bringen die anderen mich um.�
Der Junge verschwand.
�Warte!�, rief sie ihm hinterher.
Der Junge kam noch einmal zur�ck.
�Wie hei�t du?�
Er z�gerte. �Malysch.�
28. Oktober
Leo z�hlte mindestens drei�ig Panzer. Hintereinander fuhren sie �ber die wichtigste Einfallstra�e in die Stadt. Ein Aufmarsch in dieser Gr��enordnung, noch dazu um sechs Uhr morgens, konnte nur bedeuten, dass die richtige Invasion der Sowjet�armee unmittelbar bevorstand. Schon bald w�rde der Aufstand niedergeschlagen sein.
Leo rannte den H�gel hinab, zur�ck in Karolys Wohnung. Im Treppenhaus nahm er zwei Stufen auf einmal. Oben angekom�men, stie� er die T�r auf. Karoly sa� an einem Tisch und las ein Flugblatt.
�Die Sowjets haben �ber drei�ig Panzer in Marsch gesetzt�, berichtete Leo. �Sie rollen gerade in die Stadt. Wir m�ssen sofort nach Soja und Raisa suchen.�
Karoly reichte ihm das Flugblatt. Ungeduldig warf Leo einen Blick darauf. In der oberen H�lfte war ein Foto.
Es war seins.
Karoly �bersetzte den Text: �Dieser Mann ist ein sowjetischer Spion. Er hat sich als einer von uns verkleidet. Melden Sie sei�nen Aufenthaltsort unverz�glich dem n�chsten revolution�ren St�tzpunkt.�
Leo legte das Flugblatt ungeduldig zur�ck auf den Tisch. �Frajera sucht nach mir. Das ist der Beweis, dass sie Raisa ge�fangen genommen hat.�
�Leo, Sie sind da drau�en nicht mehr sicher�, warnte Karoly.
Aber Leo riss schon die T�r auf. �Wenn sowieso schon an jeder Stra�enecke russische Panzer stehen, k�mmert sich kein Mensch mehr um einen l�cherlichen russischen Spion.�
Die T�r zur gegen�berliegenden Wohnung stand offen, das Gesicht des Nachbarn lugte um die Ecke. F�r einen Moment sahen die beiden sich an. Dann schloss der Nachbar die T�r.
Am selben Tag
Zwei wory betraten Raisas Zelle, zerrten sie an den Armen hoch und f�hrten sie durch den Flur bis auf den Balkon. Unten auf dem Platz hatte sich eine Menschenmenge versammelt. In ihrer Mitte stand Frajera. Als sie sah, dass Raisa angekommen war, bedeutete sie ihren M�nnern beiseitezutreten. Sie machten Platz, und zum Vorschein kamen Leo und Karoly, beide auf Knien und die Arme vor dem K�rper gefesselt, als seien sie feilgebotene Sklaven. Soja stand mitten unter den Schaulustigen.
Leo erhob sich. Sofort richteten sich Gewehre auf ihn, doch auf eine Handbewegung von Frajera hin wurden sie wieder ge�senkt. �Lasst ihn reden.�
�Frajera, wir haben nicht viel Zeit. Jetzt schon befinden sich �ber drei�ig T-34-Panzer in der Stadt. Die Sowjets werden die�sen Aufstand niederschlagen. Und sie werden jeden t�ten, der eine Waffe tr�gt, ob Mann, Frau oder Kind. Ihr habt nicht die geringste Chance zu gewinnen.�
�Da bin ich anderer Meinung.�
�Frol Panin lacht doch nur �ber euch. Der ganze Aufstand ist eine Inszenierung. Hier geht es gar nicht um die Zukunft Ungarns. Ihr werdet doch alle nur hintergangen.�
�Du verstehst wirklich gar nichts, Maxim. Nicht etwa ich werde von Panin hintergangen, ich hintergehe ihn selbst. Al�lein h�tte ich das hier nie geschafft. Dann w�re es mit meiner Rache schon in Moskau vorbei gewesen. Doch jetzt kann ich mich nicht nur an den M�nnern und Frauen r�chen, die mich verhaftet haben, so wie ich es urspr�nglich vorhatte - jetzt kann ich mich an ebendem Staat r�chen, der mein Leben zerst�rt hat. Jetzt kann ich Russland Schaden zuf�gen.�
�Nein, das kannst du nicht! Denn selbst wenn die sowje�tischen Streitkr�fte hundert Panzer und tausend Soldaten verlieren sollten, wird das am Ergebnis nichts �ndern. Das juckt die �berhaupt nicht.�
�Panin untersch�tzt, wie tief der Hass hier sitzt.�
�Hass allein reicht nicht.�
Frajera wandte ihr Augenmerk Karoly zu. �Bist du sein �ber�setzer? Hat Panin dich dazu beauftragt?�
�Ja.�
�Hast du au�erdem noch die Anweisung erhalten, mich zu t�ten?�
Karoly dachte kurz nach, doch dann gab er Antwort. �Ent�weder ich oder Leo sollten dich t�ten. Sobald der Aufstand begonnen hatte.�
Leo war schockiert. Doch Frajera sch�ttelte nur gleichg�ltig den Kopf. �Ist dir nicht klar geworden, weshalb du eigentlich hier bist, Leo? Ohne es auch nur zu ahnen, solltest du mich f�r die zur Strecke bringen. Du arbeitest f�r Panin, ich nicht.�
�Das wusste ich nicht.�
�Das ist wohl deine Standardantwort auf alles - das wusste ich nicht. Dann werde ich es dir mal erkl�ren. Ich habe diesen Aufstand nicht vom Zaun gebrochen. Ich habe ihn nur unter�st�tzt. Auch wenn du mich umbringst, �ndert das nichts.�
Leo wandte sich an Soja. Sie hatte ein Gewehr geschultert, an ihrem G�rtel baumelten Handgranaten. Ihre Kleider waren zerrissen, die H�nde zerschunden.
Soja hielt seinem Blick stand, das Gesicht zu einer hasserf�ll�ten Maske erstarrt, so als bef�rchte sie, dass sich sonst auch noch andere Gef�hle anschleichen k�nnten. Neben ihr stand der Junge, der den Patriarchen ermordet hatte. Er hielt ihre Hand.
�Wenn ihr k�mpft, werdet ihr sterben.�
Frajera wandte sich an Soja. �Was sagst du dazu, Soja? Maxim spricht mir dir.�
Soja reckte das Gewehr in die Luft. �Wir k�mpfen.�
Am selben Tag
Raisa h�tte gern etwas gesagt, aber Leos ganze K�rpersprache verbot es ihr. Seit er mit Gewalt in diese Zelle verfrachtet wor�den war, hatte er kein Wort von sich gegeben. Auf der anderen Seite des Zimmers lag Karoly mit geschlossenen Augen auf einer Bettstelle. Er war bei der Gefangennahme am Bein verwundet worden.
�Es tut mir leid, Leo�, begann Raisa.
Leo schaute zu ihr auf. �Ich habe einen Fehler gemacht, Rai�sa. Ich h�tte dir das mit Soja sagen sollen. Ich h�tte dir erz�hlen sollen, dass sie mit einem Messer vor meinem Bett gestanden hat.�
Immer noch mit geschlossenen Augen daliegend, warf Karoly ein: �Reden wir hier von dem T�chterchen, das wir gerade zu retten versuchen?� Er machte ein Auge auf und linste damit erst Leo und dann Raisa an.
Um Karoly nicht weiter am Gespr�ch teilhaben zu lassen, senkte Leo die Stimme. �Wenn wir �berhaupt eine Chance ha�ben wollen, hier wegzukommen, m�ssen wir einander vertrauen k�nnen.�
Raisa nickte. �Mit Vertrauen allein kommen wir allerdings nicht aus diesem Zimmer raus.�
�Hast du eine Idee, wie wir Soja weglotsen sollen?�, fragte Leo.
�Sie ist verliebt.�
�berrascht fuhr Leo zur�ck. �Verliebt? In wen?�
�In einen Gangster. Er ist noch jung, so alt wie sie. Er hei�t Malysch.�
�Der Junge ist ein M�rder! Ich war selbst dabei, als er den Patriarchen umgebracht hat. Er hat einen Siebzigj�hrigen mit einem Draht garottiert.�
Karoly setzte sich auf. �H�rt sich an, als w�rden die zwei gut zusammenpassen.�
Raisa nahm Leos H�nde. �Malysch k�nnte unsere letzte Ret�tung sein.�
Am selben Tag
Soja lag flach auf dem Bauch, das Gewehr vor sich. Die gesamte Fassade auf der zerst�rten Seite des Hauses war von Granaten durchsiebt und drohte einzust�rzen. Durch das Zielfernrohr sah sie am anderen Ende der Kossuthbid, der Br�cke nicht weit vom Parlament, zwei Panzer stehen. Genau wie Leo vorausge�sagt hatte, warteten sie vermutlich auf den Befehl, in die Stadt vorzur�cken.
Soja hatte nicht damit gerechnet, Leo noch einmal wieder�zusehen. Wenn sie an sein Gesicht dachte, konnte sie sich nicht konzentrieren. Au�erdem musste sie dringend pinkeln. Erneut nahm sie die Panzer ins Visier, doch da r�hrte sich nichts. Also legte sie ihr Gewehr hin und schaute sich in dem zertr�mmer�ten Schafzimmer um, in dem sie sich befand. Da die gesamte Fassade des Hauses eingest�rzt war, war der Raum nun ein�sehbar. Wenn sie sich nicht zu weit von ihrem Posten entfer�nen wollte, blieb ihr als einziges abgeschiedenes Pl�tzchen der Kleiderschrank. Sie schl�pfte hinein, zog die T�r hinter sich zu und hockte sich hin. Als sie sich mit dem �rmel eines Mantels trocken tupfte, hatte sie ein schlechtes Gewissen - eigentlich verr�ckt, wenn man bedachte, dass sie gerade im Begriff war, einen Menschen zu erschie�en. Zwar hatte sie mittlerweile schon zahlreiche Sch�sse abgegeben, aber jemanden daraufhin sterben oder fallen sehen hatte sie noch nicht. Ohne Vorwar�nung musste sie sich �bergeben. Gerade noch rechtzeitig griff sie nach einem herumstehenden Schuh und kotzte ihn rand�voll.
Auf wackligen Beinen kletterte sie aus dem Kleiderschrank und dr�ckte die T�r hinter sich zu. Das Gewehr lag noch auf dem Tr�mmerhaufen, wo sie es zur�ckgelassen hatte. Zitternd begab sich Soja zur�ck auf ihren Posten. Ein sowjetischer Sol�dat wankte auf die beiden Panzer zu. Soja nahm den Verletzten ins Fadenkreuz. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, nur seinen R�cken - und das braune Haar. Vielleicht kamen die anderen Offiziere ihm ja zur Hilfe. Frajera hatte ihr beigebracht, dass sie zuerst auf die schie�en musste. Das lohnte sich. Den Verletzten konnte sie danach immer noch erledigen.
Zehn Schritte vor dem Panzer brach der Verwundete zusam�men. Soja richtete das Fadenkreuz auf die Luke und wartete ab, ob die Besatzung den K�der schlucken w�rde. Der Panzer setzte sich in Bewegung und man�vrierte so nahe wie m�glich an den Verletzten heran. Sie hatten also vor, ihn zu retten. Die Luke ging auf. Vorsichtig hob ein Soldat den st�hlernen Deckel hoch und sp�hte hinaus. Bereit, sich schnell wieder zur�ckzuziehen, wartete er, ob man auf ihn schie�en w�rde. Nach einer Weile kletterte er hinaus und eilte seinem verwundeten Kameraden zur Hilfe. Soja hatte den Mann im Visier. Wenn sie jetzt nicht abdr�ckte, w�rde er den Kameraden in den Panzer zerren, und danach w�rden sie weiter in die Stadt vorr�cken und noch mehr unschuldige Leute umbringen. Was w�ren ihre Skrupel dann noch wert? Schlie�lich war sie zum K�mpfen hier. Da dr�ben war der Feind. Er hatte Kinder, M�tter und V�ter get�tet.
Gerade wollte sie abdr�cken, da schob jemand das Gewehr herunter. Es war Malysch. Er lag neben ihr, sein Gesicht dicht an ihrem. Soja zitterte.
Er nahm ihr das Gewehr ab und beobachtete durch das Fern�rohr die Panzer.
Soja sp�hte �ber die Tr�mmer hinweg. Die Panzer setzten sich wieder in Bewegung. Aber sie drangen nicht in die Stadt vor, sondern fuhren �ber die Br�cke zur�ck in die entgegengesetzte Richtung.
�Wo wollen die hin?�, fragte Soja.
Malysch sch�ttelte den Kopf. �Keine Ahnung.�
Am selben Tag
Auf der Suche nach einer Fluchtm�glichkeit durchsuchte Leo das Zimmer. W�hrend er sich an der T�r, dem Fenster und den Fu�bodendielen zu schaffen machte, fiel ihm pl�tzlich auf, wie still es geworden war. Die Explosionen und Sch�sse hatten auf�geh�rt. Drau�en vor der Zelle h�rte er Schritte.
Die T�r ging auf, und Frajera marschierte herein. �H�rt euch das an!�
Im Nachbarzimmer war ein Radio auf volle Lautst�rke gestellt. Der Nachrichtensprecher redete Ungarisch. Leo warf Karoly ei�nen fragenden Blick zu. Der h�rte noch ein paar Sekunden zu.
��bersetzen Sie!�, fuhr Frajera ihn an.
Karoly warf Leo einen fl�chtigen Blick zu.
�Ein Waffenstillstand ist ausgerufen worden. Die sowjeti�schen Truppen ziehen sich aus der Stadt zur�ck.�
Am selben Tag
Frajera sp�rte Skepsis aufkeimen und bestand deshalb auf ei�nem Siegeszug. Also machten sie sich auf den Weg: Leo, Raisa und Karoly, umringt von Aufst�ndischen und den �berbleibseln von Frajeras Bande. Sie selbst und Malysch nicht eingerechnet, z�hlte Leo nur noch vier wory. Das waren viel weniger als in Moskau. Vielleicht waren ein paar get�tet worden, aber die an�deren hatten sie offenbar im Stich gelassen. Das Leben eines Revolution�rs war nun einmal nichts f�r einen Berufsverbre�cher. Frajera schien das allerdings nicht zu scheren, sie f�hrte die Gruppe so stolz die breite Sztalin ut entlang, als marschiere sie auf Stalins Grabmal. Raisa lief neben Leo, Karoly dicht hinter ihnen, er zog sein verletztes Bein nach. Hinter den bewaffneten M�nnern erhaschte Leo einen Blick auf Soja, die am Rand der Gruppe marschierte, mit Malysch an ihrer Seite. Soja ignorierte Leo zwar vollkommen, doch Malysch warf ihm von Zeit zu Zeit verstohlen einen feindseligen Blick zu. Raisa hatte recht. Die beiden waren ganz eindeutig ineinander verliebt.
Leo konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die ungarische Seite gesiegt haben sollte. Er hatte die Aufst�ndischen gesehen, mit kaum mehr als Ziegelsteinen und Molotowcocktails bewaffnet. Sie hatten zwar furchtlos gek�mpft, weil es um ihre Heimat ging, um die eigene Scholle. Aber eine vern�nftige Stra�tegie hatte Leo als ehemaliger Soldat dahinter nicht entdecken k�nnen. Der Aufstand war planlos und improvisiert. Die Rote Armee hingegen war das m�chtigste Heer der Welt, zahlenm��ig ebenso wie in Bezug auf die Ausr�stung. Panin und seine Mitver�schw�rer wollten, dass das so blieb. Den Verlust Ungarns w�rde man niemals hinnehmen, egal wie blutig der Konflikt wurde. Doch als er jetzt durch die Stadt marschierte, stellte Leo zu seiner eigenen �berraschung fest, dass es tats�chlich nirgendwo mehr sowjetische Truppen gab, weder Panzer noch Soldaten. Viele der ungarischen Rebellen hatten bereits ihre Stellungen verlassen.
Frajera blieb stehen. Sie waren an einem B�rogeb�ude ange�kommen, einem nicht sehr gro�en und unscheinbaren Komplex. Vor dem Eingang herrschte Unruhe, es war ein einziges Kom�men und Gehen. Karoly schleppte sich nach vorn und schloss zu Leo auf.
�Das ist das Hauptquartier des AVH.�
�Hier steckt also Ihr Sohn?�, frage Leo.
�Normalerweise arbeitet er hier. Aber die Agenten sind sicher geflohen, sobald der Aufruhr losging.�
Frajera bemerkte, dass die beiden miteinander redeten. Sie dr�ngte sich durch ihre M�nner.
�Wisst ihr, was das ist?�, fragte sie. �Das ist der Sitz der unga�rischen Geheimpolizei. Die Leute sind stiften gegangen und ver�stecken sich jetzt irgendwo. Aber wir werden sie schon finden.�
Karoly gelang es, seine Besorgnis vor ihr zu verbergen.
Frajera fuhr fort. �Jetzt, wo die Stadt befreit ist, steht das Geb�ude allen offen. Die Geheimnisse, die hier geh�tet wurden, sind jetzt keine mehr.�
Die meisten Aufst�ndischen blieben drau�en. Es herrschte ein zu gro�es Gedr�nge, als dass alle hineingekonnt h�tten. Frajera f�hrte eine kleinere Gruppe durch die T�r und betrat einen Innenhof. Massen getippter und abgestempelter Papiere regneten von den Balkonen herab, die B�rokratie des Terrors. Es fing schon an zu d�mmern. Immer wieder fiel der Strom aus. Um dem abzuhelfen, wurden Kerzen entz�ndet und auf den Balkonen und in den Fluren aufgestellt. Die R�ume quollen �ber vor Menschen, die Akten durchw�hlten. Im Kerzenlicht bl�tterten M�nner und Frauen die Informationen durch, die man �ber sie gesammelt hatte. �bersetzungen der Dokumente brauchte Leo nicht, ihm reichte schon der Anblick der weinenden Menschen. Die Akten enthielten auch die Namen der Familienmitglieder oder Freunde, von denen sie denunziert worden waren, und das, was diese Leute �ber sie ausgesagt hatten. Als h�tte man hundert Spiegel auf den Boden geworfen, sah Leo, wie �berall um ihn herum der Glaube an die Menschheit ersch�ttert wurde. �Nach unten�, raunte Frajera.
Die B�ros waren zwar voller Menschen, die Treppe zum Keller jedoch verwaist. Jeder nahm eine Kerze, dann stiegen sie hinunter. Die Luft war feucht und k�hl. Leo konnte sich nicht nur vorstellen, was in den Akten stand, er wusste auch, was sie im Keller finden w�rden: die Zellen, wo man die Verd�chtigen verh�rt und gefoltert hatte.
Wasser tropfte auf den rissigen Betonboden. Alle Zellent�ren waren aufgebrochen worden. In der ersten Zelle standen ein Tisch und zwei St�hle. Die zweite besa� lediglich einen in der Mitte eingelassenen Abfluss. Leo beobachtete, was auf Sojas Gesicht vorging. Wie gerne h�tte er sie jetzt hochgehoben und herausgetragen. Sie nahm Malyschs Hand. Verzweifelt ballte Leo die F�uste. Wie lange wollte Frajera denn noch hier unten bleiben? Zu seiner �berraschung machte dieser Ort der sonst so furchtlos erscheinenden Frajera erkennbar zu schaffen. Leo stellte sich die Folterungen vor, die sie nach ihrer Verhaftung durchlitten haben musste.
Schlie�lich seufzte sie. �Trinken wir einen darauf, dass das alles jetzt ein Ende hat.�
Einen Moment lang stand sie da im Halbdunkel und war wieder ein Mensch.
* * *
Frajera wollte die Erste sein, die den Sieg feierte. Das Fest sollte im Hof des von ihr in Beschlag genommenen Hauses stattfin�den, und jedermann war eingeladen. Frajera hatte kistenweise Alkohol besorgt, Schnaps und Champagner aus den Vorr�ten der Elite. Viele hatten solcherlei Getr�nke, die Frajera genau f�r diesen Augenblick gehortet hatte, noch nie probiert. Als Leo jetzt die Vorbereitungen zum Fest verfolgte, wurde ihm klar, dass Frajera die ganze Zeit an einen Sieg geglaubt hatte.
Um die K�lte zu vertreiben, hatte man in der Mitte des Hofes ein mannshohes Feuer errichtet, die Flammen z�ngelten hinauf in den n�chtlichen Himmel. Unbeholfene Nachbildungen von Stalin und seinem ungarischen Pendant R�kosi waren in Uni�formen gesteckt worden, die man den Leichen sowjetischer Soldaten ausgezogen hatte. Leo registrierte, wie Frajera vom Balkon aus die brennenden Puppen sorgsam fotografierte und dann die Kamera wieder verstaute.
W�hrend die brennenden Uniformen sich allm�hlich in Asche verwandelten, tauchte eine cigany-Kapelle mit ihren handbe�malten Instrumenten auf. Anfangs spielten sie noch zaghaft, wie aus Furcht, ihre Geigen k�nnten einen sowjetischen Granatenbeschuss auf sie lenken, doch allm�hlich verga�en sie ihre Angst. Die Musik wurde immer lauter und schneller, und die Aufst�ndischen fingen an zu tanzen.
Leo und Raisa waren abseits des Festes unter Bewachung gestellt und mussten mitansehen, wie Soja sich betrank und der Champagner ihre Wangen r�tete. Frajera trank aus einer Flasche, die sie mit niemandem teilte - nichts �berlie� sie dem Zufall. Als sie sah, dass Leo sie beobachtete, kam sie herbei. �Ihr k�nnt ruhig tanzen, wenn ihr wollt.�
�Was hast du jetzt mit uns vor?�, fragte Leo.
�Ehrlich gesagt wei� ich das noch nicht genau.�
Soja versuchte, Malysch zum Tanzen zu bewegen. Ohne Er�folg griff sie nach seiner Hand und zog ihn in den Kreis derer, die das Feuer umgaben. Er, den sie schon beh�nde wie eine Katze Regenrinnen hatte hinaufklettern sehen, stellte sich jetzt tollpatschig an.
�Tu einfach so, als w�ren wir ganz allein�, fl�sterte Soja ihm zu.
Und als seien nur sie beide da, tanzten sie um das Feuer. Die Welt um sie herum verschwamm, die Flammen erhitzten ihre Gesichter. Immer schneller wirbelten sie herum, bis die Musik schlie�lich aufh�rte und alle applaudierten. Doch f�r die beiden drehte die Welt sich weiter, und sie hatten nur einander, um sich festzuhalten.
30. Oktober
Das Feuer war zu einem Haufen glimmender Asche und ver�kohlten Scheiten herabgebrannt. Die cigany-Kapelle hatte auf�geh�rt zu spielen. Die Feiernden, sofern sie nicht besinnungslos in einer Ecke lagen, waren nach Hause zur�ckgekehrt.
Malysch und Soja hatten sich nahe dem ausgehenden Feuer in eine Decke gerollt. Karoly summte irgendeine unidentifizierbare Melodie. Nachdem er um Alkohol gebeten hatte, um den dump�fen Schmerz in seinem Bein zu bet�uben, war er nun betrunken. Frajera dagegen war so putzmunter, als h�tte sie sich die ganze Nacht ausgeruht.
�Warum sollten wir denn in einer viel zu engen Wohnung schlafen?�, fragte sie.
Es blieb ihnen nichts anderes �brig, als weiter an Frajeras Zug durch die Stadt teilzunehmen. Also verlie�en sie den Hof, �berquerten die Donau und trotteten danach m�de ihrem Ziel entgegen, den Regierungsvillen auf den satten H�geln von Buda.
Malysch und Soja kamen mit, au�erdem die �brigen wory und ihr ungarischer �bersetzer. Vom Gipfel des Rosenh�gels aus verfolgten sie den Sonnenaufgang �ber der Stadt.
�Zum ersten Mal nach �ber zehn Jahren wacht diese Stadt in Freiheit auf�, erkl�rte Frajera.
Sie kamen am Tor einer von hohen Mauern umgebenen Vil�la vorbei. Erstaunlicherweise waren rund um das Grundst�ck Wachen postiert.
Frajera wandte sich an ihren �bersetzer. �Sag ihnen, sie sol�len nach Hause gehen. Sag ihnen, das hier ist jetzt Volkseigen�tum.�
Der �bersetzer n�herte sich dem Tor und wiederholte ihre Worte auf Ungarisch. Auf diese Idee waren die Wachen, die ver�mutlich vom Ausgang der K�mpfe geh�rt hatten, ohnehin schon gekommen. Schlie�lich bewachten sie hier die Privilegien eines untergegangenen Regimes. Sie �ffneten das Tor, nahmen ihre Siebensachen und machten sich davon, w�hrend der �bersetzer aufgeregt zur�ckkehrte. �Sie sagen, das war R�kosis Villa.�
Karoly raunte Leo zu: �Die Spielwiese meines ehemaligen Chefs, des einst so glorreichen F�hrers meines Landes. Hier haben wir ihn immer angerufen und gefragt: Sollen wir in den Mund des Verd�chtigen pissen, Genosse Vorsitzender? Wollen Sie dabei zuh�ren? Ja, hat er dann gesagt. Ich will alles h�ren.�
Sie betraten das musterg�ltig angelegte Grundst�ck.
Frajera rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Nach dem Geruch zu urteilen vermutete Leo, dass sie Aufputschmittel ent�hielt. Amphetamine w�rden auch erkl�ren, warum sie immer noch eine solch unb�ndige Energie besa�. Ihre Augen waren vollkommen schwarz, die Pupillen wie �llachen. Als er noch MGB-Agent gewesen war, hatte er diese Droge oft selbst bei n�chtlichen Razzien und stundenlangen Verh�ren genommen. Danach w�rde Frajera keinen klaren Kopf mehr haben. Ihre Gewaltbereitschaft w�rde steigen und eine grenzenlose Selbst��bersch�tzung jede ihrer Entscheidungen unverr�ckbar machen.
Mit den Schl�sseln aus dem Wachh�uschen sprang Frajera die Treppe hinauf, entriegelte die Haust�r und riss sie weit auf. Dann verbeugte sie sich vor Malysch und Soja. �Ein junges Paar sollte auch ein Nest haben.�
Malysch wurde rot. Soja betrat l�chelnd das Haus, und bald darauf hallte die riesige Eingangshalle von ihrem erstaunten Ausruf wider. �Es gibt sogar ein Schwimmbad!�
Das Becken, drau�en im Garten hinter der Villa, war mit Schutzfolie aus Plastik abgedeckt, auf der totes Laub lag. Soja steckte einen Finger ins Wasser unter der Plane. �Es ist kalt.�
Die Heizung war abgestellt, die Teakholzst�hle waren in einer Ecke zusammengestapelt. Ein nur noch halb aufgeblasener grell�bunter Strandball wurde sanft vom Wind hin und her gerollt.
Das einst luxuri�se Haus wirkte ungepflegt. Die K�che war, seit R�kosi nach der Geheimen Rede Ungarn unfreiwillig ver�lassen hatte und im sowjetischen Exil lebte, nicht mehr benutzt worden, und alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Dennoch war sie nach neuestem technischen Standard ausger�s�tet, die Ger�te stammten aus dem Ausland. In den Schr�nken t�rmten sich Kristall und feinstes Porzellan. Es gab noch unge��ffnete Flaschen franz�sischen Weins.
Vor dem K�hlschrank trafen Soja und Leo zuf�llig zusam�men. Seit seiner Gefangennahme war er ihr noch nicht so nahe gekommen. Seite an Seite versuchten sie, die mittlerweile mit Schimmel �berzogenen Lebensmittel zu identifizieren.
�Soja ...�, begann Leo.
Bevor er weiterreden konnte, rief Frajera: �Soja!�
Soja gehorchte der Stimme ihrer Herrin und rannte davon.
Leo folgte ihr und betrat das Wohnzimmer. Dort stand er unversehens Stalin gegen�ber. Von einem riesigen �lgem�lde an der Wand starrte der Diktator hinab und beobachtete sei�ne Untergebenen. Frajera zog ein Messer und hielt es Soja hin. �Diesmal gibt es niemanden, der dich denunzieren wird.�
Mit dem Messer in der Hand stieg Soja auf einen Stuhl. Ihre Augen waren jetzt in H�he von Stalins Hals, in idealer H�he also, um sein Gesicht zu verst�mmeln. Doch Soja unternahm nichts.
�Stich ihm die Augen aus!�, rief Frajera. Mach ihn blind! Rasier ihm den Schnurrbart ab!�
Soja stieg wieder herunter und gab Frajera das Messer zu�r�ck. �Ich habe ... keine Lust.�
Frajeras Euphorie verwandelte sich in Zorn. �Du hast keine Lust? So einfach verfliegt Wut nicht. Die Wut ist nicht wankel�m�tig. Die Wut ist wie die Liebe, nicht etwas, was man in einem Moment sp�rt und im n�chsten nicht mehr. Die Wut bleibt im�mer in einem. Er hat deine Eltern ermordet.�
Aufgebracht erwiderte Soja: �Ich will aber nicht st�ndig nur daran denken!�
Frajera schlug Soja ins Gesicht. Leo sprang vor. Frajera hob ihre Pistole und richtete sie auf Leos Brust, sprach dabei aber weiter mit Soja. �Du vergisst deine Eltern? Geht das so einfach? Was ist denn pl�tzlich mit dir los? Nur, weil Malysch dich gek�sst hat? Ist es das?�
Frajera trat zu Malysch, riss ihn an sich und k�sste ihn. Er wehrte sich, aber sie lie� nicht los. Als sie fertig war, riss sie den Kopf weg. �Nicht schlecht. Aber w�tend bin ich immer noch.�
Sie schoss Stalin zwischen die Augen, wieder und wieder, bis sie ihr ganzes Magazin auf das �lgem�lde geleert hatte. Bei je�dem Schuss erzitterte die Leinwand. Irgendwann waren alle Ku�geln verschossen, und der Abzugshahn schlug nur noch klickend gegen das leere Patronenlager. Frajera warf Stalin die Pistole ins Gesicht, sie prallte zur�ck und fiel klackernd zu Boden. Da erst wischte Frajera sich �ber die Stirn und fing an zu lachen. �Zeit f�rs Bettchen.�
Anz�glich grinsend schob sie Soja und Malysch aufeinander zu.
* * *
Erschrocken fuhr Leo hoch. Einer der wory hatte ihn geweckt. �Wir brechen auf.�
Ohne jede Erkl�rung wurden Leo, Raisa und Karoly hochgezerrt. Man hatte sie in ein marmornes Badezimmer gesperrt, wo sie sich aus Handt�chern ein Lager hergerichtet hatten, doch mehr als zwei Stunden konnten sie unm�glich geschlafen haben. Frajera stand drau�en am Tor, Soja neben ihr. Alle waren er�sch�pft, alle au�er Frajera, die vor chemischer Energie geradezu spr�hte. Sie deutete hinunter ins Stadtzentrum.
�Es hei�t, sie haben die verschwundenen AVH-Agenten ge�funden. Sie hatten sich die ganze Zeit in der kommunistischen Parteizentrale versteckt.�
Von einem Moment zum n�chsten ver�nderte sich Karolys Gesichtsausdruck. Seine Ersch�pfung war wie weggeblasen.
Sie brauchten �ber eine Stunde, um vom Berg hinabzusteigen, den Fluss zu �berqueren und zum Platz der Republik zu gelan�gen, wo sich die Parteizentrale der Kommunisten befand. Man h�rte Sch�sse und sah Rauch.
Die Zentrale wurde belagert. Panzer, die in die H�nde der Aufst�ndischen gelangt waren, beschossen die Au�enmauern. Zwei Lastwagen brannten. Die Fenster waren zersprungen, und gro�e Brocken Beton prasselten zu Boden.
Frajera lief �ber den Platz und suchte Deckung hinter einer Statue. Von den D�chern wurde geschossen, Kugeln pfiffen ihnen �ber die K�pfe. Das Kreuzfeuer hinderte sie am Weiter�kommen. Urpl�tzlich h�rten die Sch�sse auf. Ein Mann mit einer improvisierten wei�en Fahne trat aus der Parteizentrale und flehte um sein Leben. Er wurde erschossen. Noch w�hrend er zusammenbrach, preschte die erste Reihe der Aufst�ndischen vor und st�rmte das Geb�ude.
Frajera nutzte die Feuerpause und f�hrte ihre Gruppe �ber den Platz. Am Eingang versammelte sich neben den schwelenden Lastwagen gerade eine Traube von Rebellen. Frajera schloss sich ihnen an, Leo und die anderen folgten ihr. Unter einem der Last�wagen lagen die verkohlten Leichen von Soldaten. Die Menge wartete darauf, dass ihr die gefangen genommenen AVH-Agenten ausgeliefert wurden. Leo bemerkte, dass nicht alle hier drau�en K�mpfer waren. Fotografen und ausl�ndische Presseleute hatten sich daruntergemischt, um ihre H�lse baumelten Kameras. Leo wandte sich zu Karoly um. Eben noch hatte in dessen Gesicht die Hoffnung gestanden, dass er wom�glich seinen Sohn wiederfin�den w�rde, doch jetzt war darin nur noch Grauen zu lesen und der Wunsch, dass sein Sohn m�glichst weit weg von hier sein m�ge.
Der erste AVH-Beamte wurde herausgezerrt, es war ein junger Mann. Kaum hatte er die H�nde erhoben, wurde er erschossen. Der zweite wurde herausgezogen. Leo verstand nicht, was er sagte, aber es war offensichtlich, dass er um sein Leben flehte. Mitten in seinem Redeschwall wurde auch er erschossen. Ein dritter kam herausgelaufen. Als er seine toten Freunde am Boden liegen sah, versuchte er wieder ins Geb�ude zur�ckzugelangen. Leo sah, dass Karoly einen Schritt nach vorn machte. Dieser junge Mann war sein Sohn.
W�tend, dass der Mann versuchte, der Gerechtigkeit zu ent�fliehen, packten die Rebellen den Agenten und schlugen auf ihn ein, w�hrend er sich noch an die T�r klammerte. Karoly riss sich von Leo los, dr�ngte sich durch die K�mpfer nach vorn und legte sch�tzend die Arme um seinen Sohn. �berrascht �ber dieses Wiedersehen fing der junge Mann an zu weinen, irgendwie schien er zu hoffen, sein Vater w�rde ihn besch�tzen k�nnen. Karoly schrie die Menge an. Vater und Sohn blieben nur wenige Sekunden vereint, dann wurde Karoly weggezerrt und zu Boden gedr�ckt. Er musste mitansehen, wie man seinem Sohn die Uniform vom Leib riss. Die Kn�pfe sprangen ab, das Hemd ging in Fetzen. Sie drehten den jungen Mann kopf�ber und banden ihm ein Seil um die Fu�gelenke, dann schleiften sie ihn zu einem der B�ume auf dem Platz.
Leo wandte sich an Frajera und wollte um das Leben des Jun�gen bitten, doch da sah er, dass Soja schon an ihrem Arm zerrte.
�Halt sie auf! Bitte!�
Frajera beugte sich zu ihr hinab wie eine Mutter, die einem Kind die Welt erkl�rt. �Siehst du. Das ist Wut.�
Mit diesen Worten holte Frajera ihre Kamera hervor.
Karoly riss sich los und taumelte kraftlos hinter seinem Sohn her. Er weinte, als er sah, wie man ihn aufkn�pfte, wie er kopf��ber, aber immer noch lebend vom Baum hing, mit hochrotem Kopf und hervortretenden Adern. Karoly umklammerte seinen Sohn und hob ihn hoch, doch sofort wurde ihm ein Gewehrkol�ben ins Gesicht geschlagen. Er kippte nach hinten. Sein Sohn wurde mit Benzin �bergossen.
Blitzschnell trat Leo an einen der wory heran, der von der bevorstehenden Hinrichtung abgelenkt war. Mit einem Schlag gegen den Hals raubte er ihm die Luft und nahm ihm das Ge�wehr ab. Dann st�tzte er sich auf einem Knie ab und zielte durch die Menge. Er hatte nur eine Chance, nur einen Schuss. Das Benzin wurde angez�ndet. Der Sohn fing an zu brennen, schrei�end wand er sich hin und her. Leo kniff ein Auge zu und wartete auf eine L�cke in der Menge. Dann schoss er. Die Kugel traf den jungen Mann in den Kopf. Er brannte noch, doch sein K�rper hing jetzt schlaff herunter. Die Aufst�ndischen wirbelten herum und starrten Leo an.
Frajera hatte bereits ihre Waffe auf ihn gerichtet. �Runter damit!�
Leo lie� das Gewehr fallen.
Karoly stand auf und umklammerte den Leichnam seines Sohnes. Er versuchte die Flammen zu ersticken, so als k�nne ihn das noch retten. Auch er selbst brannte mittlerweile, die Haut an seinen H�nden wurde krebsrot und warf Blasen. Aber Ka�roly schien es l�ngst nicht mehr wahrzunehmen, er hielt weiter seinen Sohn umklammert, w�hrend seine Kleider Feuer fingen. Die K�mpfer sahen zu, wie der Mann trauerte und brannte, und ihr rasender Hass verschwand.
Leo wollte schreien, dass sie halfen, dass sie irgendetwas un�ternahmen. Schlie�lich hob ein Mann mittleren Alters seine Waf�fe und schoss Karoly in den Hinterkopf. Unter seinem Sohn fiel er ins Feuer. Noch w�hrend sie zusammen verbrannten, machten sich viele aus der Menge davon.
Am selben Tag
Sie waren wieder in der Wohnung. Zwischen den verkaterten wory und den ausgelassenen ungarischen Studenten versuchte Malysch ein ruhiges Pl�tzchen zu finden. Er zog sich in die K��che zur�ck und machte unter dem Tisch ein Lager. Dann ergriff er Sojas H�nde. Wie jemand, den man aus dem eiskalten Meer gerettet hatte, konnte sie einfach nicht aufh�ren zu zittern. Als Frajera die K�che betrat, sp�rte Malysch, wie Soja erstarrte, so als sei ein Raubtier in der N�he. In einer Hand hielt Frajera ihre Waffe, in der anderen eine Flasche Champagner. Sie hockte sich hin. Ihre Augen waren blutunterlaufen, die Lippen aufge�sprungen.
�Auf einem der Pl�tze gibt es heute Abend ein Fest. Da kom�men Tausende von Leuten. Die Bauern aus der Umgebung stiften das Essen. Ganze Schweine werden gebraten.�
�Soja geht es nicht gut�, antwortete Malysch.
Frajera streckte die Hand aus und bef�hlte Sojas Stirn. �Da gibt es keine Polizei, keinen Staat, nur die B�rger eines freien Landes, und keiner muss mehr Angst haben. Wir m�ssen dabei sein, und zwar alle.�
Sobald Frajera den Raum verlassen hatte, fing Soja, die sich w�hrend der Unterredung zusammengerissen hatte, wieder an zu zittern. In den auf den Stra�en liegenden Soldatenleichen, �ber die man Kalk gesch�ttet hatte, sah man statt dem Men�schen nur noch die Uniform, das Symbol der Besatzer. Jeder, ob tot oder lebendig, war f�r irgendetwas ein Symbol. Die toten Ungarn, auf deren Gr�ber man Blumen gelegt hatte, waren die Symbole des gerechten Widerstandes. Karoly jedoch war vor allen Dingen ein Vater gewesen, und der Beamte, den man auf�geh�ngt hatte, sein Sohn.
�Heute Nacht laufen wir weg�, fl�sterte Malysch Soja zu.
�Ich wei� noch nicht, wohin. Aber wir schlagen uns schon durch. Im Durchschlagen bin ich gut. Es ist das Einzige, was ich gut kann, au�er vielleicht t�ten.�
Soja dachte einen Moment lang nach, dann fragte sie: �Und Frajera?�
�Wir d�rfen es ihr nicht sagen. Wir warten, bis alle beim Fest sind, dann hauen wir ab. Was h�ltst du davon? Kommst du mit?�
* * *
Im Halbschlaf d�mmerte Soja vor sich hin. In ihren Tr�umen stellte sie sich vor, wo sie leben w�rden. Irgendwo weit weg, auf einem abgelegenen Bauernhof mitten im Wald, in einem freien Land. Viel Land w�rden sie nicht besitzen, gerade genug, um sich davon zu ern�hren. Es gab auch einen Fluss, nicht zu breit, nicht zu schnell und nicht zu tief. Darin schwammen sie, oder sie angelten. Soja �ffnete die Augen. Die Wohnung lag im Dun�keln. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, und sah Malysch an. Er legte einen Finger an die Lippen. Sie bemerkte, dass er ein B�ndel geschn�rt hatte, in dem vermutlich Kleidung, Verpflegung und Geld waren. Offenbar hatte er, w�hrend sie schlief, alles vorbereitet. Sie verlie�en die K�che, im gr��ten Zimmer nebenan trafen sie auf niemanden. Alle waren beim Fest. Sie eilten aus der Wohnung, die Treppe hinunter und auf den Hof. Da blieb Soja stehen. Leo und Raisa fielen ihr ein, die in der Wohnung unter dem Dach eingeschlossen waren.
Aus dem dunklen Flur h�rte man eine Stimme. �Sie werden bestimmt ger�hrt sein, wenn ich ihnen erz�hle, dass du noch einmal gez�gert und an sie gedacht hast, bevor du abgehauen bist.�
Aus dem Schatten trat Frajera.
�Wir wollen zum Fest�, log Soja schlagfertig.
�Und was ist in dem B�ndel da?� Frajera sch�ttelte den Kopf.
Malysch trat vor. �Du brauchst uns nicht mehr.�
Und Soja f�gte hinzu: �Du redest doch die ganze Zeit von Freiheit. Dann lass uns auch gehen.�
Frajera nickte. �Freiheit muss man sich aber erk�mpfen. Die�se Chance gebe ich euch. Sobald Blut flie�t, lasse ich euch beide gehen. Ein einziger Schnitt reicht, ein Pieks, nur ein Tr�pfchen Blut.�
Malysch blieb unsicher stehen.
Frajera kam n�her. �Ohne Messer wirst du mich kaum ver�letzen k�nnen.�
Malysch zog sein Messer und schob gleichzeitig Soja hinter sich. Frajera kam noch n�her. Sie war unbewaffnet. Malysch duckte sich angriffsbereit.
�Malysch, ich dachte, du h�ttest es begriffen. Beziehungen machen einen schwach. Schau doch mal, wie nerv�s du bist. Und warum? Weil es um zu viel geht. Ihr Leben, dein Leben, euer Traum vom gemeinsamen Leben ... das macht dir Angst. Es macht dich verwundbar.�
Malysch griff an. Mit einem Ausfallschritt wich Frajera der Klinge aus, packte sein Handgelenk und schlug ihm ins Gesicht. Er ging zu Boden.
Sie stand �ber ihm, nun hatte sie sein Messer in der Hand. �Du bist eine gro�e Entt�uschung f�r mich.�
* * *
Leo drehte den Kopf zur T�r. Malysch kam als Erster herein, gefolgt von Soja, der ein Messer an den Hals gedr�ckt wurde. Frajera lie� die Klinge sinken und stie� Soja hinein. �Freut euch nicht zu fr�h. Ich habe sie erwischt, als sie gemeinsam abhauen wollten. Es schien ihnen nichts auszumachen, euch zur�ckzulas�sen, ohne auch nur auf Wiedersehen zu sagen.�
Raisa machte einen Schritt vor. �Sie k�nnen sagen, was Sie wollen, es wird nichts daran �ndern, wie wir zu Soja stehen.�
Mit gespieltem Ernst gab Frajera zur�ck: �Da scheint sogar etwas dran zu sein. Soja kann anstellen, was sie will. Sie kann mit einem Messer vor eurem Bett stehen, weglaufen, sich tot stel�len - trotzdem glaubt ihr immer noch, dass sie euch eines Tages m�glicherweise doch lieben k�nnte. Das ist ja beinahe schon Gef�hlsfanatismus. Du hast recht, da kann ich nat�rlich reden, so viel ich will. Aber eines kann ich dir vielleicht trotzdem sagen, und danach wirst du zumindest zu Malysch anders stehen.�
Frajera legte eine Kunstpause ein. �Er ist dein Sohn, Raisa.�
Am selben Tag
Leo wartete darauf, dass Raisa diesen absurden Gedanken von sich wies. W�hrend des Gro�en Vaterl�ndischen Krieges hatte sie ein Kind bekommen, aber das war wenig sp�ter gestorben. Einen Sohn gab es nicht, und schon gar nicht war dieser Sohn Malysch.
Schlie�lich sprach Raisa, doch sie klang kleinlaut. �Mein Sohn ist tot.�
Mit selbstgef�lligem Grinsen wandte sich Frajera an Leo und wies mit dem Messer auf Raisa. �Ihr Sohn lebt. Wie du ja wei�t, wurde er im Krieg gezeugt, das Ergebnis einer Belohnung f�r die Soldaten, bei der die sich jede nehmen konnten, die ihnen gefiel. Sie haben Raisa hergenommen, immer wieder. Dabei ist ein Bastard der Sowjetarmee herausgekommen.�
Raisa antwortete kraftlos, doch ihre Stimme war fest und ruhig. �Mir war es egal, wer der Vater war. Es war mein Kind, nicht seins. Ich hatte mir geschworen, es zu lieben, auch wenn es auf abscheuliche Weise zustande gekommen war.�
�Allerdings hast du den Jungen dann trotzdem im Stich gelas�sen und ins Waisenhaus gegeben.�
�Ich war krank und hatte keine Bleibe. Ich hatte gar nichts, noch nicht einmal etwas zu essen.�
Raisa hatte Malysch nicht angeschaut. Frajera sch�ttelte angewidert den Kopf. �Nie im Leben h�tte ich mein Kind auf�gegeben, egal, wie schwierig die Umst�nde gewesen w�ren. Mir mussten sie meinen Sohn im Schlaf rauben.�
Raisa war vollkommen kraftlos, sie konnte sich nicht mehr wehren. �Ich schwor mir, zu ihm zur�ckzukehren. Sobald es mir besser ging, sobald der Krieg vorbei war und ich eine Bleibe hatte.�
�Aber als du dann ins Waisenhaus zur�ckgekehrt bist, haben sie dir erz�hlt, dein Sohn sei gestorben. Und du dumme Gans hast ihnen das geglaubt. An Typhus, haben sie gesagt, oder?�
�Ja.�
�Da ich selbst einige Erfahrung mit den L�gen habe, die einem in Waisenh�usern aufgetischt werden, habe ich deine Geschichte �berpr�ft. Tats�chlich wurden damals viele Kinder vom Typhus dahingerafft. Eine Menge haben aber auch �berlebt, weil sie Rei�aus genommen haben. Und oft verdingen sich Kinder, die aus Waisenh�usern weglaufen, als Taschendiebe in Bahnh�fen.�
Malysch, dessen Vergangenheit hier mit jedem Wort neu er�z�hlt wurde, meldete sich zum ersten Mal selbst zu Wort. �Wie damals, als ich dir im Bahnhof Geld gestohlen habe?�
Frajera nickte. �Ich hatte dich schon l�nger im Auge. Du solltest aber glauben, wir tr�fen uns nur zuf�llig. Schon damals hatte ich vor, dich bei meiner Rache an der Frau einzusetzen, die sich in einen Mann verliebt hatte, den ich hasste. Aber dann bist du mir ans Herz gewachsen, und bald schon sah ich in dir einen Sohn. Also habe ich meine Pl�ne ge�ndert. Ich wollte dich wie ein eigenes Kind bei mir behalten. Und mit Soja ist es mir genauso gegangen, auch sie habe ich lieb gewonnen und wollte sie bei mir behalten. Heute habt ihr beide diese Liebe mit F��en getreten. Auf die kleinste Provokation hin hast du ein Messer ge�gen mich gezogen. Und soll ich dir etwas sagen? Wenn du gesagt h�ttest, das mache ich nicht, h�tte ich euch beide ziehen lassen.�
Frajera wandte sich zur T�r. Dort blieb sie noch einmal ste�hen und blickte sich zu Leo um. �Du hast dir doch immer eine Familie gew�nscht, Leo. Jetzt hast du eine. Viel Spa� damit. Sie ist eine grausamere Rache als alles, was ich mir h�tte ausdenken k�nnen.�
Am selben Tag
Raisa wandte ihr Gesicht den anderen zu. Vor ihr stand Ma�lysch, die Brust und die Arme �bers�t mit T�towierungen. Sein Ausdruck verriet abwartende Wachsamkeit, er hatte sich gegen Ablehnung und Gleichg�ltigkeit gewappnet.
Als Erste sagte Soja etwas. �Es spielt keine Rolle, ob er dein Sohn ist. Denn eigentlich ist er es nicht, nicht richtig jedenfalls, nicht mehr. Du hast ihn weggegeben, und das hei�t, du bist nicht mehr seine Mutter. Und damit ist alles gesagt. Wir sind keine Familie.�
Malysch ber�hrte Raisas Arm. Soja fasste das als Vorwurf auf. �Sie ist nicht deine Mutter, begreif das doch!�
Soja war den Tr�nen nahe. �Wir k�nnen immer noch flie�hen.�
Malysch nickte. �Es ist alles beim Alten.�
�Versprochen?�
�Versprochen.�
Malysch machte einen Schritt auf Raisa zu, den Blick gesenkt. �Ist mir sowieso egal. Ich will es nur wissen.�
Seine Frage kam schroff, wie die eines Kindes, das seine Ver�letzlichkeit verbergen will. Er wartete Raisas Antwort gar nicht erst ab, sondern f�gte hinzu: �Im Waisenhaus wurde ich Felix genannt. Aber den Namen haben sie mir im Waisenhaus gege�ben. Sie haben allen neue Namen gegeben, Namen, die sie sich merken konnten. Wie ich wirklich hei�e, wei� ich nicht.�
Malysch z�hlte an seinen Fingern ab. �Ich bin jetzt vierzehn. Vielleicht auch erst dreizehn. Wann genau ich geboren wurde, wei� ich nicht. Also, bin ich jetzt dein Sohn oder nicht?�
�Kannst du dich noch an irgendwas aus deinem Waisenhaus erinnern?�, fragte Raisa.
�Im Hof stand ein Baum. In dem haben wir oft gespielt. Das Waisenhaus lag in der N�he von Leningrad, aber nicht in einer Stadt, sondern auf dem Land. War es da? Mit dem Baum im Hof? Hast du da deinen Sohn hingebracht?�
�Ja�, sagte Raisa.
Sie trat n�her an Malysch heran. �Was haben sie dir im Wai�senhaus �ber deine Eltern erz�hlt?�
�Nur, dass sie tot sind. F�r mich warst du immer tot.�
Wie um das Thema abzuschlie�en, f�gte Soja hinzu: �Damit ist wohl alles gesagt.�
Soja zog Malysch in die entlegenste Ecke und dr�ckte ihn auf einen Stuhl. Raisa und Leo blieben am Fenster stehen. Leo drang nicht mit Fragen auf Raisa ein, er lie� ihr Zeit.
Schlie�lich wandte sie ihr Gesicht ab, sodass Malysch es nicht sehen konnte, und fl�sterte ihm zu: �Leo, ich habe mein Kind im Stich gelassen. Das ist die gr��te Schande meines Lebens. Ich habe es dir nie erz�hlt. Ich wollte nie wieder dar�ber reden. Tat�s�chlich aber vergeht kaum ein Tag, ohne dass ich daran denke.�
Leo z�gerte. �Ist Malysch ...?�
Raisa sprach noch leiser weiter. �Was Frajera gesagt hat, stimmt zum Teil. Es gab tats�chlich eine Typhus-Epidemie. Viele Kinder sind gestorben. Aber mein Sohn war, als ich zur�ckge�kehrt bin, noch am Leben. Er lag allerdings im Sterben und hat mich gar nicht mehr erkannt. Ich bin bei ihm geblieben, bis er tot war. Dann habe ich ihn selbst begraben. Malysch ist nicht mein Sohn, Leo.�
In Gedanken versunken verschr�nkte Raisa die Arme. Dann versuchte sie sich zusammenzureimen, was passiert sein mochte: �Frajera ist wahrscheinlich 1953 oder 1954 nach ihrer Freilas�sung zur�ckgekommen und hat nach meinem Sohn gesucht. Die Unterlagen m�ssen das reine Chaos gewesen sein, unm�glich, dass sie die Wahrheit �ber meinen Sohn herausgefunden hat. Sie konnte nicht wissen, dass ich bei seinem Tod dabei war. Frajera hat sich einfach jemanden gesucht, der ungef�hr in seinem Alter war. Vielleicht hat sie tats�chlich vorgehabt, ihn gegen mich zu benutzen, und hat es dann gelassen, weil sie sich in Malysch vernarrt hat. Vielleicht wusste sie aber auch nur nicht, ob ich ihr diese L�ge abkaufen w�rde.�
�Es k�nnte auch einfach nur ihr verzweifelter Versuch sein, uns noch einmal wehzutun.�
�Und was ist mit ihm?�
Leo dachte nach. �Warum sagen wir ihm nicht die Wahrheit? Mit ihm spielt Frajera doch auch nur.�
�Aber wie h�rt sich die Wahrheit in seinen Ohren an? Viel�leicht glaubt er sie einfach nicht. Vielleicht denkt er, dass ich ihn nur nicht haben will und irgendwelche Geschichten erfinde, warum er auf keinen Fall mein Sohn sein kann. Leo, wenn er will, dass ich ihn liebe, wenn er eine Mutter sucht...�
Mit ihrer seltenen Gabe, andere zu manipulieren, trug Frajera genau in diesem Augenblick zwar nur einen einzigen, daf�r aber gro�en Teller mit hei�em Eintopf herein. Es blieb ihnen keine Wahl, als sich im Schneidersitz zusammenzuhocken und ge�meinsam zu essen. Soja sperrte sich zun�chst und hielt sich ab�seits von den anderen. Doch das Essen wurde kalt, und da seine W�rme ohnehin das einzige Gute an ihm war, kam sie schlie߭lich herbei und a� mit den anderen. Mit klappernden Gabeln pieksten alle Gem�se und Fleisch heraus.
�Soja hat erz�hlt, dass du Lehrerin bist�, meldete sich Ma�lysch.
Raisa nickte. �Das stimmt.�
�Ich kann nicht lesen und nicht schreiben. W�rde ich aber gern.�
�Wenn du willst, helfe ich dir.�
Soja sch�ttelte den Kopf. Ohne Raisa eines Blickes zu w�r�digen, wandte sie sich an Malysch. �Das kann ich dir doch bei�bringen. Du brauchst sie nicht.�
Der Teller war beinahe leer. Bald w�rden sie wieder auseinan�dergehen und jeder sich in seine Ecke des Raumes zur�ckziehen.
Leo packte die Gelegenheit beim Schopf. �Elena braucht dich.�
Soja h�rte auf zu essen, antwortete aber nichts.
Leo fuhr fort. �Ich will dich nicht aufregen. Aber Elena liebt dich. Sie will, dass du wieder nach Hause kommst.�
Mehr sagte er nicht, auch wenn es tats�chlich viel schlimmer war.
Soja lie� ihre Gabel fallen und stand auf. Sie blieb noch einen Moment abgewandt stehen, dann legte sie sich auf das Lager in der Ecke und drehte den anderen ihren R�cken zu. Malysch setzte sich zu ihr und legte ihr den Arm um die Schulter.
Fr�stelnd erwachte Leo. Es war fr�her Morgen. Er und Raisa hatten sich in einer Zimmerecke aneinandergeschmiegt, abseits von Malysch und Soja, die in einer anderen lagen. Frajera war den ganzen vorigen Tag unterwegs gewesen, einer der unga�rischen Aufst�ndischen hatte ihnen etwas zu essen gebracht. Leo merkte, dass sich etwas ge�ndert hatte: In der ganzen Wohnung herrschte gedr�ckte Stimmung. Das Feiern und trunkene Hur�rageschrei waren vorbei.
Er stand auf, trat an das kleine Fenster und wischte das Kon�denswasser ab. Drau�en fiel Schnee. Eigentlich das perfekte Bild einer friedvollen Stadt, ganz wei� und ruhig - und trotzdem wurde Leo die Unruhe nicht los. Er sah keine Kinder spielen, keine Schneeballschlachten. Es war der erste Schnee in einer befreiten Stadt, und doch gab es kein Zeichen von Erregtheit oder gar Begeisterung. Keine Menschenseele lie� sich auf den Stra�en blicken.
4. November
Irgendwo �ber der Wohnung kam aus dem Himmel ein ent�ferntes Heulen, das aber bald zu einem lauten Donnern an�wuchs. Ein D�senflugzeug war �ber sie hinweggeflogen. Trotz der Dunkelheit im Zimmer wachte Raisa sofort auf und fragte: �Was ist los?�
Noch bevor Leo antworten konnte, waren fast gleichzei�tig �berall in der Stadt Explosionen zu h�ren. Im Nu waren Malysch und Soja auf den Beinen, sprangen an Leos Seite und sp�hten aus dem Fenster.
�Sie sind wieder da�, erkl�rte Leo.
In den angrenzenden Zimmern herrschte Panik. Auf dem Dach war Getrappel zu h�ren, als die vollkommen �berraschten Aufst�ndischen ihre Posten besetzten. Auf der Stra�e konnte Leo einen Panzer sehen. Sein Kanonenrohr schwenkte hierhin und dorthin, bis es schlie�lich die Heckensch�tzen auf dem Dach ins Visier nahm.
�Deckung!�, Leo scheuchte die anderen in die entlegenste Zimmerecke. Einen Moment lang war Totenstille, dann kam die Explosion. Alle wurden von den Beinen gerissen. Das Dach st�rzte ein, Holzbalken krachten herab, und die R�ckwand brach zusammen. Der kleine Teil, der von dem Raum noch �brig war, lag unter schr�g aufragenden Tr�mmern begraben. Hustend zog Leo sich das Hemd vors Gesicht, um nach den anderen sehen zu k�nnen.
Raisa umklammerte einen zerbrochenen Balken und rammte ihn gegen die T�r. Leo half ihr, gemeinsam versuchten sie, die T�r aufzubrechen.
�Hier lang!�, rief Malysch.
Am Fu� der Innenwand war ein breiter Riss entstanden. Flach auf den Bauch gedr�ckt und jede Sekunde in Gefahr, dass das Dach endg�ltig einst�rzte, krochen sie wie durch einen Tunnel aus den Tr�mmern und in den Flur. Es gab keine Wachen und auch keine wory. Die Wohnung war leer. Als sie die Balkon�t�r zum Hof �ffneten, sahen sie, wie die Bewohner des Hauses fluchtartig ihre Wohnungen verlie�en. Viele dr�ngten sich un�schl�ssig zusammen, sie wussten nicht, ob sie sich auf die Stra��e wagen sollten oder es an Ort und Stelle nicht doch sicherer war.
Wie der Blitz rannte Malysch noch einmal zur�ck.
�Malysch!�, schrie Leo ihm hinterher.
Als er wieder auftauchte, hatte Malysch einen Patroneng�rtel, Handgranaten und eine Pistole dabei. Kopfsch�ttelnd versuchte Raisa ihn zu entwaffnen. �Sie werden dich t�ten.�
�Die t�ten uns sowieso.�
�Ich will nicht, dass du dieses Zeug mitnimmst.�
�Falls wir aus der Stadt rauskommen, werden wir die Sachen brauchen.�
Raisa sah zu Leo.
�Gib mir die Pistole�, sagte der.
Z�gernd reichte Malysch sie ihm. Eine Explosion ganz in der N�he machte dem Streit ein Ende. �Wir haben nicht mehr viel Zeit.�
Leo blickte hinauf in den dunklen Himmel. Als er das Dr�h�nen von Flugzeugmotoren h�rte, scheuchte er die anderen hek�tisch zur Treppe. Von den wory war weit und breit nichts zu sehen. Leo vermutete, dass sie entweder k�mpften oder geflohen waren. Am Fu� der Treppe angelangt, dr�ngten sie sich durch die ver�ngstigten Menschen in die Gasse hinein.
�Maxim!�
Leo drehte sich um und sah hinauf. Auf dem Dach stand Fra�jera, ein Maschinengewehr im Anschlag. Mitten im Hof sa�en sie in der Falle. Sie w�rden es nie bis zur Gasse schaffen, bevor Frajera sie niederm�hte.
�Es ist vorbei, Frajera!�, rief Leo ihr zu. �Diesen Kampf konntest du von Anfang an nicht gewinnen!�
�Ich habe ihn schon gewonnen, Maxim!�
�Schau dich doch mal um!�
�Nicht mit dem Gewehr! Hiermit!� Um ihren Hals hing eine Kamera.
�Panin wollte von Anfang an die geballte Kraft seiner Armee einsetzen. Und ich wollte das auch. Ich will, dass er diese Stadt in Schutt und Asche legt und keinen am Leben l�sst. Ich will, dass die ganze Welt sieht, was f�r ein Land wir in Wahrheit sind. Kei�ne Geheimnisse mehr! Kein Mensch wird je wieder an die guten Absichten unseres Vaterlandes glauben. Das ist meine Rache.�
�Lass uns gehen.�
�Du hast es immer noch nicht verstanden, Maxim. Ich h�tte dich schon hundertmal t�ten k�nnen. Aber wenn du am Leben bleibst, ist das eine gr��ere Strafe als der Tod. Geht zur�ck nach Moskau, alle vier. Mit einem Sohn, der wegen Mordes gesucht wird, und voll der Liebe f�r eine Tochter, die dich hasst. Versucht ruhig, eine Familie zu sein.�
Leo entfernte sich ein paar Schritte von den anderen. �Fraje�ra, was ich dir angetan habe, tut mir leid.�
�Ehrlich gesagt, Maxim ... bevor ich dich gehasst habe, war ich ein Nichts.�
Leo wandte sich zur Gasse um und rechnete jeden Moment damit, eine Kugel in den R�cken zu bekommen. Doch es fiel kein Schuss. Als er den Ausgang zur Stra�e erreicht hatte, blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. Frajera war ver�schwunden.
Am selben Tag
Die H�nde mit Tischdecken umwickelt, um sich vor den Glas�scherben zu sch�tzen, lag Leo flach auf dem Bauch in den Tr�m�mern eines verlassenen Cafes und wartete darauf, dass die Panzer vorbeifuhren. Vorsichtig hob er den Kopf und sp�hte durch das zerst�rte Fenster. Insgesamt waren es drei Panzer, die ihre T�rme hin- und herschwenkten und die Geb�ude kontrollierten, auf der Suche nach feindlichen Zielen. Mittlerweile setzte die Rote Armee nicht mehr auf kleine Verb�nde mit den schwerf�lligen und ver�wundbaren T-34-Panzern, sondern auf die gr��eren und schwer bewaffneten T-54. Nach allem zu urteilen, was Leo bislang be�obachtet hatte, schienen die Sowjets eine neue Strategie zu ver�folgen. Sie griffen in Sto�trupps an und schlugen mit unverh�lt�nism��iger Wucht zur�ck. Auf einen einzigen gefallenen Schuss antworteten sie mit der Zerst�rung eines ganzen Geb�udes. Die Panzer fuhren erst weiter, wenn sie alles verw�stet hatten.
Weil sie sich an fast jeder Kreuzung hatten Deckung suchen m�ssen, hatten sie in zwei Stunden noch nicht einmal einen Kilo�meter geschafft. Jetzt brach schon der Morgen an, und ohne den Schutz der Dunkelheit w�rden sie sogar noch langsamer voran�kommen. Sie waren in einer Stadt eingeschlossen, die systematisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Auch wenn man in den H�usern blieb, war das mittlerweile keine Garantie mehr, dass einem nichts passierte. Die Panzer waren mit schweren Granaten ausger�stet, die drei Zimmer durchschlugen, bevor sie mitten in den Geb�uden detonierten und alles zum Einsturz brachten.
Angesichts einer solchen Demonstration milit�rischer St�r�ke fragte Leo sich unwillk�rlich, ob der erste Fehlversuch, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen, nicht vielleicht sogar Absicht gewesen war. Denn was hier passierte, stand nicht nur im krassen Gegensatz zu jeglicher Position moderaten Ein�greifens, es veranschaulichte auch gleichzeitig die Ineffizienz der �lteren Waffen, die sogar von einem Mob ausgeschaltet worden waren. Jetzt aber stellte man auf den Stra�en von Budapest das neueste Kriegsger�t vor wie in einem Propagandafilm des Mili�t�rs. Jeder, der das in Moskau zu sehen bekam, konnte nur eine Schussfolgerung ziehen: Alle Pl�ne, die konventionellen Streit�kr�fte abzubauen, waren falsch. Man musste nicht weniger, sondern mehr Geld in die Entwicklung neuer Waffen stecken. Die St�rke des gesamten Sowjetblocks hing davon ab.
Aus dem Augenwinkel registrierte Leo ein orangefarbenes Flackern, das sich deutlich von den grauen Steintr�mmern und dem tr�ben Morgenlicht abhob. Drei junge M�nner auf der anderen Stra�enseite z�ndeten ihre Molotowcocktails an. Wild mit den Armen wedelnd, versuchte Leo, auf sich aufmerksam zu machen. Mit Benzinbomben w�rden sie nichts ausrichten k�nnen, weil, anders als beim T-34, die Motork�hlung des T-54 nicht mehr der Schwachpunkt war. Die da dr�ben k�mpften hier gegen eine vollkommen andere Waffengeneration, gegen die ihre primitive Ausr�stung wirkungslos war.
Die drei M�nner sprangen auf und rannten auf den letzten Panzer zu. Sie warfen ihre selbstgebastelten Bomben, die alle perfekt trafen und das Heck des T-54 brennendem Benzin �berzogen. Flammen schossen hoch. W�hrend sie sich davon�machten, blickten sie �ber die Schulter und warteten auf die Ex�plosion, die jedoch mit Sicherheit ausbleiben w�rde. Das Feuer mochte zwar lodern, doch anhaben konnte es dem Panzer nichts. Die M�nner rannten schneller und suchten nach Deckung. Leo duckte sich. Der Panzer wendete und feuerte. Das ganze Cafe erzitterte, und die letzten Glasscherben im Fenster prasselten zu Boden. Durch das Loch quollen Staub und Qualm herein. Im Schutz der Wolke zog sich Leo hustend zur�ck und kroch �ber das zerbrochene Geschirr auf die K�che zu, wo Raisa, Soja und Malysch hinter den eisernen �fen hockten.
�Die Stra�en sind unpassierbar.�
Malysch deutete auf das Dach. �Was ist mit den D�chern? �ber die k�nnten wir kriechen.�
Leo dachte nach. �Aber wenn sie uns sehen oder h�ren, wer�den sie auf jeden Fall feuern. Und von da oben kann man viel schlechter fliehen. Da s��en wir in der Falle.�
�Hier unten erst recht�, warf Raisa ein.
Auf dem obersten Treppenabsatz gab es zwei Fenster. Eines wies zur Hauptstra�e hinaus, das andere auf eine kleine Gasse an der R�ckfront, die zu schmal f�r einen T-54 war - Leo �ffnete das Hinterfenstet und �berlegte, wie sie dort hochkommen soll�ten. Es gab keine Regenrinne und auch nichts, worauf man den Fu� setzen konnte, um leichter nach oben zu kommen.
Malysch stie� ihn an. �Lassen Sie mich mal sehen.�
Leo machte Malysch auf dem Fenstersims Platz. Der sch�tzte kurz die Entfernung ab, dann sprang er hoch und hielt sich an der Kante fest, seine Beine baumelten herab. Leo wollte ihm helfen, doch Malysch rief herunter: �Es geht schon.�
Er zog sich hoch, schwang erst den einen Fu� �ber die Kante, dann den anderen.
�Als N�chste ist Soja dran�, rief er.
Soja blickte hinunter. Es ging f�nfzehn Meter in die Tiefe.
�Warte.�
Raisa nahm die Tischdecken, die Leo sich um die H�nde ge�wickelt hatte, verknotete sie und band sie dann um Sojas Taille.
Soja passte das nicht. �Ich bin monatelang allein klargekom�men. �
�Deshalb w�re es auch furchtbar peinlich, wenn du ausge�rechnet jetzt sterben w�rdest�, gab Raisa zur�ck. Dann k�sste sie Soja auf die Stirn.
Soja schaffte es gerade noch, ein Grinsen zu unterdr�cken und daraus ein Stirnrunzeln zu machen.
Als sie auf dem Fenstersims stand, hob Leo sie hoch.
Sie klammerte sich an die Dachkante. �Du musst loslassen, damit ich mich hochschwingen kann!�
Z�gernd lie� Leo los und sah zu, wie sie ein Bein auf das Dach schwang. Im n�chsten Moment packte Malysch sie und zog sie hinauf. Die zusammengeknoteten Tischdecken spannten sich.
�Ich bin oben.�
Raisa lie� die Tischdecken los, und Soja zog das improvisierte Sicherungsseil nach. Dann war Raisa an der Reihe. Leo stieg als Letzter hoch.
Das Dach erhob sich zu einem schmalen Giebel, auf dem Ma�lysch und Soja hockten. Raisa war ein St�ck hinter ihnen. Als Leo zu ihnen kletterte, l�ste sich eine der Pfannen, schepperte das Dach hinunter und fiel �ber die Kante. Es dauerte einen Moment, bevor man sie auf die Gasse schlagen h�rte. Die vier hielten den Atem an und dr�ckten sich flach gegen das Dach. Wenn eine Dachpfanne auf die andere Seite abrutschte und auf die Hauptstra�e fiel, w�rde sie den patrouillierenden Panzern verraten, wo sie waren.
Leo blickte um sich. �berall in der Stadt stiegen m�chtige Rauchs�ulen auf. D�cher waren eingest�rzt, und wo einst H�u�ser gestanden hatten, klafften jetzt L�cken. MIG-Bomber schossen im Tiefflug �ber die Stadt, stie�en zum Angriff noch weiter hinab und nahmen ihre Ziele unter Beschuss. Hier oben auf dem Dach w�ren sie gut zu sehen.
�Wir m�ssen uns beeilen�, dr�ngte Leo.
Auf allen vieren krochen sie los, vorbei an den drohenden Gefahren auf der Stra�e. Endlich kamen sie wieder ein wenig voran.
Ein St�ck weiter vorn stand das letzte Haus. Sie hatten das Ende der Stra�enflucht erreicht.
Malysch erkl�rte: �Wir m�ssen runter, �ber die Stra�e und auf der anderen Seite wieder rauf.�
Die Dachpfannen fingen an zu scheppern. Leo lie� sich das Dach hinunter und sp�hte �ber den Rand. Direkt unter ihm fuhren vier Panzer vorbei. Einer nach dem anderen bog von der Hauptstra�e ab. Best�rzt beobachtete Leo, wie der vierte stehen blieb. Offenbar sollte er die Kreuzung �berwachen. Um den w�rden sie sich irgendwie herumschleichen m�ssen.
Leo wollte umkehren und den anderen die schlechte Nach�richt �berbringen, da nahm er in dem Wohnungsfenster direkt unter sich eine Bewegung wahr. So weit es ging, reckte er sich vor und sah, wie zwei Frauen aus dem obersten Fenster die neue ungarische Fahne h�ngten, aus der Hammer und Sichel herausgeschnitten waren. Der Panzer hatte die Widerst�ndler bemerkt. So schnell es ging, kroch Leo das Dach wieder hinauf und gestikulierte den anderen zu: �Sofort weg da!�
Sie krochen �ber den Dachfirst auf die der Stra�e abgewandte Seite.
Dann flog hinter ihnen das ganze Dach in die Luft. Tr�mmer regneten hinab. Durch die Druckwelle kamen alle Dachpfan�nen ins Rutschen. Malysch, der der Kante am n�chsten war, hatte pl�tzlich keinen festen Boden mehr unter den F��en und st�rzte mitsamt dem Dach ab. Soja warf ihm die Tischdecke zu, Malysch erwischte gerade noch einen Zipfel, bevor auch schon s�mtliche Dachpfannen wie eine Lawine abrutschten und ihn mitrissen.
Auch Soja wurde von Malysch mitgezogen. Verzweifelt ver�suchte sie sich irgendwo festzuhalten, fand aber nichts. Leo streckte die Hand aus, verfehlte sie, erwischte aber einen Tisch�deckenzipfel und schaffte es, den Fall der beiden aufzuhalten. Soja hing jetzt �ber der Dachkante, Malysch baumelte unter ihr. Wenn der Panzer Malysch entdeckte, w�rde er feuern, und sie w�ren alle tot. Leo versuchte die Tischdecke nach oben zu zerren.
Raisa reckte den Arm vor. �Nimm meine Hand!�
Sie umklammerte Malyschs Hand und zog ihn hoch, dann blieben die beiden nebeneinander liegen. Leo rollte sich bis zum Rand und sp�hte auf den Panzer unter ihnen. Das Rohr drehte sich in ihre Richtung. �Weg hier!�
Alle sprangen auf und kraxelten auf die andere Seite, wo die zerschossene Wohnung lag. Hinter ihnen schlug die Granate ein, genau an der Kante, an der Malysch abgerutscht war. Alle wur�den in die Luft geschleudert und kamen auf allen vieren wieder auf. Halb taub und hustend besahen sie sich die Zerst�rung vor und hinter ihnen: Zwei L�cher klafften in dem Geb�ude, so als ob ein riesiges Ungeheuer zweimal zugebissen h�tte.
Leo verschaffte sich einen �berblick �ber die unter ihnen liegende, ausgebombte Wohnung. Die erste Granate war weit oben eingeschlagen, hatte das Dach zum Einsturz gebracht und das oberste Stockwerk in das darunterliegende krachen lassen. �ber die zerborstenen Balken w�rden sie allerdings nach unten klettern k�nnen. Leo machte den Anfang und hoffte, dass die Besatzung des Panzers sie f�r tot hielt. Als er die eingest�rzte Decke erreichte, sah er darunter die staubbedeckte Hand der Frau herausragen, die die Fahne herausgeh�ngt hatte. Daf�r hatte Leo jetzt keine Zeit, er suchte nach einem Ausweg. Die Treppe befand sich im hinteren Teil des Geb�udes. Leo zog an den Resten einer T�r und versuchte sich Zutritt zu verschaffen, doch sie war von Tr�mmern blockiert.
Raisa befand sich auf der Vorderseite der zerst�rten Wohnung und sp�hte hinunter auf die Hauptstra�e. �Sie kommen hinten herum!�
Der Panzer kehrte zur�ck. Jetzt sa�en sie wirklich in der Fal�le. Nirgendwo konnten sie sich noch verstecken, nirgendwohin verschwinden.
Mit aller Kraft versuchte Leo, ins Treppenhaus zu gelangen, ihrem einzigen Fluchtweg. Soja und Raisa halfen ihm. Malysch war verschwunden. Offensichtlich war er irgendwie geflohen, hatte sich selbst in Sicherheit gebracht - er war und blieb eben ein Krimineller. Leo warf einen Blick �ber die Schulter. Der Panzer brachte sich direkt vor dem Geb�ude in Position f�r ei�nen dritten Schuss. Er w�rde so lange weiterfeuern, bis alles in Schutt und Asche lag. Und sie selbst waren in einer ausgebomb�ten Wohnung gefangen und kamen nicht auf die Treppe. Die einzige Chance, die ihnen noch blieb, war ein Sprung hinunter auf die Stra�e.
Leo riss Soja und Raisa an sich und rannte mit ihnen genau auf den Panzer zu. An der Hausecke blieb er stehen. Jetzt sah er, dass Malysch schon vor ihnen aus dem zerst�rten Geb�ude auf die Stra�e geklettert war und die Aufmerksamkeit des Panzers auf sich lenkte. Er hielt eine Handgranate umklammert.
Malysch zog den Sicherheitsbolzen und kletterte beh�nde von vorn auf den Panzer. Sofort fuhr das Rohr des Panzers gen Him�mel, damit Malysch nicht an die M�ndung kam. Doch Malysch war zu flink und zu geschickt. Mit den Beinen umklammerte er das Kanonenrohr und schob sich hoch. Die Luke ging auf. Einer von der Besatzung wollte Malysch erschie�en, bevor er die Handgranate ins Rohr fallen lassen konnte.
Leo zog seine Waffe und feuerte auf den auftauchenden Sol�daten. Die Kugeln prallten von der Panzerung ab, zwangen den Mann aber immerhin dazu, in Deckung zu gehen und die Luke wieder zu schlie�en. Malysch schaffte es bis zur M�ndung, ver�senkte die Handgranate und lie� sich auf die Stra�e fallen.
Im n�chsten Moment detonierte die Handgranate und kurz darauf die im Rohr steckende Granate, die eine erheblich st�r�kere Explosion ausl�ste und den Panzer von innen ersch�tterte. Malysch wurde von den Beinen und auf die Stra�e geschleudert. Aus dem Panzer quoll Rauch. Keiner kam mehr hervor.
Soja war inzwischen hinabgeklettert, rannte auf Malysch zu und half ihm auf. Sie strahlte. Nach ihr kletterte auch Leo hin�unter und rannte Soja hinterher.
�Wir m�ssen schleunigst von der Stra�e runter ...� Da erschien pl�tzlich mitten auf Malyschs Hemd ein blut�roter Fleck.
Leo lie� sich auf die Knie fallen, riss das Hemd auf und sah auf Malyschs Bauch einen daumenlangen Schnitt, eine klaffende Wunde. Er tastete den R�cken des Jungen ab, fand aber keine Austrittswunde.
Am selben Tag
Mit Malysch auf dem Arm, Raisa und Soja neben sich, rannte Leo in die Zweite Medizinische Klinik. Um das Krankenhaus zu erreichen, waren sie ohne Deckung die Stra�en entlangge�laufen und hatten dabei die patrouillierenden Panzer in Kauf nehmen m�ssen. Mehrmals waren die Kanonenrohre ihnen ge�folgt, aber keiner hatte gefeuert. Das Foyer der Klinik quoll �ber vor Verletzten. Einige st�tzten sich auf Freunde oder Familien�angeh�rige, andere lagen einfach nur auf der Erde. Die W�nde und der Boden waren blutbesudelt. Auf der Suche nach einer Schwester oder einem Arzt entdeckte Leo endlich einen vorbei�eilenden wei�en Kittel. Er dr�ngte sich durch die Menge. Der Arzt war umringt von Patienten, keinem konnte er mehr als nur ein paar Sekunden seiner Zeit opfern. Er untersuchte die Wun�den, bestimmte, wohin man sie zu bringen hatte, lie� aber nur die ernstesten F�lle ins Krankenhaus selbst hinein. Die anderen mussten in der Vorhalle bleiben.
Im Kreis der anderen wartete Leo auf das Urteil des Arztes. Endlich wandte der sich Malysch zu, betastete sein Gesicht und bef�hlte seine Stirn. Der Junge atmete nur noch flach, seine Haut war blass. Leo hatte Malyschs Hemd gegen die Wunde gepresst, mittlerweile war es blutdurchtr�nkt. Der Arzt nahm es weg und beugte sich vor. Seine Finger strichen �ber die klaffende Wunde und �ffneten sie - Blut trat aus. Der Arzt untersuchte den R�cken des Jungen und fand keine Austrittswunde. Zum ersten Mal sah er Leo an. Er sprach kein Wort, sch�ttelte nur kaum merklich den Kopf und hastete weiter.
Soja umklammerte Leos Arm. �Warum helfen sie ihm nicht?�
Leo war Soldat gewesen, er kannte solche Verletzungen. Das Blut war schwarz, und das bedeutete, dass das Schrapnell in Malyschs Leber eingedrungen war. Auf dem Schlachtfeld gab es in einem solchen Fall keine Hoffnung mehr, und hier in diesem Krankenhaus herrschten kaum bessere Bedingungen. Sie waren machtlos.
�Warum behandeln sie ihn nicht?�
Leo wusste nicht, was er sagen sollte.
Unsanft rempelte Soja sich durch die Menge, riss den Arzt am Arm und versuchte, ihn zu Malysch zur�ckzuzerren. Die anderen Leute in der Menge fingen an zu zetern, aber Soja lie� nicht nach, bis er sie schlie�lich zur�ckstie� und anbr�llte. Sie st�rzte zwischen die Beine der anderen Leute. Raisa half ihr auf die F��e.
�Warum helfen sie ihm nicht?� Soja fing an zu weinen und legte ihre H�nde auf Malyschs Gesicht.
Dann blickte sie zu Leo auf, ihre ger�teten Augen flehten ihn an. �Bitte, Leo, bitte! Ich will auch alles machen, was du willst. Ich will deine Tochter sein, will fr�hlich sein. Aber lass ihn nicht sterben.�
Malysch bewegte die Lippen. Leo beugte sich hinab und h�rte angestrengt zu.
�Nicht ... hier ... drin.�
Auf der Suche nach einem Ort, wo sie allein sein konnten, trug Leo Malysch vorbei am blutverschmierten Empfang zum Ein�gang und durch die T�r. Drau�en in den toten Blumenbeeten, deren Erde schon gefroren war, hockte er sich hin und lehnte Malyschs Kopf an sein Bein. Soja setzte sich neben ihn und nahm Malyschs Hand.
Raisa blieb stehen, rastlos ging sie auf und ab. �Vielleicht k�nnen wir ihm wenigstens etwas besorgen, was die Schmerzen lindert.�
Leo sah auf und sch�ttelte den Kopf. Nach den zw�lft�gigen K�mpfen w�rde in der Klinik nichts mehr aufzutreiben sein.
Malysch war still und matt, immer wieder fielen ihm die Au�gen zu. Sein Blick suchte Raisa. �Ich wei�, dass...�
Seine Stimme war kaum zu verstehen. Raisa setzte sich neben ihn. Malysch fuhr fort. �Frajera ... hat gelogen. Ich wei�, dass du ... nicht... meine Mutter bist.�
�Nichts w�re ich lieber gewesen als deine Mutter.�
�Ich h�tte das auch sch�n gefunden ... dein Sohn zu sein.�
Malysch schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an den von Soja. Sie lag neben ihm, ihr Gesicht ganz nah an seinem, so als w�rden sie beide gleich einschlafen. Dann umarmte sie ihn und fl�sterte: �Habe ich dir eigentlich schon von dem Bauern�hof erz�hlt, auf dem ich mit dir wohnen will?�
Malysch gab keine Antwort, er hielt die Augen geschlossen.
�Er liegt ganz in der N�he von einem Wald, in dem es lauter Beeren und Pilze gibt. Au�erdem ist da ein Fluss, und im Som�mer gehen wir darin schwimmen. Wir werden sehr gl�cklich miteinander sein.�
Am selben Tag
Frajera stand auf den Tr�mmern des Daches. Sie hielt kein Ge�wehr mehr in den H�nden, sondern eine Kamera, mit der sie die Verheerungen fotografierte. Bald schon w�rden diese Bilder in der ganzen Welt abgedruckt werden. Selbst wenn die letzte Rolle Film, die sie mittlerweile eingelegt hatte, verloren ging, war das egal. Frajera hatte mittlerweile schon Hunderte von Fotos geschossen und mit Hilfe der Familienangeh�rigen von Dissidenten oder der internationalen Presse aus der Stadt ge�schmuggelt. Noch in Jahren w�rde man ihre Bilder von den to�ten Einwohnern und den zerst�rten H�usern ver�ffentlichen, immer mit dem Hinweis: Quelle unbekannt.
Vielleicht zum ersten Mal, seit man ihr vor beinahe sieben Jahren den Sohn genommen hatte, f�hlte sie sich einsam. Ma�lysch war nicht bei ihr, und auch sonst sprang keiner herbei, sobald sie rief. Die Bande, die sie in Jahren zusammengef�gt hatte, war auseinandergebrochen. Die Letzten ihrer wory wa�ren geflohen. Die Aufst�ndischen um sie herum waren zerstreut worden, und bei der ersten Angriffswelle heute Morgen waren viele gestorben. Frajera hatte ihre Leichen fotografiert. Ihr �ber�setzer, Zsolt Polgar, war bis zuletzt an ihrer Seite geblieben. In ihm hatte sie sich get�uscht. Er war f�r seine Sache gestorben. Mit seinem Foto, als er sterbend dalag, hatte sie sich besondere M�he gegeben.
Jetzt waren nur noch drei Bilder �brig. In der Ferne kreiste ein Kampfbomber, dann schoss er auf sie zu. Frajera hob die Kamera und stellte den Fokus auf das Flugzeug ein. Die MIG neigte sich in den Angriffsanflug. Um Frajera herum begannen die Dachpfannen zu zittern. Sie wartete, bis der D�senj�ger fast genau �ber ihr war. Im n�chsten Moment flog das ganze Dach in die Luft, die Splitter der umhersirrenden Dachziegel verbrannten ihr Arme und Gesicht. Doch Frajera war sich sicher, dass dies ihr letztes, ihr bestes Foto �berhaupt werden w�rde.
Zwei Wochen danach
Sowjetunion
Moskau
19. November
Es war sein erster Arbeitstag. Leos H�nde waren voller Mehl und sein Gesicht gl�hend hei� von den �fen. Als er gerade eine Lage frisch gebackener Brotlaibe herausholte, h�rte er Filipp rufen: �Leo, du hast Besuch.�
Ein tadellos gekleideter Frol Panin betrat die B�ckerei und blickte sich mit wohlwollender Geringsch�tzung um. �Wir erf�llen auch Sonderw�nsche�, sagte Leo. �Roggenmehl mit Koriandersamen, ges��t mit Honig anstatt Zucker, koscher, fettfrei ...�
Er holte eines der noch warmen Brote, brach es und hielt es Panin hin. Der nahm es an und biss hinein. Diesem Mann schien es weder peinlich zu sein, noch zeigte er nur einen Hauch Reue, dass er Leo betrogen und mit seinen Feinden gemeinsame Sache gemacht hatte. �Lecker!�
Panin legte das Brot hin, klopfte sich das Mehl von den Fingern und sah sich pr�fend um, ob Filipp auch nicht mit�h�rte. �Leo, niemand will hier zum Stalinismus zur�ckkehren. Massenverhaftungen geh�ren der Vergangenheit an. Die Lager werden geschlossen und die Folterzellen abgerissen. All diese Ver�nderungen spielen sich gerade ab, und sie werden auch weitergehen. Aber sie m�ssen heimlich weitergehen, ohne dass wir irgendwelche Verfehlungen zugeben. Wir werden uns wei�terentwickeln ... aber wir schauen dabei nicht zur�ck auf die Vergangenheit.�
Trotz allem, was geschehen war, konnte Leo nicht umhin, Panin zu bewundern. Dem w�re es ein Leichtes gewesen, daf�r zu sorgen, dass Leo nie mehr aus Budapest herausgekommen w�re. Doch Panin traf Entscheidungen nur aus praktischen Er�w�gungen, nicht etwa aus b�ser Absicht oder gar Niedertracht. Jetzt, wo der Aufstand niedergeschlagen und Frajera tot war, spielte Leo keine Rolle mehr, deshalb konnte man ihn ebenso gut leben lassen.
�Was wollen Sie noch von mir, Frol Panin? Ihr habt doch gewonnen.�
�Ich w�rde behaupten wollen, dass wir alle gewonnen ha�ben. �
�Nein, ich habe schon vor langer Zeit verloren. Ich versuche nur, nicht noch einmal zu verlieren.�
�Was immer Sie von mir halten m�gen, Leo, meine Entschei�dungen galten immer nur dem ...�
Leo unterbrach ihn. �Dem Wohl des Ganzen?�
Panin nickte und f�gte hinzu: �Ich will, dass Sie f�r mich arbeiten. Wir brauchen M�nner wie Sie.�
�Verstehe. M�nner wie mich.� Leo lie� den Satz wirken, dann fuhr er fort: �Hei�t das, Sie wollen das Morddezernat wiederer�ffnen?�
�Nein, so weit sind wir noch nicht.�
�Wenn Sie so weit sind, k�nnen Sie mich ja informieren.�
�Und derweil wollen Sie Roggenbrot mit Koriandersamen backen?� Panin l�chelte. �Na sch�n. Ich hoffe, eines Tages wer�de ich etwas f�r Sie tun k�nnen.�
Es war eine Art Entschuldigung. Eine versteckte Entschuldi�gung. Leo nahm sie an. �Es gibt in der Tat etwas, was Sie jetzt schon f�r mich tun k�nnen.�
Am selben Tag
Am Empfang des Moskauer Konservatoriums fragte Leo nach Pjotr Orlow, einem der vielversprechendsten jungen Geiger des Landes. Er wurde in ein �bungszimmer gef�hrt. Orlow, erst Ende zwanzig, �ffnete die doppelte, schalldichte T�r. �Ja bitte?�, fragte er br�sk.
�Mein Name ist Leo Demidow. Frol Panin hat mir gesagt, Sie k�nnten mir vielleicht helfen.�
Als er den Namen Panin h�rte, wurde der Geiger sogleich zug�nglicher.
Das �bungszimmer war klein. Es gab nur einen Notenst�nder und ein Klavier. Orlow legte die Geige an den Hals. Der Bogen und etwas Kolophonium lagen auf dem Notenst�nder.
�Und was kann ich f�r Sie tun?�
Leo �ffnete seine Mappe und nahm ein einzelnes Notenblatt heraus. In der Mitte war ein Loch hineingesengt, das vor sieben Jahren in Lasars Kirche von einer Kerze verursacht worden war. Doch dann hatte Leo es sich anders �berlegt. Er hatte das Blatt auf den Steinboden gelegt und die Flamme ausgetreten. Diese halb verkohlten Noten waren alles, was von den Kom�positionen des verhafteten Musikers �brig geblieben war. Man hatte sie in Lasars Hinterlassenschaft gefunden und als Beweis f�r seine konterrevolution�ren Kontakte zu den Akten genom�men.
Orlow trat an den Notenst�nder und musterte die wenigen Noten, die noch �brig waren.
�Ich kann keine Noten lesen�, erkl�rte Leo. �Deshalb wei� ich auch nicht, ob noch genug �brig ist, um einen Gesamtein�druck des St�cks zu bekommen. Ich wollte nur einmal h�ren, wie es klingt, wenn es gespielt wird. So viel wie m�glich.�
Orlow klemmte die Geige unter sein Kinn, nahm den Bogen und begann zu spielen. Leo war alles andere als musikalisch, au�erdem hatte er ein langsames, trauriges St�ck erwartet. Statt�dessen war es schnell und mitrei�end. Es gefiel ihm sehr.
Leo brauchte einen Moment, bis er merkte, dass Orlow mit den wenigen Noten, die er bekommen hatte, unm�glich so lan�ge h�tte spielen k�nnen. Trotz seiner �berraschung wartete er h�flich auf das Ende.
�Das ist gerade sehr popul�r. Eine der erfolgreichsten Kom�positionen der letzten Jahre.�
�Aber Sie m�ssen sich irren! Diese Musik galt als verschol�len! Der Komponist ist gestorben, bevor sie aufgef�hrt werden konnte.�
Orlow schaute verbl�fft drein. �Das St�ck ist erst letzte Wo�che gespielt worden. Der Komponist lebt.�
Im Flur eines exklusiven Wohnblocks klopfte Leo an die T�r. Er musste lange warten, bis ein Mann mittleren Alters die T�r aufmachte. Es war ein Diener mit einer schmucken schwarzen Livree.
�Kann ich Ihnen helfen?�
�Ich m�chte zu Robert Meschik.�
�Haben Sie einen Termin?�
�Nein.�
�Ohne Termin empf�ngt er niemanden.�
Leo reichte ihm das angekohlte Notenblatt. �Mich wird er empfangen.�
Z�gernd f�gte der Mann sich. �Warten Sie hier.�
Einige Minuten sp�ter kehrte der Diener zur�ck, ohne das Notenblatt. �Bitte folgen Sie mir.�
Leo folgte ihm durch eine teuer eingerichtete Wohnung in ein weiter hinten gelegenes Musikzimmer. Der Komponist Robert Meschik stand am Fenster, in den H�nden hielt er das Noten�blatt. Er wandte sich an seinen Diener. �Sie k�nnen gehen.� Der Diener entfernte sich.
�Ihnen scheint es ja nicht schlecht zu gehen�, bemerkte Leo.
Meschik seufzte. �Irgendwie bin ich sogar erleichtert. Seit Jahren habe ich auf den Moment gewartet, wo jemand auf�taucht und mich als Betr�ger entlarvt.�
�Kannten Sie den wahren Komponisten?�, fragte Leo.
�Kyrill? Ja, wir waren Freunde. Sehr gute Freunde sogar. Wir haben immer zusammen ge�bt. Ich war neidisch auf ihn. Kyrill war ein Genie. Ich bin keins.�
�Haben Sie ihn denunziert?�, fragte Leo.
�Nein, wo denken Sie hin? Ich habe ihn geliebt, das k�nnen Sie mir glauben. Als er dann verhaftet wurde, habe ich nat�rlich trotzdem nichts unternommen und den Mund gehalten. Er und sein Lehrer wurden in ein Arbeitslager gesteckt. Nach Stalins Tod habe ich versucht, Kyrill zu finden, aber es hie�, er habe nicht �berlebt. Ich habe um ihn getrauert. Dann hatte ich den Einfall, eins von Kyrills Werken neu niederzuschreiben, zu sei�nem Gedenken. Es gab zwar keine Noten mehr, aber das machte nichts. Schlie�lich hatte ich ihn seine St�cke so oft spielen h�ren, dass sie mir in Fleisch und Blut �bergegangen waren. Ich nahm nur ein paar kleine Ver�nderungen vor. Und das St�ck wurde ein Erfolg.�
�Aber woher es stammte, haben Sie nicht erkl�rt.�
�Ich wurde so gepriesen, dass ich mich davon verf�hren lie�. Seitdem habe ich jedes St�ck neu aufgeschrieben, an das ich mich noch erinnern konnte, immer nur mit kleinen �nderungen. Das Lob daf�r habe ich ebenso eingestrichen wie die ganzen Verg�nstigungen. Kyrill hatte keine Familie, m�ssen Sie wissen. Er hatte gar niemanden. Und niemand hatte an ihn geglaubt. Keiner kannte also seine Musik au�er seinem Lehrer. Und mir.�
�Einen Menschen gab es schon noch.�
�Wen?�
�Die Frau eines Priesters.�
�Haben Sie mich durch sie gefunden?�
�In gewisser Weise ja.�
Nach einer Pause fragte er: �Wollen Sie mich jetzt verhaf�ten?�
Leo sch�ttelte den Kopf. �Ich habe keine Befugnis, Sie zu verhaften.�
Meschik schien nicht zu verstehen. �Dann werde ich morgen fr�h aller Welt die Wahrheit sagen.�
Leo schlenderte durch das Zimmer und schaute aus dem Fenster. Drau�en hatte es angefangen zu schneien, Kinder tollten in den Flocken herum. �Was wollen Sie denn sagen? Dass der Staat ein Genie ermordet hat und Sie dessen Musik gestohlen haben? Wem w�re mit so einem Gest�ndnis schon gedient? Wer wollte es h�ren?�
�Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?�
Drau�en bildete sich bereits eine d�nne Schneedecke.
�Einfach weitermachen wie bisher.�
Am selben Tag
Soja sa� frierend auf dem Dach, um sie herum fiel der Schnee. Seit ihrer R�ckkehr kletterte sie jeden Tag hier herauf und blickte �ber die Stadt. Hier st�rzten keine D�cher ein, hier peitschten keine Sch�sse, und vorbeifahrende Panzer brachten keine Dachziegel zum Scheppern. Soja kam sich vor, als sei sie gar nicht in Moskau, auch nicht woanders, sondern einfach nur in einem Schwebezustand. Das Heimatgef�hl, das sie in Buda�pest versp�rt hatte, hatte mit jener Stadt gar nichts zu tun ge�habt, auch nicht mit dem Aufstand, sondern einzig und allein mit Malysch. Sie vermisste ihn so sehr, dass es ihr vorkam, als fehle ein Teil von ihr selbst. Malysch hatte ihr die Last der Ein�samkeit von den Schultern genommen. Jetzt war diese Last wie�der da, schwerer als je zuvor.
Sie hatten ihn au�erhalb von Budapest beerdigt. Soja wollte seinen Leichnam nicht im Krankenhaus lassen, so anonym zwi�schen all den anderen Toten, ohne Familie oder Freunde, die ihn betrauerten. Leo hatte ihn durch den russischen Belagerungsring getragen. Schlie�lich hatten sie unter einem Baum die gefrorene Erde aufgehackt und ihn dort begraben, ein St�ck abseits der Stra�e, auf der unterdessen die Panzer und Lastwagen vorbei�gerollt waren. Mit Malyschs eigenem Messer hatte sie seinen Namen in die Rinde des Baumes geschnitten. Dann war ihr ein�gefallen, dass er ja gar nicht lesen konnte, also hatte sie um die Buchstaben noch ein Herz geritzt.
Als Soja zum ersten Mal aufs Dach geklettert war, war Raisa besorgt nachgekommen, vermutlich aus Angst, sie w�rde sich hinabst�rzen. Doch seit Raisa und Leo begriffen hatten, dass Soja einfach nur hier oben sitzen wollte, lie�en sie sie gew�hren, auch wenn sie stundenlang blieb. Soja griff sich eine Handvoll Schnee und sah zu, wie er schmolz.
* * *
Raisa deckte den Abendbrottisch ab. Als sie sich umdrehte, stand Soja schlotternd in der K�chent�r, das Haar voller Schnee. Raisa nahm ihre H�nde.
�Du bist ja ganz kalt. Setz dich. Willst du etwas essen? Ich habe dir etwas aufbewahrt.�
�Ist Elena schon im Bett?�
�Ja.�
�Und Leo?�
�Der ist noch nicht zur�ck.�
Elena war aus dem Krankenhaus zur�ckgekehrt. Das Wun�der, dass Soja noch am Leben war, hatte auch ihr den Lebensmut zur�ckgegeben. Als Soja ihre Schwester gesehen hatte, war sie vor lauter Schuldgef�hl in Tr�nen ausgebrochen. Elena war besorgniserregend abgemagert. Man musste Soja nicht erst er�kl�ren, dass ihre kleine Schwester nicht mehr viel l�nger gelebt h�tte. Fragen hatte Elena keine gestellt. Sie war so �bergl�cklich, dass die Einzelheiten dessen, was passiert war und warum, sie gar nicht interessierten. Hauptsache, ihre Familie war am Leben.
Raisa hockte sich vor Sojas Stuhl.
�Was ist los?�
Ein Schl�ssel drehte sich in der Wohnungst�r. Leo kam her�ein, er wirkte abgehetzt und hatte ein erhitztes Gesicht. �Tut mir leid ...�
Raisa antwortete: �Da bist du ja noch rechtzeitig gekommen, um den M�dchen etwas vorzulesen.�
Soja sch�ttelte den Kopf. �Kann ich zuerst mit euch reden? Mit euch beiden?�
�Nat�rlich.�
Leo kam in die K�che, zog zwei St�hle heran und setzte sich neben Soja. �Was hast du denn?�
�Fr�her habe ich Elena immer alles gesagt. Aber seit ich wie�der da bin, ist sie so gl�cklich. Ich will das nicht kaputtmachen. Ich will ihr nicht erz�hlen, was passiert ist. Ich will ihr nicht die Wahrheit sagen. Dass ich sie im Stich gelassen habe.�
Soja fing an zu weinen. �Wenn ich ihr doch die Wahrheit sage, glaubt ihr, dass sie mir dann verzeiht?�
Leo h�tte jetzt gern seinen Arm um Soja gelegt, doch er ahnte, dass ihr das noch nicht recht w�re.
�Sie hat dich sehr lieb�, tr�stete er sie.
Soja sah erst Leo an, dann Raisa. �Aber wird sie mir auch verzeihen?�
Alle drei wandten die K�pfe zur T�r. Da stand Elena in ihrem Nachthemd. Sie war erst eine Woche wieder zu Hause und wirk�te trotzdem schon wie verwandelt. Sie hatte zugenommen und wieder Farbe bekommen. �Was ist denn los?�
Soja lief zu ihr. �Elena, ich muss dir etwas sagen.� Leo stand auf. �Aber vorher erz�hle ich euch erst einmal eine Gutenachtgeschichte.�
Elena freute sich. �Selbst ausgedacht?�
Leo nickte: �Selbst ausgedacht!�
Soja wischte sich die Tr�nen ab und nahm Leos Hand.